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Germanisierung des griechischen Fußballs
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| Montag, 14. Juni 2004„Otto Rehhagel bewirkt eine Kulturrevolution, die Germanisierung des griechischen Fußballs“ (FAZ) / „in Griechenland ist Otto jetzt ein König, so wie er früher der König von Bremen war“ (SZ) / „isoliert werkelten die portugiesischen Spieler im Stadion des FC Porto vor sich hin“ (SZ) / „Portugal hat sich in akute Gefahr gestürzt, als erstes Gastgeberland einer EM bereits in der Vorrunde auszuscheiden“ (taz) – „Georgi Jarzew reagiert im Stil sozialistischer Selbstkritik auf das verlorene Spiel seiner Russen“ (FAZ) – Spanien widmet sich seiner Obsession: der Rául-und-Valerãn-Debatte (SZ) u.v.m.
Portugal-Griechenland 1:2
Christoph Biermann (SZ 14.6.) klatscht Beifall für die Griechen: „Achtung, das deutsche Fußballpublikum nehme bitte zur Kenntnis: Unsere Ausweichmannschaft spielt in blauen Trikots! Die sind schlicht gestaltet und man kann sie sich gut einprägen, während die Namen der Spieler in diesen Trikots noch etwas geübt werden müssen. Sie heißen Giannakopoulos, Seitaridis oder Zagorakis, was uns nicht selbstverständlich über die Lippen geht. Aber wenn wir uns die Namen der Besitzer des griechischen Restaurants in der Lindenstraße haben merken können (Sarikakis), wird auch das klappen. Ansonsten jedoch dürfte die Umstellung kein weiteren Probleme aufwerfen. Eine deutschere Mannschaft als die griechische haben wir nämlich lange nicht gesehen.“
Matti Lieske (taz 14.6.) meint: „Mit ihrem 2:1-Sieg haben sie den portugiesischen Drachen zwar noch nicht getötet, aber dafür sein Feuer auf ziemlich kleine Flamme gestellt.“
Otto Rehhagel bewirkte eine Kulturrevolution, die Germanisierung des griechischen Fußballs
Peter Hess (FAZ 14.6.) jubelt: „Griechenland triumphierte mit altdeutschen Tugenden.Seit drei Jahren betreut Altmeistertrainer Otto Rehhagel die Mannschaft. In dieser Zeit hat er ganze Arbeit geleistet. Alles, was er in Essen, Berlin, Offenbach, Kaiserslautern, Bremen und München, den prägenden Stationen seiner Spieler- und Trainerkarriere, gelernt hat, brachte er den südosteuropäischen Individualisten bei. Rehhagels Prinzip: Taktische Disziplin geht über alles, die Mannschaft steht über allem. Der Trainer bewirkte damit so etwas wie eine Kulturrevolution, die Germanisierung des griechischen Fußballs. Das mögen Liebhaber der schönen Künste als Rückschritt empfinden, aber der Erfolg kommt häufiger in aller Kühle daher. Mit Angelis Basinas hat Rehhagel einen neuen Dieter Eilts gefunden, mit Traianos Dellas einen neuen Rune Bratseth, mit Theodoros Zagorakis einen neuen Mirko Votava, mit Angelos Charisteas einen neuen Frank Neubarth. Seitaridis und Fyssas auf den Außenbahnen sind stärker als ihre Bremer Vorgänger, da mag man keine Namen zum Vergleich heranziehen. Trotz ihrer spielerischen Klasse erfüllen sie ihre strategischen Aufgaben genauso gewissenhaft wie ihre braven Vorgänger bei Werder. Das Durchsetzungsvermögen und die Überzeugungskraft unseres Mannes in Athen sind bewundernswert. Denn im Gegensatz zur deutschen Nationalmannschaft besitzt die griechische durchaus die Qualität, mit anderen, feineren Mitteln Spiele zu gewinnen. Rehhagel schaffte es, daß der künstlerische Anspruch weit hinter die mannschaftlichen Erfordernisse zurückgestellt wird. Die armen Gastgeber wurden der kalten Griechen erstes Opfer. Man konnte Mitleid mit den Portugiesen haben. Mit soviel Liebe, Stolz und Leidenschaft begleitet die Nation „ihre“ Europameisterschaft, und dann gerät die Premiere so daneben.“
Für Bernd Höhler (FR 14.6.) ist Griechenlands Sieg historisch: „Dass ihre Nationalspieler ausgerechnet den Favoriten Portugal bezwangen, macht die Griechen doppelt stolz. Damit ist den Hellenen ein Novum geglückt: Noch nie wurde in der Geschichte der Europameisterschaft ein Gastgeber im Eröffnungsspiel geschlagen.Mit ihrem „historischen Sieg“, erklärte Ministerpräsident Kostas Karamanlis, selbst großer Fußballfan, habe die griechische Mannschaft „die Achtung Europas erworben und jeden Griechen mit Rührung erfüllt“. Die Glückwünsche des Premiers galten nicht nur der Mannschaft, sondern auch Nationaltrainer Otto Rehhagel. Er ist der Held des Tages. „König Otto“ nennen ihn viele Griechen, in Anspielung auf ihren ersten Monarchen Otto I., der 1833 ebenfalls aus Deutschland nach Griechenland gekommen war. Diesen Ehrentitel hat sich der Essener Fußballlehrer nun erst recht verdient. Seit der WM 1994 spielten die Griechen bei keinem großen Turnier mehr mit. Damals mussten sie ohne Punktgewinn und mit 0:10 Toren bereits nach der Vorrunde die Heimreise antreten.“
Tausende von Bruderküssen und Umarmungen
Martin Hägele (SZ 14.6.) ergänzt: „Als Angelos Charisteas in der 74. Minute Schluss machen durfte, warf der Stürmer Kusshändchen ins Publikum. Von Otto Rehhagel gab“s einen Klaps ins Genick, was bei diesem höchste Anerkennung bedeutet. Die Emotionen über den ersten Sieg einer hellenischen Fußball-Nationalelf bei einem Europa- oder Weltturnier sollten sich in den Abendstunden von Porto noch zu Tausenden von Bruderküssen und Umarmungen ausweiten. Vorneweg der 65-jährige Deutsche, der beim Abpfiff von Pierluigi Collina die Arme in die Höhe warf und beim anschließenden Sprint in die blau-weiß-wogende Fankurve nur von einem seiner Spieler, die seine Enkel sein könnten, bezwungen wurde. Was einiges über die Fitness des Otto Rehhagel, mehr aber über dessen Befinden sagt. Angelos Charisteas, der als Angestellter von Werder Bremen mit der Vergangenheit seines derzeitigen Chefs vertraut sein muss, wusste schon kurz darauf, wie das 2:1 über Gastgeber Portugal daheim gewertet wurde: „In Griechenland ist Otto jetzt ein König, so wie er früher der König von Bremen war.“ Da hatte Rehhagel längst zu seinem neuem Volk gesprochen und 13 Millionen Menschen den Wunsch mitgeteilt, „dass die jetzt die Fahnen aus den Fenstern hängen und sich alle über den historischen Sieg freuen“. Auch den Spielern gönnte Rehhagel einen Abend, an dem sie feiern sollen. (…) Nachdem der ehemalige Werder-Profi Yasuhiko Okudera, mittlerweile Ausbilder beim japanischen Verband und Chefkommentator einer Tokioter TV-Anstalt, am Donnerstag lange beim Training der Griechen zugeschaut hatte, hatte er dabei nichts anderes entdeckt als das, was sich schon vor gut 20 Jahren Tag für Tag auf dem Übungsplatz neben dem Weserstadion abgespielt hatte. Rehhagels Konzept und das Geheimnis seines Erfolgs liegt darin, dass Leute erst an ihn und danach auch an die eigene Stärke glauben. Wie Charisteas zum Beispiel, der in Bremen in der vergangenen Saison nur eingewechselt wurde, wenn der Brasilianer Ailton schwächelte. Gegen Portugal zerriss sich Charisteas auf drei Positionen: rechts außen, rechte Seite im Mittelfeld, rechter Verteidiger. Oder Zisis Vrizas vom AC Florenz, zweite Liga in Italien, nicht immer Stammspieler. Er stellte Portugals Abwehr ein Rätsel nach dem andern. Oder Georgios Karagounis von Inter Mailand, gute Adresse, aber meist war er dort Reservist. Der defensive Mittelfeldspieler schoss in der siebten Minute das 1:0, aus über 20 Metern.“
Wenn sich Otto Rehhagel jemals vorgenommen haben sollte, in Würde zu altern, dann hat er es jetzt vergessen
Peter Hess (FAZ 14.6.) freut sich mit Otto Rehhagel: ,,Wie sieht Glück aus? Wer Otto Rehhagel am frühen Samstag abend erlebt hat, weiß es. Was so ein schnöder Pfiff aus einer Trillerpfeife bei einem älteren Herrn alles bewirken kann. Aus, das Spiel ist aus. Griechenland hat die Eröffnungspartie der Fußball-Europameisterschaft gegen Gastgeber Portugal 2:1 gewonnen, und wenn sich Otto Rehhagel jemals vorgenommen haben sollte, in Würde zu altern, dann hat er es jetzt vergessen. Der Trainer der hellenischen Nationalmannschaft jubelt, feixt, ruft, herzt, drückt, springt, als wäre er ein Neuling im Geschäft, der seinen ersten Triumph feiert. Otto Rehhagel wird im August 66 und hat schon viele Siege und einige Niederlagen erlebt. So große, reine, ausgelassene Freude nach dreißig Trainerjahren empfindet nur, wer seinen Beruf liebt. Rehhagel, der oft Rauhe, der manchmal Abweisende, rührt und berührt in diesen Momenten mit seiner Kindlichkeit. Auf der Pressekonferenz sieht der Altenessener keinen Tag jünger aus als 65. In seinem Gesicht spiegeln sich die Anspannung, Hoffnung und Zweifel, wenn er von den neunzig Minuten und der Zeit davor spricht. Ja, er hat eine gute Mannschaft beisammen, die auch Gegner wie Portugal schlagen kann. „Aber manchmal fehlt die emotionale Intelligenz.“ Rehhagel meint damit, daß sich seine Spieler von ihren Gefühlen verleiten ließen, taktische Konzepte vergäßen, dann die Ruhe, den Überblick verlören. Er erwähnte gegenüber griechischen Zeitungen schon mal zur Sicherheit, daß Menschen auch in der Niederlage wertvoll blieben. (…) „Die EM-Qualifikation verlief schon sensationell, aber was sich heute abspielte, ist einmalig.“ Rehhagel verhaspelt sich, wenn er so schnell spricht. Das Kind der Bundesliga gab schon vor der Europameisterschaft zu, daß ihn sein erster Auslandseinsatz als Nationaltrainer bei einem großen Turnier aufgeregt mache. Die politische Dimension der Aufgabe schmeichelt seiner Eitelkeit. Ob er sich jetzt zur Präsidentenwahl nominieren lasse, fragt ein griechischer Journalist scherzhaft. Rehhagel antwortet nicht direkt, aber sein Selbstwertgefühl gibt er dennoch preis: „Die Menschen in Griechenland haben ein besonderes Verhältnis zu ihrem Trainer. Wenn ich mit dem Auto durch Athen fahre, winken sie mir freundlich zu. Ich denke, das werden sie jetzt sogar tun, wenn ich die Busspur benutze.“ Dann geht Rehhagel. „Nun gilt es, den Sieg zu verarbeiten und zu regenerieren“, sagt er noch.“
Das zweite Spiel ist fast schon eine Frage von Leben und Tod
Christoph Biermann (SZ 14.6.) sieht geschockte Portugiesen: „Felipe Scolari kann auf seinem Gesicht ganze Schauspiele aufführen. Jeder Muskel ist in Bewegung, wenn der brasilianische Trainer der portugiesischen Nationalmannschaft auf Pressekonferenzen spricht. Die Augenbrauen gehen hinauf und herunter, der Meister des Grimassierens zieht die Mundwinkel hoch, dann stülpt sich für einen Moment der ganze Mund nach vorne. Auch der Oberkörper arbeitet. Scolari zieht die Schultern hoch, er zuckt kurz mit den Achseln, und selbst wenn man ihn nicht hören würde, soll diese Aufführung der Botschaft dienen: Hier ist zwar etwas schiefgelaufen, aber so schlimm ist es auch wieder nicht. Seine Worte sollten das im kühlen Bauch des Estadio Dragao in Porto ebenfalls unterstreichen, doch irgendwann räumte Scolari ein: „Das zweite Spiel ist fast schon eine Frage von Leben und Tod.“ (…) ,,Wir haben zwar großartige Spieler, waren heute aber keine Mannschaft“, sagte Stürmer Nuno Gomes. Isoliert werkelten die portugiesischen Spieler im Stadion des FC Porto vor sich hin. Dass die in Porto erscheinende Sportzeitung O Jogo anschließend den Einsatz von mehr Spielern des diesjährigen Gewinners der Champions League forderte, hat einerseits mit Lokalpatriotismus zu tun. Zumal auch Deco die Geschehnisse kaum zu wenden vermochte, als er nach der Halbzeit Rui Costa ersetzte. Der Hinweis auf den FC Porto ist dennoch richtig, weil das Team in dieser Saison die Standards in Sachen taktischer Ordnung gesetzt hat. Im Gegensatz dazu wirkte das Spiel des portugiesischen Teams in jeder Hinsicht unstrukturiert.
Matti Lieske (taz 14.6.) glaubt nicht mehr an Portugal: „“Ein Land am Rande des Nervenzusammenbruchs“, titelte die Lissaboner Zeitung Público nach einem EM-Auftakt, wie ihn sich die Portugiesen grausliger nicht erträumen konnten. Als erstes Gastgeberland einer Europameisterschaft ein Eröffnungsspiel verloren, und dies auch noch gegen den vermeintlich schwächsten Gruppengegner; damit in akute Gefahr gestürzt, als erstes Gastgeberland einer EM bereits in der Vorrunde auszuscheiden. Ein Stimmungskiller par excellence in einem Land, das sich nach einigen Wirrnissen während der EM-Vorbereitung zuletzt ziemlich vorbehaltlos auf dieses Turnier eingelassen und damit angefreundet hat. 93 Prozent der Portugiesen sind jüngsten Umfragen zufolge stolz darauf, dass die EM in ihrem Land stattfindet. Und nicht wenige davon waren der Meinung, dass ihre Mannschaft den Titel holt – bis zum Samstag, bis zum 1:2 gegen Griechenland in Porto. Ein Resultat, das die Partie gegen Russland am Mittwoch zum „Russischen Roulette“ für die Portugiesen werden lässt, wie kaum eine Zeitung versäumt festzustellen. „Bei einem derart kleinen Turnier kann man sich nur eine Niederlage leisten“, weiß auch Felipe Scolari, der brasilianische Trainer der Portugiesen, und verspricht, er werde sich Gedanken machen, wie sich das Spiel seines Teams verbessern lässt. Zur Beruhigung der bangen Gemüter sind solche Aussagen nicht unbedingt geeignet.“
Die großen Namen wirkten auf dem Rasen ganz klein
Was war mit Portugal los, Felix Reidhaar (NZZ 14.6.)?: „Luis Felipe Scolari sass schon wieder im Flugzeug Richtung Lissabon, wo Portugals Kader im Sportings-Ausbildungszentrum Alcochete stationiert ist. Der Brasilianer hatte sich vorgängig in Selbstkritik geübt und das Volk ergeben um Entschuldigung gebeten. Der als Prinzipienreiter bekannte Weltmeistertrainer brütete über dem veritablen Fehlstart seiner Mannschaft, die in so viel lusitanischem Überschwang auf die Euro-Reise geschickt worden war. Der Dämpfer im Eröffnungsspiel kühlte die Euphorie und verwandelte sie in die typisch portugiesische Melancholie. Der Selektionär sprach von möglichen Veränderungen, benannte sie aber nicht. Auch ihm war nicht entgangen, dass sogenannt grosse Namen, gegen die hierzulande kaum straflos Tadel geduldet wird, auf dem Rasen ganz klein gewirkt hatten. Rui Costa, zuletzt in der AC Milan meist auf der Bank, weil ihn ein Youngster wie Kaka verdrängt hat, war in keiner Phase mehr in der Lage, den Rhythmus wie früher zu bestimmen. Fernando Couto ist noch langsamer und unbeweglicher geworden und verlor trotz respektabler Körpergrösse auffallend viele Zweikämpfe gegen die robusten Griechen. Lazio ist derzeit auch keine internationale Adresse mehr. Nur Luis Figo konnte von der „goldenen Generation“ – sporadisch – andeuten, wozu er als Real-Star immer noch fähig ist. Die Kritik an der Startformation zog sich durch alle Berichte der Sonntagsblätter. Dass sich der Verzicht auf Deco, überhaupt auf die Nominierung der Aufbaureihe des Champions-League-Gewinners, als Fehler erwies, verrieten die leisen Steigerungstendenzen nach der Pause. Vitor Serpa, Chefredaktor von „A Bola“, der grössten von drei Sportzeitungen des Landes, gab sich sehr sarkastisch mit der Beschwichtigung der Leserschaft, die gute Nachricht sei, dass es nicht mehr schlechter gehe. Gegen die Russen im zweiten Gruppenspiel laute die Devise nun: Leben oder Tod. In diesem Urteil mögen allerdings auch unerfüllte Erwartungen mitschwingen. Denn schliesslich waren, gemessen am Europameisterschafts-Auftakt, all die Testspiele meist im eigenen Land doch ein Abbild des gegenwärtigen Leistungspotenzials. Und das ist deutlich tiefer, als es der eigene Anhang wahrhaben will. Umso grösser ist jetzt die Niedergeschlagenheit. „Se ve grego“ heisst ein geflügeltes Wort an der Peripherie Iberiens. Griechisch fühlte und sah sich Portugal in der Tat durch die Demonstration griechischer Stärken, die grundsätzlich als die eigenen gelten. Unter dem Pressing von Rehhagels wohlorganisiertem Team fanden sich die Lusitaner kaum einmal zurecht. Weil sich der Gastgeber in wirkungslosem und selten mit Platzgewinn verbundenem Klein-Klein-Spiel im Mittelfeld verzettelte und fast jeder Pass auf die isolierte Sturmspitze Pauleta in Ballverluste mündete, fanden die Hellenen offene Räume zu Gegenstössen vor.“
Spanien-Russland 1:0
Michael Horeni (FAZ 14.6.) über Freude bei den Spaniern Ärger bei den Russen: „Als vor sechs Jahren die Europameisterschaft nach Portugal vergeben wurde, war der Ärger in Spanien groß. Die Uefa hatte dem kleinen Land auf der Iberischen Halbinsel den Vorzug vor dem großen Nachbarn gegeben, und das schmerzte die selbstbewußten Spanier, die bei vielen Portugiesen nicht sonderlich beliebt sind. Am Samstag jedoch sind die Verhältnisse in den spanisch-portugiesischen Fußballbeziehungen im Sinne des großen Nachbarn wieder zurechtgerückt worden, wenn auch mit einiger Verspätung. 20 000 Spanier unter den knapp 30 000 Zuschauern machten jedenfalls im Estádio Algarve, nur fünfzig Kilometer von der Grenze entfernt, die Partie gegen Rußland zu ihrer EM-Heimpremiere. Sie feierten ausgelassen einen 1:0-Sieg, und weil zuvor die wirklichen Gastgeber auch noch 1:2 gegen die Griechen von Otto Rehhagel verloren hatten, geriet der Auftakt in der Gruppe A zu einem perfekten spanischen Abend in Portugal. Der verdiente Erfolg hatte aber nicht nur eine nachbarschaftliche Komponente, sondern auch eine historische in ureigener Sache. Seit die Spanier vor vierzig Jahren erst- und einmalig die Europameisterschaft gewannen, gelang ihnen zum Endrundenauftakt nur ein einziger Sieg. In Faro ging diese Serie, die scheinbar endlos währte, auf einmal ganz schnell zu Ende.(…) Dem russischen Trainer hatte es nach dem mißglückten Auftakt die Sprache verschlagen. Georgi Jarzew krächzte nur noch, weil er während der Partie seine Stimmbänder zu sehr belastet hatte. Jarzew schont aber offensichtlich weder sich selbst noch die anderen. Mittelfeldspieler Alexander Mostowoi von Celta Vigo klagte in aller Offenheit: „Wir sind völlig erschöpft von den Trainingsbelastungen, die uns der Trainerstab auferlegt hat.“ Chancen auf das Viertelfinale rechnet er sich kaum mehr aus. Jarzew wiederum reagierte im Stil sozialistischer Selbstkritik auf das verlorene Spiel: „Ich mache nie die Mannschaft für eine Niederlage verantwortlich, sondern mich.“ Den Spaniern genügt am Mittwoch gegen Griechenland ein Sieg, um schon vorzeitig das Viertelfinale zu erreichen. Das Prestigeduell am letzten Spieltag gegen Portugal hätte dann zumindest für Spanien keine sportliche Bedeutung mehr.“
Spanien widmet sich seiner Obsession: der Rául-und-Valerãn-Debatte
Spanien hat ein Luxusproblem. Ronald Reng (SZ 14.6.): „Juan Carlos Valerãn weiß, dass die unmöglichsten Sachen möglich sind. Er spricht oft zu jemandem, der über einen See laufen und Wasser in Wein verwandeln konnte. Also erhob sich Juan Carlos Valerãn in der 59. Spielminute von der Ersatzbank, lief aufs Fußballfeld, verwandelte noch in derselben Minute mit einem Tor ein überlegenes Spiel der spanischen Nationalelf in eine siegreiche Partie – und sah keinen Grund, darin ein Wunder zu erkennen. Andere haben schließlich ein Meer geteilt, um das Volk Israel ins gelobte Land zu führen. Die Bibel nennt Valerãn „mein Lieblingsbuch“, der christliche Glaube ist seine Kraft; es ist ihm peinlich, wenn er wegen seiner profanen Taten als Fußballprofi wieder einmal als Messias gefeiert wird. (…) Doch am Tag danach hat Spanien wenig Zeit für Details. Es widmet sich wieder einmal seiner Obsession: der Rául-und-Valerãn-Debatte. Eine Fußballnation, die das technisch saubere Spiel liebt, will ihre elegantesten Spieler in einer Elf sehen. In der restlichen halben Stunde nach seinem Sofort-Tor hatte Valerãn Weltbewegendes zwar nicht vorgeführt; der eine Moment jedoch, der eine Blitz des Gestalters von Deportivo La Coruna genügte, die Kampagne für seinen Platz in der Startelf erneut zu entflammen.“
Michael Rosentritt (Tsp 14.6.) erwartet nicht mehr viel von Russland: „Die kleine russische Delegation hatte es plötzlich eilig. Trainer Georgi Jarzew raste durch die Katakomben des Estadio Algarve wie einst als Spieler im Sturm von Spartak Moskau. Ihm hinterher jagte der teigige Presseattaché des Teams, der im Hasten erfolglos versuchte, sein rot-weiß-blau gestreiftes Jackett auszuziehen. Schließlich blieb Jarzew vor einer Kamera eines Landsmannes stehen und sagte: „Einige Spieler meines Teams haben heute nicht gekämpft. Ich weiß nicht, was sie sich dabei gedacht haben.“ Es ist leicht vorstellbar, wie der Tag für die russischen Spieler nach der Niederlage aussehen mag. Vor allem wird sich Jarzew seine Abwehr vorknöpfen, die die Bezeichnung eigentlich nicht verdient hatte. Einzig Kapitän Alexej Smertin vom FC Portsmouth hinderte die Spanier am heiteren Toreschießen. Dabei ist Smertin gar kein gelernter Verteidiger, sondern Mittelfeldspieler. Aber was sollen die Russen machen, nachdem ihnen kurz vor der Europameisterschaft in Viktor Onopko und Sergej Jgnaschewitsch die komplette Innenverteidigung ausfiel? Und was, bitte schön, hatte eingedenk dieser Schwächung Torhüter Sergej Owtschinnikow vor drei Tagen zu folgender Aussage bewogen: „Es gibt einen klaren Außenseiter bei diesem Turnier, das ist Lettland, während Russland klarer Favorit auf den Titel ist. Sie mögen lachen, aber ich glaube ernsthaft an unsere Chance.“ Nun, wie sich die Russen in ihrem ersten Spiel präsentierten, steht zu befürchten, dass sie ähnlich kläglich in der Vorrunde scheitern wie vor zwei Jahren bei der WM.“
Frankreich-England 2:1
Das elektrisierende Spektakel blieb aus
Peter B. Birrer (NZZ 14.6.) fand das Topspiel enttäuschend: „Es war als erster Höhepunkt der Euro 2004 angekündigt, viele Beobachter hatten vor dem Spiel zwischen Frankreich und England sogar davon gesprochen, vielleicht einem vorgezogenen Final beizuwohnen. Doch wie so oft, wenn die Temperatur steigt und die Buchstaben immer grösser und noch grösser werden, blieb das elektrisierende Spektakel, mit ein paar Ausnahmen in der zweiten Halbzeit und den letzten Sekunden, aus. Es war vielmehr so, dass sich beide Teams neutralisierten, es gab hüben wie drüben wenige Torszenen, im Mittelfeld standen sich die Spieler dicht gedrängt gegenüber, was vor den beiden Strafräumen zu einer Art Patt führte. Den Gefallen musste man weitgehend darin finden, zu verfolgen, wie schnell und präzis sich die diversen Könner ihres Fachs den Ball zuspielten. Das Tempo war hoch, Pausen gab es praktisch keine, und wenn man sich in der Beurteilung auf eine spielbestimmende Equipe festlegen musste, dann war das in der ersten Halbzeit die Equipe tricolore.“
Schweiz-Kroatien 0:0
Felix Reidhaar (NZZ 14.6.) sah zwei harmlose Teams: „Schweizer und Kroaten waren in der Hitze, die über dem Landesinnern in Leiria lastete, nicht auf einen Schönheitspreis aus. Sie begingen in diesem zum Teil aggressiven, unzimperlich geführten Abnützungskampf unzählige, selten bösartige Fouls, was dem Geschehen Linie und Rhythmus raubte. Dass die SFV-Auswahl so selbstbewusst und energisch dagegenhielt, war bestimmt auch eine Folge des starken Rückhalts von den Rängen. In fünfstelliger Zahl standen rote Menschen mit dem weissen Kreuz auf der Brust wie ein Mann hinter der dezimierten Mannschaft – beinahe hätten sie noch ein Tor Huggels bejubeln können. Das torlose Remis entsprach dann allerdings doch dem Kräfteverhältnis und den Spielanteilen. An ihm darf sich das Schweizer Team orientieren. Seine Vorzüge wie defensive Geschlossenheit, stabiles Stellungsspiel, Laufpensum, Sinn für Konstruktivität (Wicky, Hakan Yakin) sowie Energie (Huggel) übertünchten die Harmlosigkeit der Angriffsformation – doch letzterer Eindruck ist kein Novum. Der Euro-Start ist deshalb ein Versprechen auch unter dem Aspekt, dass die zwei am Sonntagabend im Direktspiel engagierten Gruppenfavoriten in Coimbra noch kommen.“