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Warten auf den Ausbruch der Konflikte

Oliver Fritsch | Donnerstag, 17. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Warten auf den Ausbruch der Konflikte

„die Medien wissen, dass in Hollands Mannschaft Konflikte drohen – und sie versuchen, sie zum Ausbruch zu bringen“ (Tsp) – „tief stehen, clever verteidigen und beim Gegenangriff kalt zuschlagen“ (FAZ), so versucht es Sven-Göran Eriksson mit England / wie verkraften die Engländer das 1:2 gegen Frankreich? „es gibt kein Patent, um sich der Dynamik einer Niederlage zu entziehen“ (SZ) – Fabien Barthez hat Demut gelernt und weiß nun Erfolg un Anerkennung zu schätzen (FAZ) u.v.m.

Die Medien wissen, dass in der Mannschaft Konflikte drohen – und sie versuchen, sie zum Ausbruch zu bringen

Holland, eine Idylle – Stefan Hermanns (Tsp 17.6.): „Das Zentrum der Stimmungsmache liegt zurzeit auf einem kleinen Platz an der Algarve. Von dort strahlen die beiden bekannten holländischen Talkmaster Frits Barend und Henk van Dorp während der EM in Portugal jeden Abend ihre beliebte Quasselsendung aus. Nach dem 1:1 fragten sie ihre Zuschauer, ob Dick Advocaat, der Bondscoach der Nationalmannschaft, die falsche Aufstellung gewählt hatte. Mit Ja antworteten 93 Prozent. Ein Sieg gegen die Deutschen hätte die Stimmung vielleicht wenden können. Aber zu dem enttäuschenden Ergebnis gesellte sich eine spielerisch dürftige Vorstellung. Den holländischen Fußball-Schöngeistern setzt das vielleicht noch stärker zu als ein schlechtes Resultat. „Holland hat schwach bis sehr schwach gespielt“, sagte Johan Cruyff, der ranghöchste Verfechter des schönen Spiels. Und Ronald Koeman, der Trainer von Ajax Amsterdam, musste aussprechen, was in Holland eigentlich als unaussprechlich gilt: „Ich finde, dass die Deutschen besser gespielt haben.“ Es wird in den nächsten Tagen nicht leichter werden für Dick Advocaat. Die Medien wissen, dass in der Mannschaft Konflikte drohen – und sie versuchen, sie zum Ausbruch zu bringen. Talkmaster Frits Barend bedrängte beim Einsatz an der Basis den Ersatzspieler Patrick Kluivert, der 90 Minuten lang auf der Bank gesessen hatte. Was er denn gefühlt habe, als sein teaminterner Konkurrent Ruud van Nistelrooy den Ausgleich erzielt hatte. „Was willst du jetzt von mir hören?“, antwortete Kluivert und beendete das Interview. Auch Roy Makaay, der ebenfalls nicht gespielt hatte, ließ sich zu keiner kritischen Stimme gegen den Trainer verleiten. „Ach komm, Roy“, sagte ein Fernsehreporter. Aber Makaay sagte nur, dass Advocaat mit der Einwechslung von van Hooijdonk die richtige Entscheidung getroffen habe.“

Tief stehen, clever verteidigen und beim Gegenangriff kalt zuschlagen

Die Engländer spielen auf einmal mit Taktik, meint Christian Eichler (FAZ 17.6.): „Wenn es ihnen tatsächlich gelingt, die letzten fünf Minuten vom Sonntag zu vergessen, dann haben die Engländer allen Grund, weiter an sich zu glauben. Auch bei der letzten Europameisterschaft 2000 waren sie im ersten Spiel glänzend gestartet, 2:0 in Führung gegangen und dann den Portugiesen doch noch 2:3 unterlegen gewesen – was letztlich trotz eines 1:0-Sieges gegen Deutschland zum Ausscheiden in der Vorrunde führte. Doch während damals die Niederlage eine Starrheit im System verriet, ein Festhalten an einem schablonenhaften 4-4-2-System unter dem populären, aber taktisch überforderten Trainer Kevin Keegan, so zeigte die Niederlage gegen Frankreich paradoxerweise, welche Fortschritte die englische Elf unter der kühlen Regie von Trainer Sven-Göran Eriksson gemacht hat. 90 Minuten lang zeigte sie, wie man die Franzosen schlagen kann – im Wechsel aus frühem Angreifen mit blitzartigen Attacken des aufsehenerregenden Teenagers Wayne Rooney und dem „Nachhausegehen“, wie es Eriksson nennt, dem weiten Zurückweichen und Verengen des Spiels in Strafraumnähe. So hielt man die beiden vielleicht weltbesten Spieler im Zaum: Stürmer Thierry Henry war der Raum für seine Schnelligkeit genommen, und Zidane „hatten wir im Griff bis auf die zwei Standardsituationen“. Alle bedeutenden Erfolge der Engländer unter Eriksson, der Sieg gegen Titelfavorit Argentinien bei der WM 2002, die EM-Qualifikation durch das 0:0 in der Türkei, selbst der 5:1-Sieg in München 2001, sind durch diese Grundtaktik entstanden, die Eriksson aus der italienischen Serie A mitgebracht hat: tief stehen, clever verteidigen und beim Gegenangriff kalt zuschlagen. Unter Eriksson wurde England von einer nimmermüde und naiv attackierenden Truppe zu einer beherzt, aber vorsichtig vorgehenden Arbeitsgemeinschaft. Ihr Problem beginnt da, wo ein körperlich oder spielerisch unterlegener Gegner zu besiegen ist. Deshalb wird die Aufgabe gegen die Schweiz eine ganz andere als gegen Frankreich, vielleicht aber gerade deshalb genauso schwer: Dominanz ausüben, das Spiel bestimmen. Und nicht die Geduld verlieren.“

Es gibt kein Patent, um sich der Dynamik einer Niederlage zu entziehen

Wie verkraften die Engländer die Niederlage gegen Frankreich, Ronald Reng (SZ 17.6.)? „England wirkte am Tag vor der Abreise nach Coimbra, Beckhams kämpferischem Optimismus zum Trotz, nicht wie ein Team, das sich schon von der unerträglichen Schwere des Seins befreit hätte. Ohne Regung spulten sie ihr Training herunter. Keine Scherze, keine Triumphschreie, noch nicht einmal – es muss ein Novum auf englischen Fußballplätzen gewesen sein – ein schlichtes „fuck!“. Es gibt kein Patent, um sich der Dynamik einer Niederlage zu entziehen. Englands Trainer Sven-Göran Eriksson versuchte es, indem er das Geschehene in den Tagen danach so weit wie möglich ignorierte. Zwei Minuten sprach der Schwede bei einer Teamsitzung am Montag über das 1:2. Dann überließ er die Spieler der Selbstheilung. „Das Spiel ist passiert. Es wird niemals wieder passieren“, sagte er. „Es war Schicksal. Wir können das Turnier immer noch gewinnen.“ Nicht nur einmal wurde Eriksson vorgeworfen, er sei introvertiert, keiner, der eine Elf anstacheln könne. Er glaubt an die Kraft der Kompetenz, und in diesem Fall scheint sein Ansatz nicht unlogisch zu sein: Eriksson sprach in Sitzungen über die Eckballvarianten der Schweizer statt Motivationsseminare zu halten – er versuchte, Normalität herzustellen. Das suggerierte: Es ist doch nichts passiert! „Nur weil wir so brutal verloren haben, wurden ja nicht die Regeln geändert“, sagte Torwart David James (…) Niemanden hat die Niederlage heftiger getroffen als Beckham. Dies ist sein Team, sein England. Nach dem Spiel, nach seinem Fehltritt aus elf Metern, fand ihn Eriksson in der Umkleidekabine, alleine, die Mitspieler waren längst im Bus. Eriksson tröstete ihn nicht. Er sagte ihm, er, der Kapitän, müsse die Mannschaft wieder aufrichten.“

Dario Venutti (NZZ 17.6.) hofft auf die Langzeitwirkung des Dramas England-Frankreich: „Statistiken sind bekanntlich dazu da, für eigene Zwecke genutzt zu werden. Aus Schweizer Sicht ist der Vergleich mit England zwar prinzipiell entmutigend, weil eine SFV-Auswahl in 22 Spielen gegen die Briten nur 3-mal gewinnen konnte und 15-mal verloren hat. (…) Optimismus schöpft man in erster Linie aus der möglichen Langzeitwirkung der dramatischen Niederlage Englands im ersten Spiel gegen Frankreich, als Zinedine Zidane in den Nachspiel-Minuten mit zwei Toren eine nicht mehr erwartete Wende herbeiführte. Die Hoffnung der Schweizer besteht darin, dass sich die englische Mannschaft von diesem Schock noch nicht erholt hat und entsprechend verunsichert das Spiel gegen die Schweiz beginnt. Gleichzeitig könnte der Aussenseiter davon profitieren, vom Gegner unterschätzt zu werden. Ausserhalb der Schweiz hat sich nämlich die Meinung durchgesetzt, der Match Schweiz – Kroatien sei das „schlechteste Spiel aller Zeiten“ gewesen, wie es die Medien in England, Deutschland und Portugal suggerieren. Davon wird implizit ein Leistungsvermögen von Schweizern (und Kroaten) abgeleitet, das ihnen keine Hoffnungen auf ein Weiterkommen erlaube.“ Im Lager der Schweizer Mannschaft hat man auf diese Beurteilung mit Schmunzeln reagiert.“

Auftaktniederlagen haben bei den Briten Tradition. Peter B. Birrer (NZZ 17.6.): „Als der blaue Sturm mit Zinedine Zidane vorbei war, rangen die Engländer im Estádio da Luz erst einmal um Contenance. Wer weiss schon, warum ein solches Spiel nach einer solchen Entwicklung zwischen der 91. und der 93. Minute ohne Vorankündigung noch 1:2 verloren geht. Mit dem Wort „well“ eröffnete Trainer Sven- Göran Eriksson die folgenden Medienkonferenzen. Eriksson wusste etwa zu berichten, dass David Beckham nach dem Drama in Lissabon noch lange alleine in der Garderobe zurückgeblieben war. Der Trainer war zu ihm hingegangen und hatte gesagt: „Jetzt und morgen bist du als Captain wichtig.“ Aber je mehr Zeit zwischen dem Jetzt und dem Auftakt verging, desto deutlicher kam das britische Selbstverständnis wieder zum Vorschein. England verlor mit Eriksson in 20 Wettbewerbsspielen schliesslich erst zweimal: Sowohl im WM-Viertelfinal gegen Brasilien 2002 wie auch zum EM-Start 2004 hiess es 1:2.“

Andreas Lesch (BLZ 17.6.) lächelt über faule Ausreden: „Es hat sich zu Wort gemeldet David James, der beste Torwart der englischen Nation, im Spiel gegen Frankreich auffällig geworden beim Freistoß Zidanes; James ließ ihn reglos passieren. Die Videos sind Schuld, ruft er jetzt. Stundenlang habe er Standards studiert, gedrehte Eckbälle und gedroschene Freistöße, verlängerte Einwürfe, geschlenzte Elfmeter. „Es war alles drauf“, sagte James, „nur nichts von Zidane. Ich wusste überhaupt nicht, was mich erwartet.“ Der Arme! Wie sollte er wissen, wie der schießt, dieser Zinedine – wie hieß er gleich?“

Fabulous Fab

Fabien Barthez wird wieder geschätzt, erfahren wir von Thomas Klemm (FAZ 17.6.): „Fast in einem Atemzug mit Zinedine Zidane genannt zu werden, das war Barthez schon lange, lange nicht mehr passiert. Gewöhnlich heben sich Stimme und Augenbrauen, wenn von dem französischen Nationaltorhüter die Rede ist: Barthez? Muß das sein? Doch nachdem die Equipe tricolore auf wundersame Weise gegen England 2:1 gewonnen hatte, wechselten 20 000 französische Fans im Estádio Jose Alvalade XXI abrupt die Tonlage. Erst wurde „Zizou“ mit Sprechchören gefeiert, weil er in zwei Minuten ein ganzes Spiel zum Guten gewendet hatte; dann wurde nach „Barthez“ gerufen, jenem Mann, der zuvor mit einem parierten Elfmeter Frankreich überhaupt im Spiel gehalten hatte. Groß waren die Elogen auf den Torhüter, der sich selbst kleiner machte, als es einst seine Art war. „Ich weiß nicht, ob das der entscheidende Moment in dem Spiel war“, sagte Barthez zu seiner Parade gegen David Beckham, „ich habe das Beste gegeben, aber im Fußball geht ja alles so schnell.“ Wer wüßte das besser als der Mann, der sich selbst den Kosenamen „Fabulous Fab“ gab, ehe er lernte, sich ein bißchen bescheidener zu geben. Er galt als bunter Vogel, der Ferrari fuhr und mit dem Fotomodell Linda Evangelista liiert war, der sich nach spektakulären Paraden seine Glatze küssen oder nach dem gewonnenen WM-Titel 1998 von Staatspräsident Jacques Chirac umarmen ließ. Ein Spaßfußballer, der jenes alte Klischee personifiziert, wonach Torhüter und Linksaußen eigenwillige Charaktere sind. (…) Eine erfolgreiche EM könnte Barthez über eine frustrierende Saison hinweghelfen. Im Jahr 2000 für 18 Millionen Euro zu Manchester United gewechselt, war er im vorigen Winter nicht mehr wohlgelitten beim englischen Premier-League-Klub. Vom Tor auf die Tribüne abgeschoben, wechselte Barthez heim zu Olympique Marseille. Doch auch in vertrauten Gefilden stand der Schlußmann, der in elf Tagen 33 Jahre alt wird, mit leeren Händen da. Schlimmer noch: Nachdem Marseille einen internationalen Startplatz in der einheimischen Liga verfehlt hatte, verlor der Klub auch das UEFA-Pokal-Finale gegen den FC Valencia. Der Schuldige war schnell gefunden: Er hieß Barthez, der so genial in der Luft liegen kann, sich aber auch so wahnsinnig abenteuerliche Ausflüge erlaubt. Gegen Valencia hatte er Mista derart rüde attackiert, daß ihn Schiedsrichter Pierluigi Collina vom Platz stellte.“

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