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Disziplin, Zusammenhalt, Kampfgeist
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| Dienstag, 15. Juni 2004Hollands System-Debatte nervt ihren Trainer Dick Advocaat und Christian Eichler (FAZ) / Tsp-Interview mit Advocaat / „Edgar Davids rackert und schultert damit die ganze Mannschaft“ (SZ) – Pavel Nedveds „Trommelschritte“ (Tagesspiegel) sind schon zu hören u.v.m.
Disziplin, Zusammenhalt, Kampfgeist
Christian Eichler (FAZ 15.6.) relativiert die holländische System-Debatte: „Der Wettkampf der Systeme: Er schien im Fußball ähnlich wie in der Politik spätestens Ende der achtziger Jahre passé. In Deutschland wahrscheinlich schon viel früher. Nur in Holland bis heute noch nicht. Wenn nun dreißig Jahre nach ihrem ersten großen Duell, dem WM-Finale 1974, die Nachbarn aufeinandertreffen, wird sich der gemeine Deutsche in Sachen Taktik allenfalls noch daran erinnern, daß Deutschland damals mit Libero spielte, der hieß schließlich Beckenbauer. Aber sonst? Jeder Holland-Fan vermag dagegen mühelos darzulegen, mit welchem System der berühmte „totale Fußball“ der Cruyff-Elf funktionierte: dem 4-3-3 der Schule von Ajax Amsterdam. Dieses mal ideale, mal nur idealisierte Modell, das 1974 zum WM-Sieg nicht reichte, soll diesen Dienstag gegen Deutschland helfen. Trainer Dick Advoaat hat unter dem Druck der heimischen Medienöffentlichkeit, dominiert von der Früher-war’s-besser-Haltung von Wortführern wie Johan Cruyff oder Advocaats erfolglosem Vorgänger Louis van Gaal, die Rückkehr zum 4-3-3 verkündet. Das heißt also drei Stürmer, davon zwei über die Flügel kommend. Nach den Testspielniederlagen gegen Belgien und Irland, bei denen er ein vorsichtigeres 4-4-2 probierte mit der Folge, daß kein Stürmerduo zusammenpaßte und die Mittelfeldspieler einander im Weg standen, ließ ihm die öffentliche Meinung keine Wahl. Advocaat hat nicht die Popularität, sich einen öffentlichen Befreiungsschlag wie Rudi Völler bei seiner Medienbeschimpfung vergangenen Herbst leisten zu können. (…) Das Dreistürmermodell gilt als heikel, weil man einen Mann weniger im Mittelfeld hat und der zentrale Stürmer allein gegen zwei Innenverteidiger steht. Dafür erhält man als Plus zwei Flügelmänner – wenn sie denn ins Spiel kommen. Gelingt das, steht der deutschen Abwehr ein heißer Abend bevor. Wenn das 4-3-3 ins Rollen kommt, kann es verheerend werden, wie es die Schotten beim 0:6 in der Qualifikation erlebten. Van Nistelrooy traf dreimal, und aus dem Mittelfeld wirbelten die entfesselten Jungstars Rafael van der Vaart und Wesley Snijder. Alle drei werden ihr erstes großes Turnier spielen, ebenso weitere junge Offensivkräfte wie Robben oder van der Meyden. Über diesen Umweg wird das System zum Stimmungsfaktor. Denn die Hereinnahme der Jungen verspricht neue Frische nicht nur im Spiel, auch im Denken – ein Aufbrechen des Splittergruppenverhaltens und Schlechtgelauntseins in der Oranje-Auswahl, die sich über viele Jahre hinweg mangels Auffrischung in ihre Rituale des Scheiterns verrannt hatte. Eine bemerkenswerte Entwicklung ist dabei, daß die einst von dunkelhäutigen Spielern der multikulturellen Ajax-Schule geprägte Elf nun als ein vorwiegend „weißes“ Team auftreten wird. Seedorf ist angeschlagen (und umstritten), Kluivert in einer Formkrise, bleibt nur noch Edgar Davids, der bei der EM 1996 über den angeblichen Rassismus einiger Kollegen ausgerastet und von Trainer Hiddink heimgeschickt worden war, worauf die ganze Expedition kläglich scheiterte. Auch diesmal ist eine der zentralen Fragen für Hollands Erfolg, ob Antreiber Davids unter Kontrolle bleibt – im Qualifikationsspiel in Tschechien flog er schon nach 13 Minuten vom Platz. So reduziert sich vieles, was auf die große Systemfrage projiziert wird, aufs kleine Einmaleins des Fußballs: Disziplin, Zusammenhalt, Kampfgeist.“
Ich fühle mich immer noch als Gewinner
Die Holländer sind doch andere Menschen, zumindest andere Fußballer, meint Stefan Hermanns (Tsp 15.6.): „Das Festhalten am 4-3-3-System mit zwei Außenstürmern ist in Holland längst zu einem Stück Folklore verkommen. Man spielt es, weil man es immer gespielt hat und weil die Fußballer von klein auf nichts anderes gelernt haben. Wenn sie aber aus der beschaulichen Ehrendivision zu einem europäischen Spitzenklub wechseln, bereitet ihnen die Umstellung auf andere Systeme seltsamerweise überhaupt keine Probleme. Die aktuelle Diskussion ist der wer-weiß-wievielte Ausdruck eines Hangs zur Selbstzerstörung, der Hollands Team immer wieder um mögliche Triumphe gebracht hat. Außer der Europameisterschaft 1988 hat das kleine Land mit den großen Fußballern keinen Titel gewonnen. Für die WM vor zwei Jahren war Oranje nicht einmal qualifiziert. Das holländische Publikum traut seiner Nationalmannschaft alles zu – Gutes und Schlechtes. Im Herbst, rund um die beiden entscheidenden Qualifikationsspiele gegen Schottland, sahen sich die Nationalspieler einer skeptischen bis feindlichen Atmosphäre ausgesetzt. Als die Medien am Tag nach der 0:1-Niederlage in Schottland berichteten, die Spieler hätten bis früh in den Morgen in einer Nobeldisko gefeiert, zweifelte niemand am Wahrheitsgehalt dieser Falschmeldung. Drei Tage später gewann Holland 6:0 und war eigentlich schon wieder Europameister. Die Selbstüberschätzung rührt aus einem Überlegenheitsgefühl, das sich wiederum aus dem Hang zum schönen Spiel speist. Johan Cruyff, der beste holländische Fußballer aller Zeiten, sagt über das verlorene WM-Finale von 1974: „Ich fühle mich immer noch als Gewinner.“ Weil die Holländer den schöneren Fußball gespielt hätten als die Deutschen. In ihren idealtypischen Ausführungen stehen der deutsche und der holländische Fußball für zwei entgegengesetzte Ideen: Effizienz auf der einen Seite, Eleganz auf der anderen.“
Dick Advocaat hat’s nicht leicht, schreibt Bertram Job (FR 15.6.): „Zu den verschiedenen Vorwürfen, die in verlässlichen Intervallen auf ihn niederprasseln, gehört einer ganz sicher nicht: Noch hat niemand Dick Advocaat angekreidet, allzu jovial zu sein. Der 56-jährige Bondscoach der niederländischen Elf verkörpert nach außen hin recht genau das Gegenteil eines populären und beredten Trainers, wie ihn etwa Rudi Völler auf Seiten des ersten holländischen Gegners bei dieser Fußball-EM gibt. Wo der deutsche Volkstribun auf flache Hierarchien setzt, bleibt der gebürtige Den Haager bewusst auf Distanz. Und wie ein Vorgesetzter alter Schule vermeidet er es, mehr als unbedingt nötig zu kommunizieren. „Wenn ich etwas vier Mal gesagt habe, ist das genug“, ist er überzeugt, „dann gehe ich weiter. Ich bin kein Schwätzer. Kurz und deutlich, das bin ich.“ Solche Kargheit im Ausdruck hat man anderen in seiner Verantwortung schon verziehen. Zum Beispiel seinem Lehrmeister Rinus Michels, dem Advocaat von 1984 bis 87 und noch mal von 1991 bis 92 assistierte. Doch anders als den „Generaal“ haben Hollands Fußballfans dessen ebenso staubtrockenen Nachfolger nie wirklich ins Herz geschlossen. Was zum einen daran liegt, dass Advocaat bis dato noch keine großen Erfolge mit Oranje vorzuweisen hat. Bei der WM 94 scheiterte seine mit Stars gespickte Auswahl bekanntlich im Viertelfinale am späteren Turniersieger Brasilien, was auch auf die vorsichtige Strategie des Trainers zurückgeführt wurde. Zudem hat Advocaat keine landestypischen Visionen von einem allzeit angriffslustigen, perfekten Fußball, sondern nur einen ausgesprochen nüchternen Realismus zu verkaufen.“
Tagesspiegel-Interview mit Dick Advocaat
Tsp: Was glauben Sie, wie die Deutschen gegen Ihr Team spielen, mit nur einer Spitze?
DA: Ich erwarte sie eigentlich mit zwei Angreifern. Aber wenn wir unser Spiel spielen, ist das zweitrangig.
Tsp: Sie fürchten keine Überraschung?
DA: Wie sollen die Deutschen uns überraschen? Mit ihrer Aufstellung bestimmt nicht. Sie können uns überraschen, wenn sie besser spielen als wir.
Tsp: Was denken Sie von Rudi Völler, dem Teamchef der Deutschen?
DA: Er war ein exzellenter Spieler.
Tsp: Und von der Mannschaft?
DA: Deutschland ist eines der größten Länder der Welt, eine erfolgreiche Fußballnation mit unglaublich großem Potenzial. Und trotzdem schaffen sie es immer wieder, sich in die Außenseiterrolle zu manövrieren. Aber…
Tsp: …ja?
DA: Ich habe letztens Udo Lattek im DSF gesehen. Er hat erzählt, dass er in einem Merchandising-Shop in Holland gewesen sei und dass es dort Trikots von allen 15 Mannschaften der EM gegeben habe. Nur nicht von Deutschland. Das sollte mal wieder beweisen, dass wir Niederländer die Deutschen hassen. Aber bei dieser Stimmungsmache, da mache ich nicht mit. Wissen Sie, warum es keine Deutschland-Trikots gab? Die waren ausverkauft.
Davids rackert und schultert damit die ganze Mannschaft
Birgit Schönau (SZ 15.6.) ist fasziniert von Edgar Davids, dem holländischen Atlas: „Mit der Brille ist Edgar Davids noch besser geworden. Vielleicht, weil er damit paradoxerweise noch mehr Blicke auf sich zieht als früher. Oder weil sie ihn abschirmt gegen die Außenwelt, ihn mit dem Ball allein lässt. Unter Hollands Individualisten ist Edgar Davids der größte Eigenbrötler. Seine früheren Kollegen von Juventus Turin spotteten einmal, Davids habe sich sogar über die Geburt seines ersten Kindes eisern ausgeschwiegen. Auch in Italien war Davids immer ein Alien. Man beobachtete, dass er als Einziger auf Mannschaftsfotos nie lächelte. Effizient auf dem Platz und draußen undurchdringlich. Einer, mit dem man nicht warm wird. „Pitbull“, nannten sie ihn oder „Piranha“, nicht gerade Kosenamen für einen Fußballer, der fast acht Jahre in der Serie A gespielt hat. In Holland mosern Anhänger des schönen Spiels, er sei bloß ein „mittelmäßiger Rackerer“, kein Vergleich mit den anderen Künstlern aus Surinam. Es stimmt, Davids rackert. Und schultert damit die ganze Mannschaft. Er ist einer, der läuft und kämpft und kämpft und läuft, der hart austeilen kann und zäh einstecken, den Stürmern präzise die Bälle auf die Füße setzt und weiter hinten alles wegbeißt. Nicht immer sieht das gut aus, aber beeindruckend ist es doch. Besonders in der holländischen Nationalelf.“
Trommelschritte
Mathias Klappenbach (Tsp 15.6.) porträtiert Pavel Nedved: „Er läuft und läuft und läuft. Immer weiter. Stillstand kann Pavel Nedved nicht ertragen. In Italien, wo er bei Juventus Turin spielt, wird der nimmermüde Antreiber deshalb und wegen seiner wehenden Mähne „das Pferd“ genannt. In Tschechien sagen sie zu dem außerhalb des Platzes introvertierten Mittelfeldspieler, der seine Nationalmannschaft heute gegen Außenseiter Lettland zum ersten Sieg bei dieser Europameisterschaft führen soll, „König von Prag“. Und die Mannschaftskollegen sollen ihn „Kleki-Petra“ rufen, so heißt der Stammesgelehrte der Apachen bei Winnetou. Das sind hilflose Versuche, den derzeit komplettesten Fußballer Europas zu beschreiben. Denn Pavel Nedved kann einfach alles. Und er ist überall. Seine Position ist mit der Bezeichnung „Mittelfeldspieler“ nur grob umschrieben. Manche seiner zielstrebigen Tempoläufe startet er als linker Verteidiger, beim nächsten Angriff ist er auf dem rechten Flügel zu finden. Und hämmert zwei Minuten später einen Freistoß ins Tor. Nedved ist ungemein schnell und kann aus vollem Lauf mit beiden Füßen hart schießen. Perfekte Technik, überragende Athletik, unbeugsame Kampfkraft, Übersicht wie eine Überwachungskamera – Europas Fußballer des Jahres 2003 pflügt den Platz mit seinen Trommelschritten so gekonnt um wie kein anderer.“