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Medusa Deutschland

Oliver Fritsch | Donnerstag, 17. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Medusa Deutschland

„ein international sehenswerter und für deutsche Verhältnisse staunenswerter Auftritt“ (FAZ) beim 1:1 gegen Holland / „das Herz des deutschen Fußballs schlägt wieder“ (FAZ) / Medusa Deutschland, „je mehr Köpfe man dem Untier abschlägt, desto mehr wachsen nach“ (SZ) / „Deutschland ist eine Mannschaft, die den Wettkampf liebt, und die das seltene Talent hat, sich zwischen zwei Turnieren vergessen zu machen“ (Le Monde) / „Was für eine Überlegenheit im Mittelfeld! Was für eine sichere Ballführung im Spiel nach vorne! Rudi Völler hat alles richtig gemacht!“ (zeit.de) – „die alten Zeiten des Hochmuts scheinen vorbei zu sein“ (SZ): die Holländer lernen Selbstkritik; manche müssen aber noch üben – „es bleibt eine Qual, gegen die Letten zu spielen“ (SZ) / „die Letten-Abwehr bietet gute Qualität zum relativen Schnäppchenpreis“ (FAZ) u.v.m.

Holland-Deutschland 1:1

Niemand mag sie, aber sie stört es nicht

Christopher Davies (Telegraph 16.6.) erklärt Deutschlands Erfolgsrezept: „Es war ein denkwürdiges Spiel und Deutschland kann mit Recht behaupten, den ersten EM-Sieg seit dem Finalerfolg gegen Tschechien 1996, verdient zu haben. Für Deutschland sind sogar die schlechten Seiten gut, und auch wenn sie einen Hauch vom FC Millwall haben – niemand mag sie, aber sie stört es nicht – die erfolgreichste europäische Nation aller Zeiten nutzt diese Feindseligkeit zu ihrem Vorteil. Deutschland, das Spiel über weite Strecken kontrollierend, hatte gute Aussichten die drei Punkte mitzunehmen bis der Jäger van Nistelrooy in den Schlussminuten zuschlug. Die Holländer mögen nicht den totalen Fußball, der ihnen den Gewinn der EM 1988 einbrachte, gespielt haben, sondern machten Behauptungen lächerlich, dass dies das schlechteste deutsche Team seit Generationen ist. Deutschlands Trainer Rudi Völler benannte eine defensive Startelf mit den zwei ballgewinnenden Spielern Frank Baumann und Didi Hamann im Mittelfeld und Kevin Kuranyi als einzigem Stürmer. Im Tor feierte Kapitän Kahn seinen 35. Geburtstag. Dick Advocaat, Hollands Trainer, entschied sich den erfahrenen Mittelfeldspieler Boudeweijn Zenden dem viel versprechenden Wesley Sneijder vorzuziehen. Ein gutes Omen für beide Seiten ist, dass jedes Mal wenn Deutschland und Holland in einem großen Turnier aufeinander trafen, einer von beiden das Finale erreichte, während bei vier dieser Ereignisse einer die Veranstaltung gewann. (…) Die Partie brauchte eine Weile, bis sie entflammte, und Kuranyi wurde für den Versuch, den Ball ins höllandische Tor zu schlagen verwarnt, was die offensichtliche Anti-Deutschland-Stimmung nicht minderte. Die Anfangsminuten waren Fußball-Schattenboxen, beide Seiten probten und testeten sich gegenseitig (…) Die beste Gelegenheit, einen Treffer zu erzielen hatte Wörns nach einer Ecke von Bernd Schneider – der Abwehrspieler hätte mehr aus dem Kopfball machen müssen und seine Körpersprache nach dem Fehlversuch unterstrich seine Frustration. Deutschland begann die Kontrolle in der ersten Halbzeit zu gewinnen, und es war nicht überraschend, als sie in Führung gingen, obwohl das Tor einen Hauch von Glück und schlechter Abwehrleistung hatte. (…) Advocaat entschied Hollands Angriffe für die zweite Hälfte mit der Einwechslung von Sneijder und Marc Overmars zu erfrischen, aber mit Michael Ballack, der mehr und mehr Einfluss ausübte, war Deutschland solide, wenn auch unspektakulär. Ein 20m-Schuss von Sneijder wurde fast arrogant von Kahn gehalten.“

Deutschland findet sein Spiel und sein Selbstvertrauen

Patrick Vignal (Libération 16.6.) reibt sich die Augen: „Bei ihrem Eintritt in die Euro 2004 hat die deutsche Mannschaft ihren Ruf als Spezialist für wichtige finale Phasen gestärkt, indem sie ihr bestechendes und verlockendes Gesicht gezeigt hat – weit entfernt von ihren armseligen Darbietungen in den Freundschaftsspielen. Der Ärger über den späten Ausgleich der Holländer konnte die Zufriedenheit ein gutes Spiel gezeigt zu haben nicht auslöschen.“

Solide Innenverteidigung, eroberungslustiges Mittelfeld und ein junger, sehr lebhafter Angreifer

Weiter heißt es in Libération: „Holland hat Deutschland ein mühevolles 1:1 abgerungen, das keine Mannschaft weiterbringt. (…). Mit einer soliden Innenverteidigung, einem eroberungslustigen Mittelfeld und einem jungen, sehr lebhaften Angreifer, haben sich die Deutschen ihren Gegnern, und auch ihren zahlreichen Kritikern, insbesondere im eigenen Land, wieder in gute Erinnerung gebracht. Sie haben in der zweiten Halbzeit nicht die hochverdiente Führung durch Frings zu halten gewusst. Lange Zeit enttäuschend, hat Holland im zweiten Abschnitt Druck erzeugt, dabei aber ohnmächtig und einfallslos gewirkt, bis van Nistelrooy sie zehn Minuten vor Spielende rettete.“

Ohne Hoffnung mitzuhalten und völlig ohne Aussicht zu gewinnen

Michael Walker (The Guardian 16.6.) umarmt die Deutschen: „Traditionell empfinden Engländer gegenüber Deutschland keine Sympathie, aber sogar der größte Euro-Skeptiker müsste gestern ein wenig Mitleid für sie gefühlt haben. Achtundvierzig Stunden, nachdem Zinedine Zidane England mit zwei späten Toren zerstörte, tat Ruud van Nistelrooy, nur ein kleines Stück weiter entlang der Küste, Deutschland etwas sehr ähnliches an. Deutschland hat nicht, wie England verloren, aber sie werden sich sicher heute Morgen so fühlen, als hätten sie es. Es war zu erwarten, dass das Team eigentlich grässlich zu beobachten sei, ohne Hoffnung überhaupt in dem Spiel mitzuhalten zu können – und völlig ohne Aussicht es zu gewinnen. Holland sollte eigentlich vor Fähigkeiten tropfen und Ideen sprudeln. Aber Rudi Völlers Jungs stellten alle Annahmen auf den Kopf. Sie waren nicht nur respektabel, Deutschland dominierte Holland und verteidigten ihre Führung bis zur 82. Minute. (…) Trotzdem, wenn sie den Moment nüchterner Reflektion erreichen, werden Rudi Völler und seine Mannschaft dies als gute Leistung bewerten. Thorsten Frings’ Freistoß hätte ihnen drei Punkte einbringen sollen, aber er wird ihnen wenigstens die bis dahin nicht vorauszusehenden Hoffnung geben, sich aus der Todesgruppe zu qualifizieren.“

Das Elend fast perfekt gemacht

Oliver Kay (Times 16.6.) sah eine eindrucksvolle Leistung der Deutschen: „Er hatte vor der Begegnung unglücklicherweise einen Vergleich mit dem Zweiten Weltkrieg angebracht, aber für Ruud van Nistelrooy war es nicht mehr als ein persönlicher Kreuzzug. Lange musste er auf seinen ersten Auftritt bei einem großen internationalen Turnier warten, bevor es nun im Alter von 27 Jahren endlich klappte. Im Spiel war er 81 Minuten nicht wirklich in Erscheinung getreten, Frust und Isolation bestimmten sein Spiel, aber 9 Minuten vor Schluss erzielte er einen spektakulären Treffer und bewahrte sein Team somit vor einer zerstörenden Niederlage. Bis zum Ausgleichstreffer deutete alles darauf hin, dass die Deutschen, die ihre beste Vorstellung seit der WM 2002 ablieferten, das Elend ihrer Nachbarn, die wie immer in ihrer Turniervorbereitung durch interne Zankereien gestört wurden, perfekt machen würden. Ein zufälliges Tor von Torsten Frings in der 30. Minute brachte die deutsche Mannschaft vorerst auf den Pfad zu einem wichtigen Sieg, aber van Nistelrooy sicherte seinem Team und Coach Advocaat ein Unentschieden. Eine Niederlage hätte sicherlich dafür gesorgt, dass im holländischen Lager bereits von einer Krise gesprochen worden wäre. (…) Deutschlands Form in den Vorbereitungsspielen, die unter anderem peinliche Niederlagen gegen Rumänien und Ungarn zur Folge hatten, war eigentlich noch schlechter als die der Holländer, aber von Beginn an zeigten sie eine eindruckvolle Leistung und verstanden es gut, sich auf dem Spielfeld zu behaupten. (…) Rudi Völler zeigte sich nach dem Match zufrieden und sagte, dass man nun mit frischem Selbstvertrauen in die Partie gegen Lettland gehen könne, nachdem man mit so niedrigen Erwartungen in dieses Turnier gegangen sei. Das größte Lächeln gehörte an diesem Abend aber van Nistelrooy: Krieg mag zwar übertrieben sein, aber es war für ihn sicherlich eine persönliche Schlacht, die er gewonnen hatte.“

Deutschland, ein Favorit – dies behauptet der frühere kroatische Spielerstar Robert Prosinecki. Seine Meinung steht dabei repräsentativ für die Einschätzungen der kroatischen Presse, die das Spiel der deutschen Elf gegen Holland durchweg positiv beurteilt. In seiner Kolumne für die Zagreber Tageszeitung Vecernji List (16.6.) schreibt Prosinecki: „Vor diesem Spiel waren für mich Frankreich und Holland die klaren Favoriten. Nach diesen 90 Minuten sind die Holländer für mich eine große Enttäuschung. Sie leisteten rein gar nichts, ihr – so bekanntes – Kurzpass-Spiel ist ganz und gar unterblieben. Deutschland hingegen glänzte mit viel Laufarbeit, Kampfgeist und ausgezeichneter Ballkontrolle. Im Mittelfeld bremsten sie die Oranjes vollständig aus: Außer Cocu hatte niemand eine Chance. Ich hätte nicht gedacht, dass ich die deutsche Mannschaft so loben würde. Die deutsche Fußballnation hatte ihr Team bereits seit langem abgeschrieben, auch die größten Optimisten unter ihnen hätten nicht gedacht, dass sich die deutsche Elf so glanzvoll präsentieren würde. Es ist schwierig, Deutschland mit England und Frankreich zu vergleichen. Trotz deren unterschiedlichen Fußball-Stile sind die drei Teams etwa gleich stark. Deutschland zeigte in diesem Spiel, dass es keineswegs zu den Outsidern gehört – vielmehr zu einem der Favoriten.“

„Das Herz des deutschen Fußballs schlägt wieder“, Michael Horeni (FAZ 17.6.) fühlt den Puls: „Die Deutschen waren der Gewinner des Abends, aber nicht dessen eindeutiger Sieger. Der Ausgleichstreffer beschädigte noch unangenehm das deutsche Wunschbild der Tabelle in der Vorrundengruppe D. Mit einem Sieg wäre das Viertelfinale nahe gewesen, mit dem 1:1 aber ist mathematisch vor den beiden Begegnungen gegen Lettland und im voraussichtlichen „Endspiel“ gegen Tschechien noch nicht viel gewonnen. Doch fußballbuchhalterisch wollte den Deutschen nach der sportlich geglückten und nur vom Gegentreffer eingetrübten EM-Premiere gegen die Holländer niemand kommen. Gerechnet und abgerechnet wird selbstverständlich erst noch, aber daß mit dem dreimaligen Welt- und Europameister sportlich wieder zu rechnen ist, dies ist nach dem Unentschieden gegen Holland zumindest eindeutig entschieden. Vor kurzem wurde dies in Deutschland bang und international verwundert in Frage gestellt. Erstmals nach knapp vier Jahren bestanden die Deutschen wieder eine internationale Härteprobe gegen einen Gegner von Format, und es fehlte ihnen nur ein wenig Fortüne zu einem Traumstart. Die Mannschaft und ihr Teamchef präsentierten sich in einer erstaunlichen Form, die ihr nur die größten Optimisten zugetraut hätten. Rudi Völler, im Duett mit Trainer Michael Skibbe in taktischen Fragen nicht immer weltmeisterlich, lieferte ausgerechnet gegen die holländischen Systemliebhaber ein kleines Meisterstück ab. Jeder einzelne Mannschaftsteil verstand sich als Teil einer willensstarken Gemeinschaft, die weiß, daß ihr große Ziele nur durch gemeinsame Kleinstarbeit vergönnt sind. Daß aus diesen altbekannten Komponenten phasenweise eine spielerische Überlegenheit erwuchs, könnte eine Wende nach einer langen, erfolglosen Zeit gegen die erste Wahl der Fußballwelt ankündigen.“

Je mehr Köpfe man dem Untier Deutschland abschlägt, desto mehr wachsen nach

Wurde Deutschland schlechtgeredet? Ludger Schulze (SZ 17.6.) muss sich korrigieren: „Nach den teils bizarren Vorbereitungsspielen hatten alle Medien den Daumen gesenkt und auch das Vertrauen des Publikums in diese Auswahl sank in einer Zügigkeit wie das Badewasser, wenn man den Stöpsel zieht. Aber, Achtung, nicht alle ließen den Mut fahren, zwei Glaubensbrüder standen in Treue fest – und bekamen Recht. „Dass die Mannschaft heute so auftritt, da war ich mir ziemlich sicher“, erklärte Teamchef Rudi Völler, und sein Kollege Skibbe zeigte sich verblüfft über die Verblüffung, für die sein Team gesorgt hatte. „Es hat mich überrascht, dass dem deutschen Fußball im eigenen Land nachgesagt wird, die anderen seien im System weiter.“ Altbacken, rückständig und von vorgestern? „Diesen Schuh ziehe ich mir nicht an“, zumal die tiefsitzende Furcht vor dem typisch deutschen Spiel offenkundig in einer Art Medusa-Mythos sitzt – je mehr Köpfe man dem Untier abschlägt, desto mehr wachsen nach.“

Es ist eine Mannschaft, die den Wettkampf liebt, und die, zwischen zwei internationalen Turnieren, das seltene Talent hat, sich selbst vergessen zu machen

Eric Collier (Le Monde 15.6) anerkennt die Leistung der Deutschen: „Etwas verwirrt nach dem seltsamen Tor von Frings, glichen die Holländer dank einer Glanzleistung von Ruud van Nistelrooy noch aus. Die sechzehn Mannschaften der Euro 2004 haben alle ihr erstes Spiel bestritten und, wenn die Stunde schlägt, ist Deutschland zur Stelle – ist dies wirklich eine Überraschung? Die Spieler von Rudi Völler haben ihr erstes Spiel nicht verpatzt, da sie ein Unentschieden gegen die Holländer erreicht haben. Wie schon so oft in der Vergangenheit nach dem letzten Titel im Jahre 1996, kam Deutschland, die einzige Nation, die drei Mal den Europameistertitel gewann, mit mehr Fragen als Antworten nach Portugal, begleitet von einer desaströsen Vorbereitung: Niederlagen gegen Frankreich, und, noch schwerwiegender, gegen Rumänien und Ungarn. Weswegen sollten seine leidenschaftlichsten Fans zweifeln, die sich auf eine Statistik stützten: Vor der ersten Runde der Euro 2004, verlor Deutschland nur 2 der letzten 25 Pflichtspiele. Es ist eine Mannschaft, die den Wettkampf liebt, und die, zwischen zwei internationalen Turnieren, das seltene Talent hat, sich selbst vergessen zu machen. Vizeweltmeister von 2002 entgegen allen Erwartungen, fanden die Deutschen nun unter allen sechzehn Teilnehmern einen Weg, einen “Outsider”-Status zu erlangen, der wiederum ideal war, um die holländische Auswahl zu irritieren: “Deutschland begibt sich immer wieder in diese Position, die ich nicht verstehen kann“, seufzte Dick Advocaat. „Eine Mannschaft wie Deutschland sollte schon ein wenig mehr Selbstvertrauen besitzen.“ Dieses Vertrauen kommt stets im richtigen Moment zur Mannschaft zurück, und lässt Oliver Kahn und seine Mannschaftskollegen weit weniger Fehler machen, wenn der Gegner Holland heißt. Die Rivalität zwischen den beiden Ländern ist historisch. (…) Seit der WM 1990 haben sich die Spannungen weitgehend beruhigt, doch auch der holländische Verteidiger Giovanni van Bronckhorst sagt: “es ist wie mit Frankreich und England“: eine unlöschbare Rivalität.“

Rudi Völler geht den geradlinigeren Weg als Advocaat

Felix Reidhaar (NZZ 17.6.) erkennt die konzentrierte Leistung der Deutschen an: „Die Geschichte wiederholt sich. Schon vor zwei Jahren war die deutsche Nationalmannschaft mit wenig Kredit auf die südkoreanische Ferieninsel geflogen. Von diesem idyllisch gelegenen Refugium im Gelben Meer aus brach sie zum unvermuteten Eroberungszug auf, der sie auf einem leistungsmässig für DFB-Auswahlen nicht untypischen Steigerungslauf bis in den Final gegen die Brasilianer führte – und mit etwas Glück fast noch weiter als bis zu Rang 2. Der Kantersieg im Startmatch kehrte damals die Negativentwicklung um. Ein Sieg war es diesmal im orangefarbenen „Drachen“-Oval zwar nicht, aber der Gesamteindruck anlässlich des 1:1 im Clash der Erzrivalen gegen die Niederländer trägt dem Team Rudi Völlers schlagartig wieder Respekt ein. (…) Rudi Völler geht den geradlinigeren Weg als Advocaat. Er ist überzeugt von der Richtigkeit seiner Arbeit sowie Taktik und gleichermassen von den Qualitäten der Spieler seiner Wahl. Seine trotz der Bissigkeit der Medien behaltene Zuversicht spiegelte sich im Team auf dem Rasen. Die nervenaufreibende EM-Qualifikation, die schallende Ohrfeige von Bukarest sowie der schmerzhafte Streifschuss gegen die drittklassigen Ungarn brachten so wenig Unruhe ins Kader wie Insultationen und Mutmassungen unter dem medialen „Belagerungszustand“ des Mannschaftsquartiers an der Küste. Völler und sein Team schauen für sich, sind realistisch genug und wissen um die Unerlässlichkeit von spielerischen Fortschritten in Portugal.“

Claus Spahn (zeit.de): „Beim Fußball vergeht die Spielzeit nie gleichmäßig. Es gibt Minuten, die sich zur Krimilänge dehnen, wie in der Schlussphase beim Wahnsinnsspiel England gegen Frankreich. Und es gibt Halbzeiten, wie beim Spiel Schweiz gegen Kroatien, die am Ende wie vom Rasen verschluckt wirken, als hätte es sie gar nicht gegeben. Verwundert reiben wir uns nach dem Hollandspiel die Augen und stellen fest: Im deutschen Fußball sind jetzt sogar zwei ganze Jahre wie vom Erdboden verschwunden. Die Nationalmannschaft ist bei der Europameisterschaft angetreten, als wäre sie wieder in Japan bei der Fußball-Weltmeisterschaft und der wundersame Höhenflug eines wenig genialen, aber ehrgeizigen Teams gehe ohne Unterbrechung weiter. Kann sich nach dem Holland-Fight noch jemand erinnern an das Faröer-Island-Rumänien-Ungarn-Gewürge? Der 30. Juni 2002 war gestern: Oliver Kahn hat sich nach dem verlorenen WM-Endspiel gegen die Brasilianer vom linken Torpfosten des Stadions in Yokohama wieder erhoben, die Mannschaft – es ist ja im Kern noch die gleiche – hat sich neue Trikots übergezogen und setzt ihr Turnier in einem anderen Japan fort, nur mit viel schwereren Gegnern als es Paraguay, die USA oder Südkorea waren. Hallo, da sind wir wieder. (…) Was für ein, vor allem von der 2. bis zur 30. Minute stetig anschwellender Einsatzwille! Was für eine Überlegenheit im Mittelfeld! Was für eine sichere Ballführung im Spiel nach vorne! Rudi Völler hat alles richtig gemacht.“

Die Holländer verzichteten darauf die Schwächen der Deutschen zu nutzen

Matti Lieske (taz 17.6.) weiß noch nicht, wie Deutschland und Holland einzuordnen sind: „Der Grund für die beidseitige Zufriedenheit war jedoch nicht das schnöde Resultat, sondern hier feierten zwei Teams, die gerade eine veritable Identitätskrise bewältigt hatten. „Wir wussten ja selber nicht richtig, wo wir stehen“, sagte Michael Ballack später, „jetzt können wir beruhigt in die nächsten Spiele gehen.“ Nicht nur die beiden Schlappen gegen Rumänien und Ungarn in der Vorbereitung hatten offensichtlich mehr auf den Seelen der Spieler gelastet, als sie vorher zugeben wollten, sondern vor allem ein anderer, von Ballack benannter Umstand machte ihnen zu schaffen: „Wir haben ja zuletzt die Spiele gegen große Gegner immer verloren.“ Nun, so der Mittelfeldspieler, der zum besten Akteur des Matches gewählt worden war, „steht fest, dass wir gegen die Großen bestehen können“. Ob die Niederländer wirklich zu den Großen zählen, darüber waren diese selbst sich vor der Partie überhaupt nicht im Klaren gewesen. Auch sie hatten zuletzt verloren, interne und externe Diskussionen über das Spielsystem für beträchtliche Zerrüttung im Team gesorgt. Der Mangel an Selbstvertrauen schlug sich in der vorsichtigen Taktik nieder, die Coach Dick Advocaat seinen Leuten zu Anfang verordnete. Nicht nur, dass sich die Holländer mit ihrem massiven Mittelfeld und Ruud van Nistelrooy als einziger echter Spitze der eigenen Stärken beraubten, wie der weise Franz Beckenbauer schon vorher bemerkt hatte, sie verzichteten auch darauf, die Schwächen der Deutschen zu nutzen. (…) Rudi Völler schaffte es sogar, dem Unentschieden trotz „kurzfristiger Enttäuschung“ Positives abzugewinnen. So verfalle man vor dem kniffligen Lettland-Match am Samstag wenigstens nicht in Selbstzufriedenheit. Beim Gedanken an die vorwitzigen Balten ist beiden Trainern nicht ganz wohl, denn ein Stück der Identitätskrise ist geblieben. Zwar wissen Deutsche und Holländer jetzt, wie sie zueinander stehen, aber ob das Match in Porto nun wirklich ein Treffen zweier großer Teams war oder eher zweier Gurkentruppen, muss sich erst noch herausstellen.“

Philipp Lahm steigt nach oben wie eine Mondrakete

Philipp Selldorf (SZ 17.6.) klopft Philipp Lahm auf die kleinen Schultern: „Irgendwann muss er doch mal einen schlimmen Fehler machen wie es alle tun, zumal in seinem Alter. Einen Ball verschätzen, einen Sprint zu spät ansetzen, einem Täuschungsmanöver erliegen, eine Flanke unterlaufen. Vielleicht jetzt bei diesem langen Diagonalpass von Edgar Davids: Weit fliegt die Kugel durch die deutsche Hälfte, auf geradem Weg zum Rechtsaußen van der Meyde. Philipp Lahm steht auf seinem Posten, aber den, so denkt man, den kann er nicht bekommen, dafür ist er einfach zu klein mit seinen 1,70 m. Und dann steigt er plötzlich steil nach oben wie eine Mondrakete, er streckt sich, streckt sich noch mehr – und erwischt den eigentlich viel zu hohen Ball genau so wie er das braucht. Wieder ist es nicht passiert, auch in seinem siebten Länderspiel hat Philipp Lahm eine makellose Partie hingelegt.“

Jan Christian Müllers (FR 17.6.) Einzelkritik: „Die Erleichterung war an den Gesichtern jedes Einzelnen unschwer abzulesen. „Wir sind schon ein bisschen enttäuscht“, sagte Michael Ballack nach dem Spiel und grinste dabei, so breit er konnte. Der Noch-Münchner war zu Recht von der Uefa zum besten Spieler des Abends erkoren worden. Aber nicht nur der 27-jährige Alleskönner, der diesmal tatsächlich auch alles gezeigt hatte, übertraf die Erwartungen. Links hatte Philipp Lahm mit ungeheurem Tempo verteidigt wie Bixente Lizarazu in seinen Hochzeiten, rechts Arne Friedrich nacheinander Zenden und Overmars in Isolationshaft genommen, zentral hinten räumten Wörns und Nowotny weg, als hätte es nie den leisesten Zweifel an ihrer Leistungsfähigkeit gegeben. Im defensiven Mittelfeld waren Hamann und Baumann allgegenwärtig, rechts und links mühten sich Frings und Schneider redlich und mit schwindenden Kräften, davor und dahinter, darüber und überhaupt überall war Ballack zu finden (was bei Edgar Davids in der Pause zur Aufgabe führte) – und vorn hielt sich der einsame Kevin Kuranyi wacker gegen den stämmigen Stam. Bestimmt wäre es besser, wenn Oliver Kahn nicht regelmäßig den Kopf verlöre, sobald seine Mannschaft unter Druck gerät, was gegen die Niederländer nach der Führung durch den Neu-Münchner Frings ja folgerichtig irgendwann geschehen musste. Ständige lange Abschläge ins Nirgendwo sind keine moderne Lösung für derartige Probleme. Aber es hätte dennoch zum Sieg gereicht, wenn Fabian Ernst nicht für einen kurzen Moment lang die Übersicht verloren hätte. Dabei hatte sich die Einwechslung des Bremers aufgedrängt. „Ich war platt und hätte der Mannschaft nicht mehr helfen können“, gab Frings später zu. Völler und Bundestrainer Michael Skibbe hatten das erkannt und richtig gehandelt. Und doch falsch. Denn Ernst wurde zur tragischen Figur.“

Rätselhaft, wie so viel individuelle Klasse so wenig Mannschaftsleistung hervorbringen kann

Peter Heß (FAZ 17.6.) notiert holländischen Ärger und holländische Enttäuschung: „Noch ist nichts verloren. Aber die Zuversicht, daß es bei dieser EM etwas zu gewinnen gibt, ist in den Niederlanden geschrumpft. Das 1:1 gegen die Deutschen befriedigte nur das Kalkül der Rechner, aber nicht die Sinne der Fußball-Liebhaber. Es erscheint rätselhaft, wie so viel individuelle Klasse so wenig Mannschaftsleistung hervorbringen kann. (…) Wenn sich wenigstens alle so eingesetzt hätten wie der lange Stürmer van Hooijdonk: „Ich wollte unbedingt gewinnen. Ich habe mit Christoph Daum bei Besiktas Istanbul einen deutschen Trainer, dazu einen deutschen Kotrainer und einen deutschen Masseur. Bei einem Sieg hätte ich ein ganzes Jahr lang eine Menge Spaß gehabt.“ Aber viele seiner Kollegen begegneten dem Klassiker, der bei den Fans so viele Emotionen auslöst, mit professioneller Kühle, fast Gleichgültigkeit. Zu viele in dieser Mannschaft haben in ihrer Karriere wohl schon zuviel erreicht. Nicht einmal eine drohende Niederlage gegen den ungeliebten Nachbarn bewegte sie zu hektischer Betriebsamkeit. Trainer Advocaat verstand es offensichtlich nicht, seinen Spielern die nationale Bedeutung der Partie zu vermitteln, ganz im Gegensatz zu Rudi Völler. Die Kommentare der meisten Profis korrespondierten mit dem Geschehen auf dem Rasen. Ja, es sei schwer gewesen gegen die Mauer der Deutschen, doch, es werde schon besser werden, nein, Probleme gebe es nicht. Frank de Boer, früher der Kopf der Mannschaft und jetzt Kopf der Ersatzspieler, zuckte nur lässig mit den Achseln: „Wir sind eben nicht in Form. Das hat sich schon in den Vorbereitungsspielen gezeigt und jetzt fortgesetzt.“ Zwei Spieler immerhin schien die Vorstellung der eigenen Mannschaft zu wurmen. Mittelfeldspieler Edgar Davids, dessen großes läuferisches und kämpferisches Engagement ihn nicht vor einer schwachen Leistung gegen Deutschland bewahrte, sagte: „Wir müssen ganz viel ändern. Aber bevor wir etwas ändern, müssen wir ganz viel miteinander reden.“ Konkreter wollte Davids nicht werden, aber ihn scheint Grundsätzliches in der Mannschaft zu stören, wie die Einstellung zum Beispiel. Torwart Edwin van der Sar meinte ganz kühl: „Wenn wir diesen Standard beibehalten, gewinnen wir hier gar nichts.“ Der Torhüter ist bei seinem englischen Klub FC Fulham ein anderes Berufsethos gewohnt: „Wir müssen auf dem Platz viel mehr arbeiten“, fordert er.“

Die alten Zeiten des Hochmuts scheinen vorbei zu sein

Philipp Selldorf (SZ 17.6.) findet, die Holländer sollten weniger meckern: „Arjen Robben ist zwar erst 20 Jahre alt und hat lediglich vier Länderspiele für Holland bestritten, aber er hat bereits für das ganze Leben ausgesorgt – der Ölbaron Roman Abramowitsch hat ihn kürzlich für sein Freiluft-Museum in London erworben und dort in die wertvolle Kollektion zeitgenössischer Fußballer eingereiht. 20 Millionen Euro Ablöse erhält der PSV Eindhoven für den Angreifer. Am Dienstag saß Robben, der wohl ein gewisses Talent besitzt, auf der Ersatzbank und fühlte sich schlecht unterhalten. Das Spiel, dem er unbeteiligt zusah, gefiel ihm nicht. „Ein bisschen negativ“ fand er den Auftritt der Deutschen, „nur verteidigen, verteidigen, verteidigen. Acht von zehn Spielern sind über 1,90 Meter, da stand eine Mauer von Körpern.“ Die alte holländische Denkschule eben, ein bisschen negativ, wenn es darum geht, die Leistung der Gegner zu würdigen. Neu aber ist, dass Arjen Robben mit seiner Meinung ziemlich allein war. Die übrigen Beteiligten und ihre ständigen Beobachter suchten den Fehler nicht bei den Deutschen und beschwerten sich auch nicht über deren angeblich destruktives Spiel. „Deutschland hat eine starke Mannschaft und kann weit kommen bei diesem Turnier“, lobte Verteidiger Giovanni van Bronckhorst. Über seinen deutschen Kollegen im Mittelfeld, Michael Ballack, schwärmte der hoch gehandelte junge Ajax-Profi Wesley Snijder mit einer Emphase, als ob er ihn heiraten wollte. Die alten Zeiten des Hochmuts scheinen vorbei zu sein. Eher fanden kritische Holländer Befürchtungen bestätigt, die seit einiger Zeit diese Mannschaft begleiten. In Deutschland mag man ja glauben, dass die Vereine in Holland Ausnahmetalente in einer beliebigen Stückmenge züchten wie die Landwirte Tulpen und Tomaten. Doch dieses Dafürhalten beruht womöglich auf landestypischem Kleinmut. Blickt man unbefangen auf Hollands jüngere Fußballhistorie, eröffnet sich eine Bilanz, die nicht nur auf unglücklichen Zufällen beruhen kann.“

Michael Horeni (FAZ 17.6.) sieht den Deutschen beim Wachsen zu: „Was man unter diesen Voraussetzungen aus einem einzigen Punkt gegen die Niederländer nachträglich alles machen kann, das ließ sich im deutschen Troß je nach Temperament am nächsten Tag in Almancil gut studieren. „Wir können unseren Traum vom Viertelfinale wahrmachen“, sagte Völler mit der gebotenen Vorsicht aber gestiegenen Zuversicht des Teamchefs. Gerhard Mayer-Vorfelder gab derweil die Vorgaben an die erste deutsche Auswahl im präsidialen Stil weiter: „Der Maßstab ist gesetzt. Man kann nach diesem Spiel davon ausgehen, daß wir die Vorrunde überstehen. Das Ziel Halbfinale gilt.“ Trainer Michael Skibbe, zuständig für Naßforsches in der DFB-Equipe, tönte bei der Suche nach dem rechten Weg zwischen punktueller Enttäuschung und grundsätzlichem Stolz über wiedergewonnene internationale Wettbewerbsfähigkeit: „Die EM ist für uns noch lange nicht vorbei. Wie bei der WM ist hier vieles, sogar alles möglich.“ Wer hätte das gedacht? Nicht einmal die deutschen Spieler. So ehrlich war zumindest Michael Ballack, der im Mittelfeld wie in Japan und Korea wieder zur bestimmenden Figur wurde, wenn auch ohne die letzte Stärke im Abschluß. „Wir wußten nicht, wo wir stehen“, sagte der Münchner, der zum wertvollsten Spieler eine Partie ernannt wurde, die nach 45 Minuten alle Erwartungen über den Haufen geworfen hatte. Die niederländischen Künstlernaturen kamen sich nur noch wie im Legendenreich des modernen und attraktiven Fußballs vor, während die Deutschen als ordnungspolitische Überzeugungstäter mit einer paßgenauen Taktik und leichtathletischen Fähigkeiten aufwarteten, und daraus ein international sehenswerten und für deutsche Verhältnisse staunenswerten Auftritt schufen.“

„Zwei Treffer für Frings“, zählt Gregor Derichs (FAZ 17.6.): „Die entscheidenden Formalitäten wurden wenige Stunden vor dem Spiel geklärt. Borussia Dortmund und der FC Bayern München einigten sich über den Wechsel von Nationalspieler Torsten Frings. Am Tag des EM-Starts der deutschen Nationalelf beendeten die Vereine das wochenlange Tauziehen um den Mittelfeldspieler. Für Frings war das Pokerspiel um seine Zukunft inmitten der Turnierteilnahme der Nationalmannschaft keine neue Situation. Vor zwei Jahren wurde unmittelbar vor dem ersten Weltmeisterschaftsspiel gegen Saudi-Arabien sein ebenfalls mit erheblichen Komplikationen verbundener Wechsel von Werder Bremen zu Dortmund vollzogen. „Die Sache hat mich weder damals noch diesmal belastet. Aber man ist natürlich ein bißchen erleichtert, wenn man hört, daß es geklappt hat“, sagte Frings. Die Erleichterung über die Klärung seiner Zukunft dürfte dazu beigetragen haben, daß Frings gegen die Niederlande besser spielte als bei den vorangegangenen Testpartien.“

Noch ist nichts verloren, aber auch nichts gewonnen

Wohin führt der Weg, Michael Jahn (BLZ 17.6.)? „Am Ende war ein Ergebnis draus geworden, das es äußerst schwierig machte, Bahn brechende Erkenntnisse zu gewinnen. War es wirklich nur listig, so defensiv gegen die Künstler aus dem Nachbarland anzutreten? Oder ist ein Remis in dieser schweren Gruppe nicht zu wenig, um weiterzukommen? Durfte man sich freuen, weil Christian Wörns „absolut überragend“ (Michael Skibbe) gespielt hatte gegen van Nistelrooy? Oder hatte man Grund zur Klage, weil er den entscheidenden Zweikampf verlor? Wie gut ist die Mannschaft tatsächlich? Und wie anfällig? Teamchef Rudi Völler verpackte die Widersprüchlichkeiten in einem schönen Satz: „Noch ist nichts verloren, aber auch nichts gewonnen.“ Die Wahrheit ist, dass die Deutschen lange viel besser spielten, als es die Öffentlichkeit von ihnen erwartet hatte und auch sie selbst. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass am Ende zwei wichtige Punkte verschenkt worden sind.“

Griechenland-Spanien 1:1

Im Tagesspiegel (17.6.) liest man: „Irgendwie war die Euphorie etwas zu groß für Otto Rehhagel. Er musste auch etwas bemängeln. „Was mir heute missfällt, sind diese schwarzen Netze in den Toren“, sagte Griechenlands Trainer in der Pressekonferenz. „So etwas kann nur ein Funktionär erfunden haben.“ Der Ball müsse in ein weißes Netz fliegen, erklärte Rehhagel, der in manchen Artikeln nur noch „König Otto“ genannt wird. Weiße Netze würden die Freude an diesem Sport zeigen. „Schwarze Netze aber sind ein Trauerspiel“ schimpfte Rehhagel. Dann knipste er sein Mikrofon aus. Abgesehen von der Farbe der Tornetze dürften Otto Rehhagel in Portugal nicht viele Sorgen plagen.“

morgen mehr über diese Partie

Tschechien-Lettland 2:1

Es bleibt eine Qual, gegen sie zu spielen

Die Tschechen warnen vor den Letten, schreibt Christoph Biermann (SZ 17.6.): „Ein Gespenst geht um und sorgt für tiefes Seufzen und Blässe um die Nasen. Jan Koller war es begegnet, und nachher sagte der tschechische Mittelstürmer mit belegter Stimme: „Das war das schwerste Spiel bei dieser Europameisterschaft.“ Auch seine Mannschaftskameraden stiegen auf eine Art erleichtert in den Bus, die mit dem Gefühl zu tun hatte, das Grauen gesehen und es überwunden zu haben. Schon vor Turnierbeginn galt für drei Teams in Gruppe D: Gegen Lettland kann man im Grunde nur verlieren. Jetzt gilt es noch mehr. Alles andere als ein Sieg wäre nicht nur eine Blamage, vor allem dürfte es bei der engen Konkurrenz zwischen Deutschland, Holland und Tschechien schon das Ausscheiden bedeuten. Und sollten sich die drei Großen gegeneinander in einer Serie von Unentschieden verhaken, könnte sogar die Höhe des Sieges über Lettland der entscheidende Faktor fürs Weiterkommen sein. Die Tschechen erfuhren als erste, dass dieses Wissen die Sache nicht leichter macht. „Wir wussten, das es schwer werden würde“, sagte Milan Baros, der die Tschechen mit seinem Ausgleichtreffer auf den Weg zum Sieg geführt hatte. Aber niemand kann wohl ermessen, wie es sich wirklich anfühlt, gegen den 52. der Fifa-Weltrangliste anzutreten, der sich nicht schon einmal gegen ihn abgemüht hat. Man kann das lettische Spiel analysieren, die beiden engverzahnten Viererketten in Abwehr und Mittelfeld zum Beispiel, die Kopfballstärke im Defensivzentrum oder die große Kampf- und Laufbereitschaft sowie die äußerst gefährlichen Konter. Man kann sich Kurzpassfußball oder ein Spiel über die Flügel vornehmen, und doch bleibt es eine Qual, gegen sie zu spielen. „Ich würde fast sagen, dass sie mit militärischer Disziplin spielen“, meinte Karel Brückner. Damit beschwor der tschechische Trainer ein Bild von dressierten Robot-Fußballern herauf, das so nicht richtig ist. Die lettische Defensive ist nämlich nicht einfach nur massiv, sie ist auch intelligent organisiert und wird aufopferungsvoll gehalten.“

Als Portugal-Tourist versteht sich niemand

Thomas Klemm (FAZ 17.6.): „Wer will dem EM-Neuling seine Zurückhaltung verdenken, hatte sich doch sogar Nationaltrainer Aleksandrs Starkovs bis zuletzt gesorgt, ob seine Mannschaft dem Niveau bei der Endrunde gewachsen sei. Nachdem der Neunundvierzigjährige aber gemerkt hatte, daß sein Team durchaus „respektablen Fußball“ gegen einen schier übermächtigen Gegner zu spielen in der Lage ist, mochte sich der gleichzeitige Vereinstrainer von Skonto Riga mit dem Ergebnis nicht anfreunden. „Jeder hat gesehen, daß wir Punkte holen können.“ Eine klare Botschaft an seinen kommenden Kollegen: Vorsicht, Völler! Die Zeit des Daumendrückens für Deutschland sei vorbei, behauptete Starkovs. Bei früheren Turnieren hätten die meisten Letten mit der Auswahl des geographischen Beinahe-Nachbarn gebibbert; doch nun ist das kleine baltische Land stolz darauf, daß nicht nur seine Eishockey-Auswahl zur europäischen Elite zählt, sondern auch die Fußball-Nationalmannschaft. Als Portugal-Tourist versteht sich niemand. Man habe den Auftaktgegner wirklich ernst genommen, tagelang sein Spiel auf Videos studiert, beteuerte der weißhaarige Coach – „dennoch war es viel schwieriger, als wir erwartet hatten“. Die Letten, allen voran der quirlige Stürmer Maris Verpakovskis und der am Dienstag „nur“ bei den Gegentreffern überforderte Torhüter Aleksandrs Kolinko, spielen für Land, Leute und um ihre eigene Zukunft; wollen sie doch zeigen, daß sie gute Qualität zum relativen Schnäppchenpreis bieten. Starkovs unterstützt seine Kicker dabei, sich bei der europäischen Fußballfachmesse anzubieten. Schließlich dürfte auch er selbst mit lukrativen Angeboten rechnen.“

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