indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Allgemein

Aus Freude wurde Schmerz

Oliver Fritsch | Dienstag, 15. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Aus Freude wurde Schmerz

„die EM hat gerade begonnen, und schon haben Engländer das Stadion unter Tränen verlassen“ (Times) / „es gibt Niederlagen, die eine Mannschaft aus der Bahn werfen, weil sie unergründbar sind“ (BLZ) – „Zinedine Zidane verwandelt sich in den Retter, um die Engländer niederzustrecken“ (Le Monde) / Zidane schießt einen Freistoß ins Tor und einen Elfmeter, und die Fußball-Welt liegt ihm zu Füßen / „am liebsten redet Zidane mit seinen Füßen“ (Tagesspiegel) – Schweiz und Kroatien erhalten ein „spielerisches und charakterliches Armutszeugnis“ (FAZ) – „Giovanni Trapattoni scheint bereits alle Karten ausgespielt zu haben, und keine hat gestochen“ (La Repubblica) u.v.m.

Frankreich-England 2:1

Die EM hat gerade begonnen, und schon haben Engländer das Stadion unter Tränen verlassen

Matt Dickinson (The Times 14.6.) bescheinigt den Engländern ein brillantes Abwehrverhalten: „Alex Fergusons berühmtes Zitat „Football? Bloody hell!“ kann nicht mal annähernd die Geschichte umschreiben, die sich gestern im wohl erstaunlichsten Spiel mit englischer Beteiligung – seit dem Champions-League-Finale 1999 mit Manchester United – zugetragen hat. Diesmal war es jedoch keine Tragödie mit heldenhaften Taten, sondern eine Niederlage, die den englischen Spielern sicherlich schwer auf den Magen geschlagen ist. Die EM hat gerade mal begonnen, und schon haben Engländer das Stadion unter Tränen verlassen. „Der Erfolg ist blau“ stand auf einem Plakat, das neben der französischen Trainerbank hing, aber bis kurz vor dem atemberaubenden Endspurt sah alles danach aus, als würde dieser Schriftzug vom roten St.-Georges-Kreuz verdrängt werden. Dann jedoch übernahm Zidane die Verantwortung. Der beste Fußballer der Welt blieb über weite Strecken unauffällig, die englische Verteidigung machte es den französischen Angreifern schwer. Ein spätes Foul von Emile Heskey gab achtzehn Meter vor dem Tor gab dem Titelverteidiger doch noch die Chance auf den Ausgleich. Der Ball flog über die Mauer und schlug im Torwarteck ein. Nach brillanter Defensivarbeit und dem Führungstreffer von Frank Lampard, stand die Elf von Coach Eriksson plötzlich nur noch mit einem Punkt da. Wäre es wenigstens beim Unentschieden geblieben! Nur wenige Minuten später machte Steven Gerrard seinen ersten Fehler, und dieser hatte schwerwiegende Folgen. Nach seinem blind gespielten Rückpass konnte Henry sein Glück kaum glauben, umspielte Torwart James und wurde von ihm gefoult. Zidane ließ sich diese Chance nicht entgehen und traf vom Punkt zum 2:1. Nur zwanzig Minuten zuvor hatte David Beckham einen fälligen Elfmeter vergeben und wirkte daher zu recht sehr geknickt nach dem Spiel. Irgendwie sah alles nach dem Ende und nicht nach dem Beginn des Feldzuges aus. (…) Der wichtigste Bestandteil des französischen Spiels lag wie so oft im Fuß von Zidane, dessen Herrschaft über den Ball Paul Scholes, Englands besten Techniker, wie einen Anfänger aussehen lässt. Das englische Mittelfeld unterstützt von Wayne Rooney, dessen Frühreife einem den Atem stocken lässt, waren größtenteils damit beschäftigt, den weltbesten Fußballer in den Griff zu bekommen. Der einschlagende Erfolg bei dieser taktischen Maßnahme blieb meist aus, doch immerhin war Zidane nicht in der Lage, einen seiner spielentscheidenden Pässe zu spielen.“

Aus Freude wurde Schmerz

Jeremy Armstrong, Paul Byrne & Clare Goldwin (Daily Mirror 14.6.) blicken zurück auf Englands bittere Niederlage: „David Beckham schleppte sich gestern unter Tränen vom Feld, nachdem Englands Griff zur europäischen Krone in einem düsteren Start endete. Der am Boden zerstörte Kapitän gab offen zu, dass er größtenteils selbst Schuld an der Niederlage gegen Erzrivale Frankreich sei, da er ja immerhin beim Stand von 1:0 einen Elfmeter verschoss. Aber eigentlich war es nicht dieser vergebene Strafstoß, der England das Herz brach, sondern zwei Gegentreffer von Frankreichs Zauberer Zinedine Zidane in der Nachspielzeit – und das innerhalb von nur zwei Minuten. „Das haben wir nicht verdient, wir hätten verdient, als Sieger vom Platz zu gehen“, so Beckham nach der Partie. „Hätte ich“, so der Kapitän weiter „den Elfmeter verwandelt, hätte vielleicht schon alles vorbei sein können. Besser hätte ich ihn jedoch nicht schießen könne, Barthez hatte mich eben durchschaut. Fakt ist, dass wir 90 Minuten guten Fußball gezeigt haben.“ Auch Trainer Sven-Göran Eriksson teilte die Meinung seines Superstars: „Alles lief sehr unglücklich, wir haben dennoch eine exzellente Leistung geboten. Daher dürfen wir die Köpfe nicht hängen lassen. Ich bin sicher, dass wir England im Viertelfinale sehen werden.“ Nach dem Führungstreffer von Chelsea-Akteur Frank Lampard sah es knapp eine Stunde lang recht rosig aus für die Engländer. Dann jedoch kam der Auftritt von Beckhams Real-Mannschaftskollegen Zidane, und aus Freude wurde Schmerz: Erst der Ausgleich per direktem Freistoß, dann ein verwandelter Elfmeter zwei Minuten später. Nach dem Spiel in Lissabon traf Wayne Rooneys Vater den Nagel auf den Kopf und spiegelte die Stimmung der Bevölkerung wieder: „Ich bin am Boden zerstört, diese Partie mussten wir gewinnen. Ich bin mir sicher, dass Wayne bitter enttäuscht ist.“ Jack Charlton, Weltmeister 1966, schilderte, dass er wie betäubt vor dem Fernseher saß, als die Engländer den sicher geglaubten Sieg regelrecht wegwarfen. „Innerhalb von wenigen Minuten“ so Charlton „wurden Sieger zu Verlierern, ich kann es nicht fassen. Nach dem Schlusspfiff konnte ich eine Zeit lang gar nichts sagen, jetzt kann ich nicht aufhören zu fluchen.“ Nach Ende des Matches saßen die 40.000 englischen Anhänger wie angewurzelt auf ihren Sitzen, während die französischen Fans ausgelassen feierten. (…) Rund 20.000 englische Fans verfolgten die Begegnung auf einer Großleinwand im Zentrum von Lissabon und in den zahlreichen Bars und Restaurants. Die portugiesische Polizei hatte ein großes Aufgebot bereitgestellt, um Ausschreitungen zu vermeiden. Es blieb größtenteils friedlich, englische und französische Anhänger spielten zusammen Fußball und genossen die gute Atmosphäre.“

Zidane verwandelt sich in den Retter, um die Engländer niederzustrecken

Zinedine Zidane schießt einen Freistoß ins Tor und einen Elfmeter; Frankreich dankt dem Himmel. Gérard Davet (Le Monde 14.6.): „Sol Campbell, der ehrwürdige englische Abwehrspieler, mutierte nach der Niederlage zum Philosophen des Balles: „Morgen ist ein anderer Tag…“, sagte er beim Verlassen der Kabinen, ein Opfer, genau wie seine zehn Mannschaftskameraden, der plötzlichen Wandlung, an der sich die Franzosen erfreuten. Man könnte meinen, dass der amtierende Europameister diese förmlich heraufbeschwört und inszeniert, alle vier Jahre, sozusagen als perfekte Dramaturgie eines Fußballspieles; im großen Finale Frankreich gegen Italien der EM 2000 waren es die zwei Tore von Sylvain Wiltord und David Trezeguet. Dieses Mal gewann Frankreich das Spiel in der Nachspielzeit, nachdem sie 90 Minuten lang gegen eine bemerkenswert harmonische und solidarische englische Mannschaft ankämpften. Diese Art von Spiel, auf solch hohem Adrenalinspiegel, gewährt im Allgemeinen einem Spieler, der das Schicksal besiegelt, den Heldenstatus. Am Sonntag ist es Zinédine Zidane gewesen, der sich das Gewand des Retters dank seiner zwei Standardsituationen anziehen darf. (…) „Die Tatsache, dass wir auf diese Weise gewonnen haben, stärkt unsere Moral. Es zeigt, dass man nie aufgeben darf. Heute Abend haben wir verstanden, was gut für den Rest des Turniers ist.“, erklärte der französische Spielmacher nach dem Spiel. Wahrscheinlich wird die „Zizoumanie“ nun noch weiter ausgeweitet. Solche Phänomene hervorzurufen, ist das Privileg von Genies, selbst wenn ihre Leistung im Spiel nicht zauberhaft war. Aber zwei rettende Tore reichen völlig aus, um das Fehlen einer globalen Wirkung zu kompensieren. Sehr lange Zeit wirkten die Franzosen eingezwängt in ein zu durchschaubares Spielsystem, in welchem sie sich auf die Mittelfeldachse konzentrierten und dabei die Schwächen der Engländer auf den Außenpositionen vergaßen. Während also die englische mittlere Nahtstelle keinerlei Schwächen zeigte, schienen die französischen Individualisten lange Zeit machtlos, gezielte Vorstöße zu inszenieren.“

Alle Achtung für Fabien

Colin Stewart (The Scotsman 14.6.) notiert die Aussagen der beiden Hauptakteure, Beckham und Zidane: „“Alle Achtung für Fabien. Ich hätte den Elfer nicht besser schießen können, aber er hat in mir gelesen und eine tolle Parade gemacht.“ Beckham sagt weiter, dass sein Versagen grausam für seine Mannschaftskollegen gewesen sein muss, nachdem sie eine großteils enttäuschende französische Elf beherrscht haben. „Wir haben das nicht verdient. Wir waren die Besseren über 80-90 Minuten, wir haben uns sehr gut präsentiert. Wir beherrschten das Spiels bis auf die letzten paar Minuten. Aber das ist Fussball.“ „Wir müssen viel von diesem Spiel mitnehmen in unser nächstes. Es ist sehr wichtig, dass wir diese Form beibehalten.“ Zidane sagte, dass dieses Match eines seiner besten war: „Es ist sicherlich eines meiner besten Spiele mit der Nationalmannschaft gewesen, gleichzusetzen mit denen der EM 2000″, sagte Zidane – und weiter: „Wir hätten nie mit einer solch großen Herausforderung durch die Engländer gerechnet, aber wir haben auch gezeigt, dass ein Spiel erst mit dem Schlusspfiff zu Ende ist. Ein solches Spiels gewonnen zu haben, katapultiert die Moral der Mannschaft empor.“ Zidane zollt Barthez großen Respekt, dessen Leistungen der letzten Saison stark kritisiert wurden: „Fabien machte den Unterschied aus und gab uns die Möglichkeit, an unsere Chancen zu glauben“ ZZ abschließend: „Das Spiel verlief nicht nach unserem Willen, aber am Ende ist es ein sehr positives Ergebnis. Wir leiden darunter, aber wir sollten die Situation nicht überbewerten. Genau unter diesen Umständen bildet man Teamgeist.“

Weitere Pressestimmen aus dem Ausland FR

Diese Lieder haben uns den Kopf abgerissen

Ronald Reng (BLZ 15.6.) beschreibt seine Begegnung mit aufgewühlten Engländern: „Die Traurigkeit und die Enttäuschung suchen sich ihre eigenen Wege, um sich zu zeigen. Die Menschen glauben, sie könnten auch in Momenten wie diesen ihre Gefühle kontrollieren, aber in Wirklichkeit haben sie nur noch über ihre Worte die Herrschaft. Ihre Körpersprache dagegen ist längst ferngesteuert von der Traurigkeit. Als die englischen Nationalspieler in die Lissaboner Nacht traten, redeten sie sachlich und souverän über die grausame Niederlage, den verschossenen Elfmeter von Kapitän David Beckham und Frankreichs Tore in der Nachspielzeit. Sie merkten nicht, wie sich dabei ihre Gesten selbstständig machten und etwas Anderes sagten. „Zidanes zwei Tore haben den Abend für uns ein klein wenig kaputt gemacht“, sagte Trainer Sven-Göran Eriksson und lachte fast hysterisch. „Der Fußball, wie wir alle wissen, ist zu solchen Ereignissen fähig“, sagte Beckham und rubbelte sich unaufhörlich über die kurz geschorenen Haare. „Nur wegen zwei Minuten Fußball ändert sich für uns die Welt nicht“, behauptete Verteidiger Gary Neville und war der Einzige, der nicht realisierte, dass er viel zu laut sprach. Es gibt Niederlagen, die eine Mannschaft aus der Bahn werfen, weil sie unergründbar sind. Am Tag, nachdem sie den Europameister mit Defensivfußball absolut kontrolliert und doch nicht besiegt hatten, erschienen die englischen Fußballer mit ausdruckslosen Gesichtern in ihrem EM-Trainingsquartier im Lissabonner Vorort Cruz Quebrada. Sie wissen, dass sie nur ein Spiel verloren haben. Aber wenn sie bis zum nächsten Match gegen die Schweiz die Nacht von Lissabon nicht verdrängen, sind sie verloren. Es ist die anspruchvollste Herausforderung für den Schweden Eriksson in seinem dritten Jahr als Englands Trainer. (…) Die Kritiker und Neider, die nicht verkraften können, dass David Beckham alles hat, Talent und Schönheit, reiben sich schon die Hände. Niemand hat verdient, so zu verlieren. Trotzdem hält sich das Mitleid mit England in Grenzen. Es mag eine effektive Taktik gegen ein Klasseteam wie Frankreich sein, aber muss jetzt schon die Nationalelf des Landes, wo Fußball mit Sturm und Drang gespielt wird, so defensiv, Zuschauer verachtend agieren? „Ich würde morgen wieder so gegen Frankreich spielen“, sagte Eriksson, „und in der Nachspielzeit? Ich weiß nicht, vielleicht würde ich den Ball im Himmel verstecken.“ Draußen machten sich seine Spieler auf den Heimweg. „Das Schlimmste“, sagte Frank Lampard, „war, die hämischen Siegesgesänge der Franzosen zu hören.“ Und dieses eine Mal sagten die Worte eines englischen Spielers dasselbe wie seine Gesten: In Lampards Augen lag so viel Schmerz, dass man glaubte, es war kein Bild, sondern Wirklichkeit, als er sagte: „Diese Lieder haben uns den Kopf abgerissen.““

Am liebsten redet Zidane mit seinen Füßen

Zinedine Zidane schießt einen Freistoß ins Tor und einen Elfmeter; die Fachwelt schreibt Hymnen. Wie reagiert der Besungene, Stefan Hermanns (Tsp 15.6.)? „Der moderne Fußball ist ein Modell gegenseitigen Gebens und Nehmens. Und die wirklich Großen zeichnen sich dadurch aus, dass sie lieber geben als nehmen. Jedenfalls hat Zinedine Zidane nicht den Eindruck erweckt, dass ihn die Ehrung für seine Leistung besonders berührt hätte. Nach jedem Spiel der EM kürt eine Brauerei den „Man of the Match“. Der wird gleich nach dem Abpfiff vor die internationale Presse geführt, erhält einen ziemlich großen und wahrscheinlich ziemlich wertlosen Pokal und muss dann noch ein paar Fragen beantworten. Zinedine Zidane trug noch sein vom Schweiß durchnässtes Trikot und schritt in Fußballschuhen in den Saal. Als er den Pokal bekam, lächelte er nicht. Er drehte sich um und ging wieder. „Hey!“, riefen die Journalisten. „Er kommt wieder“, sagte der französische Nationaltrainer Jacques Santini. Natürlich kehrte Zidane nicht mehr zurück. Christian Vieri, sein früherer Kollege bei Juventus Turin, hat einmal über den Franzosen gesagt: „Er spricht zwei Wörter pro Tag.“ Am liebsten redet Zidane mit seinen Füßen. (…) 90 Minuten lang war in Lissabon der Fluch des modernen Hochgeschwindigkeits-Fußballs zu sehen gewesen, der den Spielern weder Zeit noch Raum lässt, ihre Kunst zu entfalten. Frankreichs Trainer Santini sagte: „Die Spieler waren eingesperrt in das System.“ Und Zidane waren noch zusätzliche Fußfesseln angelegt worden. Es ist ein wenig tröstend, wenn am Ende die individuelle Klasse obsiegt; dass ein Zauberer wie Zidane zwar neunzig Minuten am Zaubern gehindert wird, dann aber nur einen Moment braucht, um Gerechtigkeit herzustellen.“

Noch nie sind auf so vielen Laptops gleichzeitig so viele identische Texte gelöscht worden

Matti Lieske (taz 15.6.) widmet sich dem Hätte-wenn-und-aber: „Es gab Zeiten, da dauerte ein Fußballspiel 90 Minuten. Und zwar nicht nur im Herbergerschen Sinne, dass man nicht zu früh frohlocken bzw. aufstecken dürfe, da ja erst nach den bewussten 90 Minuten abgerechnet werde. Es dauerte tatsächlich 90 Minuten, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Höchstens, wenn es mal ausufernde Verletzungspausen gegeben hatte, ließ der Schiedsrichter 15 Sekunden länger spielen; und wenn eine Mannschaft extrem ostentativ Zeit geschunden hatte, dann 30. Was wären das für Geschichten gewesen beim Match Frankreich gegen England, wenn ein Spiel heute immer noch 90 Minuten dauern würde?! Der Fluch, der auf den einstmals so grandiosen Franzosen lastet, einfach kein Spiel mehr gewinnen zu können in großen Turnieren. Das fruchtlose Bemühen dieser imposanten Fußballhydra mit elf Köpfen und 22 Füßen, denen nicht nur der profane Tastsinn, sondern ein jeder der fünf Sinne innezuwohnen scheint, und der sechste dazu, wenigstens ein schnödes Tor zu erzielen. Die Flüche des Thierry Henry, weil ihm in jeden noch so perfekt angesetzten Schuss die Fußspitze eines Kontrahenten flutschte, oder die Schultern des Zinedine Zidane, die mit jeder Minute, die sich der Uhrzeiger der scharfrichterlichen Neunzigminutenmarke näherte, noch ein kleines Stück tiefer sanken. Gar nicht zu reden von der Glatze des Fabien Barthez, deren Glanz sukzessive zu verblassen schien, auch wenn das eine optische Täuschung gewesen sein mag, geboren aus der fatal heraufdämmernden Erkenntnis: Frankreich ist verloren – auch bei dieser EM. Oder die Engländer, die es erstmals seit 1966 schafften, ein enges, umkämpftes Match gegen einen gleichwertigen oder gar überlegenen Gegner zu gewinnen. Die endlich mal eine eigene Führung über die Zeit brachten und nicht am Ende auf tragische Weise scheiterten wie in den legendären Elfmeterschießen gegen Deutschland bei der WM 1990 und der EM 1996, oder auf dumme wie bei der WM 1970 gegen die Deutschen, 1998 gegen Argentinien nach Beckhams Platzverweis, 2000 beim Vorrundenabschluss der EM gegen Rumänien oder 2002 gegen Brasilien. Endlich gebrochen also der Bann, der Britanniens Kickern als Preis für den WM-Gewinn 1966 auferlegt wurde, selbst wenn Prinz Beckham mit seinem von Barthez gehaltenen Elfmeter alles versucht hatte, ihm weitere Gültigkeit zu verleihen. Was wären das also für Geschichten gewesen, würde ein Spiel 90 Minuten dauern. Aber es dauert ja heutzutage, zum Beispiel, 93 Minuten, und die Bonuszeit reichte den Franzosen, das 0:1 noch in einen 2:1-Sieg umzuwandeln. Noch nie sind auf so vielen Laptops gleichzeitig so viele nahezu identische Texte gelöscht worden.“

Hähne ohne Flügel – von wegen

Die NZZ (15.6.) ergänzt: „„Hähne ohne Flügel“, hatte der flinke Reporter aus Frankreich bereits getitelt, weil kurz vor Schluss die 0:1-Niederlage der Gallier gegen England Tatsache schien. Die NZZ hatte sich auf die Überschrift „Viel Effizienz und noch mehr Rotweiss“.“

Die FR (15.6.) meldet Lob für Markus Merk: „Auf eine Stufe mit Frankreichs Matchwinnern Zinedine Zidane und Fabien Barthez gestellt zu werden, ist aller Ehren wert. Diese Auszeichnung widerfuhr dem deutschen Schiedsrichter Markus Merk in der Tageszeitung Publico. Das in Porto erscheinende Blatt gab dem Zahnarzt aus Kaiserslautern für seine tadellose Leitung des brisanten Vorrundenspiels Frankreich – England (2:1) wie Zidane und Barthez sowie Ledley King und Sol Campbell bei England die Bestnote des Spiels: Eine 7. Zum Vergleich: Englands Starspieler Beckham und Owen schnitten mit der Note 4 am schlechtesten ab.“

Schweiz-Kroatien 0:0

Spielerisches und charakterliches Armutszeugnis

Peter Heß (FAZ 15.6.) schlägt die Hände vors Gesicht: „Nur wer den Fußball vorbehaltlos liebt, wählt bei einer EM die Begegnung Kroatien gegen die Schweiz für einen Besuch aus. Für dieses Vorrundenspiel setzten die Veranstalter die wenigsten Karten im Vorverkauf ab. Manchmal sind die unscheinbarsten Spiele gerade die besten. Aber in Leiria verließen nur die Zuschauer das Stadion ohne ein Gefühl der Reue, die auch die häßliche und langweilige Seite des Fußballs ertragen können. Die beiden Außenseiter in der Gruppe B hatten ihr Aufeinandertreffen am ersten Spieltag unabhängig voneinander zur Schlüsselpartie erhoben. Wenn schon gegen den anderen „Kleinen“ kein Sieg herausspringt, wie sollte man dann gegen die großen Engländer und Franzosen das Viertelfinale erreichen? Das klang logisch. Leider folgte als Konsequenz der Erkenntnis die Verkrampfung. Im emotionalen Ausnahmezustand zwischen Übereifer und Übernervosität stellten sich die Profis beider Nationen ein spielerisches und charakterliches Armutszeugnis aus. Fehlpaß auf Fehlpaß, Foul auf Foul, Zerren auf Zupfen, Meckern auf Lamentieren – schöner Fußball wurde an diesem Tag woanders gespielt.“

Italien-Dänemark 0:0

Italien enttäuschend – die Formel so falsch wie Tottis Schuhe

Der Corriere della Sera (15.6.) gibt die Hoffnung fast auf: „Angesichts von Frankreich und England braucht man schon eine Überdosis Optimismus, um Italien unter den Siegern der EM zu sehen. Es reicht ein guter dänischer Stratege an der Spitze von guten (aber nicht mehr) und gut vorbereiteten Fußballspielern, um ihnen ein Unentschieden aufzuzwingen, das sogar von Trapattoni – noch zitternd vor den Gefahren, denen er gerade entronnen – als gerecht anerkannt wird. Denn die Torchancen waren wohl gleich verteilt. Die Dänen spielen nach einem logischen Muster, die unseren nicht. Sie beherrschten die erste Halbzeit und beschlossen auch die zweite im Angriff, während unser Fußball völlig improvisiert war – abgesehen von nur zwanzig anständigen Minuten der zweiten Halbzeit.“

Trapattoni scheint bereits alle Karten ausgespielt zu haben, und keine hat gestochen

La Repubblica aus Rom (15.6.) ergänzt: „Es fängt schlecht an. Aber nicht das Ergebnis ist das eigentliche Problem: Trapattoni scheint bereits alle verfügbaren Karten ausgespielt zu haben, und keine hat gestochen. Die erste Halbzeit so gespielt, die zweite anders. Zuerst Del Piero, dann Cassano. Totti weiter vorn, Totti weiter hinten. Es hat nichts genutzt. Buffon hat das Spiel eine Viertelstunde vor Schluss nach Schüssen von Tomasson und Rommedhal mit einer doppelten Heldentat gerettet. Es hätte noch schlimmer kommen können.“

Klassisch und standesgemäß

Das darf noch besser werden, meint Felix Reidhaar (NZZ 15.6.): „Sie gelten als Langsamstarter, werden oftmals für ihren Hang zum Minimalismus gescholten und gehen haushälterisch um mit der Demonstration ihrer individuellen Klasse. Das war an diesem Hitzetag am Geburtsort der portugiesischen Nation nicht anders. Die Squadra Azzurra begann das EM-Turnier gegen die Dänen fast standesgemäss, mit dem klassisch italienischen 0:0 und enttäuschend wenigen Blitzen spielerischer Qualität. Von einer Tempobeschleunigung unmittelbar nach Wiederbeginn einmal abgesehen, die ein beherztes und konsequenteres Team Trapattonis anzukündigen schien, boten die Südländer wenig Erspriessliches. Es glänzten auf ihren blütenweissen Jerseys zwar silberne Rückennummern, auf ihren Häuptern mit Brillantine geformte Haartrachten, vorne ein Paar vermeintlich papageienartige Schnabelschuhe in gelben Leuchtfarben (Vieri). Hie und da blitzte auch aus ihren Köpfen und Füssen gar ein genialer Zug, ein elegantes Dribbling oder ein perfider Schuss auf, aber darauf blieb das schlummernde Potenzial dieser schliesslich noch auf drei Positionen geänderten Squadra begrenzt, so gerne sie doch zu den Favoriten dieser Veranstaltung gezählt werden will. Weil die Italiener kaum einmal aus der Reserve traten und einigen ihrer Stars die lange, strapaziöse Wettkampfsaison anzumerken war, konnten sich die Nordländer trotz den hohen Temperaturen mit aktiverem Verhalten Respekt verschaffen. Unterstützt von ungleich mehr Anhängern als das gegnerische Team im bei weitem nicht voll besetzten Stadion von Guimarães, machten sich die Spieler Morton Olsons nichts aus der individuellen technischen Unterlegenheit. Sie setzten auf mannschaftliche Geschlossenheit, fortgeschrittene Sicherheit im Kombinationsspiel sowie athletische Stärken im defensiven Part. Im unmittelbaren Vergleich zweier fast symmetrisch angelegter Angriffsspiele hielten sie durchaus mit, obwohl ihre Auslösung der Offensive nicht immer gleich schnell und direkt vonstatten ging wie die italienische.“

Kommentare

Comments are closed.

  • Quellen

  • Blogroll

  • Kategorien

  • Ballschrank

123 queries. 1,455 seconds.