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Strafstoß #5 – Wellenwollen – Wie kultig ist der Stadionspublikumskult?

Oliver Fritsch | Mittwoch, 16. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Strafstoß #5 – Wellenwollen – Wie kultig ist der Stadionspublikumskult?

von Mathias Mertens

Heute im Spanien-Spiel: Die ob des offensiven Wirbels ihrer Mannschaft enthusiasmierte Zuschauermenge bewegt in Atem raubender Geschwindigkeit und Präzision eine riesige Flagge über ihre Köpfe hinweg – ein wildromantisches Bild, das die Weltregie natürlich äußerst gerne aufgreift und als Stimmungstupfer in die Wohnzimmer sendet. Und der Medienwissenschaftler hat sofort ein ausgeklügeltes Erklärungssystem parat: Der Teilnehmer eines Events weiß um die Aufmerksamkeit der Medien und verhält sich dazu entsprechend, inszeniert sich mediengerecht und „entführt“ gewissermaßen des Medienereignis, um es zu seinem eigenen zu machen.

Paradebeispiel für eine solche Lesart ist die „spontane“ Erfindung der La Olà während der Weltmeisterschaft 1986 in Mexiko, als die Publikumsmenge sich nicht mehr nur als Hintergrundrauschen sah, sondern als einen Bestandteil des Stadiongeschehens und aktiv wurde. Die Bildregie zum damaligen Zeitpunkt, die noch keinen kompletten Weltzugriff hatte, war hilflos angesichts dieses doppelten Geschehensangebots – Fußball hie, wallende und wogende Körperbrandungen da – und wusste sich nicht zu entscheiden, blieb entweder viel zu lange bei den Menschen und vernachlässigte das Spielgeschehen oder zeigte langweiligen Standfußball, während auf den Tribünen die Lucy tobte.

Diese ganzen schönen Theorien mögen genau das sein, nämlich schön, man merkt ihnen aber an, dass sie von Fernsehzuschauern aufgestellt worden sind. Eine kurze Nachfrage beim stadionerprobten Mitseher des Spanien-Spiels führt nämlich zu einer klassischen „Falsifikation“, also der Widerlegung einer Theorie. Der trockene Kommentar zur perfekten Flaggenwanderung war nämlich: „Das geht so schnell, weil die alle das Spiel gucken wollen.“ Und nicht können, wenn 50 Quadratmeter rot-gelber Stoff über ihnen ausgebreitet sind. So viel dazu.

Wenn man diese Erklärung jetzt rückblickend auf La Olà anwendet, könnte auch da der gruppendynamische Effekt ausschlaggebend gewesen sein, dass die Welle entstand. Wahrscheinlich sprang ein Zuschauer aus irgendwelchen Gründen auf, worauf die direkt hinter und neben ihm sitzenden Leute ebenfalls aufsprangen, weil er ihnen die Sicht aufs Spielfeld versperrte. Was zu weiteren aufspringenden Menschen führte, denen wiederum die Sicht versperrt war und so weiter und so fort. Dummerweise bilden die Zuschauerränge in großen Stadien ja einen Kreis, so dass irgendwann unserem ersten Zuschauer die Sicht versperrt wurde, der sich inzwischen wieder hingesetzt hatte. Und dann begann das ganze Spiel erneut.

Merke: Nicht alles, was als romantisch wahrgenommen wird, ist auch von den Beteiligten so gemeint. Das gilt für Zuschauerkulte wie für holländische Flanken.

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