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Sinnbild für Perfektion im öffentlichen Raum

Oliver Fritsch | Donnerstag, 17. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Sinnbild für Perfektion im öffentlichen Raum

Oliver Kahn, „meistens mit, selten gegen seinen Willen ist er zu einer Parabel auf die sportliche Verfassung der gesamten Mannschaft gemacht worden“ (Zeit)

Eine Faustabwehr ist nicht mehr nur eine Faustabwehr, sondern Sinnbild für Perfektion im öffentlichen Raum

Sehr lesenswert! Ist Oliver Kahn ein Emporkömmling, Stefan Willeke (Zeit 17.6.)? „Neulich hat Oliver Kahn ein Buch veröffentlicht, sein erstes Buch. Es trägt den Titel Nummer eins und handelt fast ausnahmslos von Oliver Kahn. Streng genommen ist es gar kein Buch, sondern eine Formelsammlung. Formeln vom Erfolg. Floskeln. Leere Sätze. Gedrucktes Nichts. Das Nichts hat es in die Bestsellerlisten geschafft. Wahrscheinlich hängt es mit dem Image zusammen, dem Kahn-Effekt. Mit Kahn, Titan, King Kahn, Kahnsinn, mit all diesen Schüttelreimen auf stumpfsinnige Supermann-Utopien. „Bereits als Junge“, schreibt Kahn, „fand ich Machtspiele interessant.“ Wer hat angst vor oliver kahn? Hatten die Holländer Angst? „Nein, ach, Kahn war für unsere Mannschaft nie ein Thema“, sagt Youri Mulder. „Uns ist es egal“, sagt Mulder, „ob da Kahn oder Lehmann oder Hildebrand steht. Wir haben immer nur Deutschland gesehen.“ Kein holländischer Spieler habe sich Gedanken über Kahn gemacht, der sei „ein Torhüter, mehr nicht, wirklich nicht.“ Glaubt man Youri Mulder, dann handelt es sich bei Kahn um eine sehr deutsche Angelegenheit, für Ausländer kaum nachvollziehbar, deutsches Glück, deutsches Unglück, je nach Lage, schwerwiegend, in jedem Fall. Die typisch deutsche Sehnsucht nach einem „Führungsspieler“, für Teamchef Völler ein reichlich unnützes Gefühl, richtet sich im Zweifelsfall, wenn sich kein Besserer anbietet, auf Oliver Kahn. Seine Stimmung, seine Selbsteinschätzung, seine Selbstüberschätzung gehen am Ende auch die anderen etwas an. Meistens mit, selten gegen seinen Willen ist er zu einer Parabel auf die sportliche Verfassung der gesamten Mannschaft gemacht worden. Oliver Kahn hat diesen medialen Spielzug als Aufforderung missverstanden, sich selbst zu überhöhen. Eine Faustabwehr ist nicht mehr nur eine Faustabwehr, sondern Sinnbild für Perfektion im öffentlichen Raum. So schwach das deutsche Team inzwischen oft spielt, so stark hat es vorher Oliver Kahn werden lassen. Seit Monaten jedoch patzt auch Kahn in wichtigen Spielen, robbt vergeblich einem kullernden Ball hinterher. Manchmal lachen die Fans. Kahn macht, was er früher nie machte, er macht Fehler, er ist seit kurzem der eingeklemmte Nerv einer leidgeprüften Truppe. Besonders die jungen Spieler halten Ausschau nach Erfahrenen, die Halt geben können. Wenn einer wie Kahn Fehler macht, kann schnell viel durcheinander geraten. Wehrt er die Bälle brillant ab, gibt das den Abwehrspielern Sicherheit. Solange sich ein Star auch auf dem Platz behauptet, hört man auf ihn. Nach dem Holland-Spiel wird man wieder mehr auf Kahn hören. In letzter Zeit nörgelte man gerne an Kahn herum, die Medien tun das, lauthals, auch einige Mitspieler, im Flüsterton. Das war über Jahre undenkbar. Einsam sei der Leitwolf geworden, isoliert, überfordert, nicht mehr ganz ernst zu nehmen, schreiben die Zeitungen. Der einzige Star in der Nationalelf, meinte ein deutsches Blatt zwei Tage vor dem Spiel gegen Holland, heiße Michael Ballack. Schnell wird vergessen, dass vor allem Kahn vor zwei Jahren die Nationalelf ins Finale der Fußballweltmeisterschaft führte. Man müsse, hat Kahns Mannschaftskollege Dietmar Hamann gespottet, zu Beginn des gemeinsamen Essens nicht darauf warten, dass der Kapitän sich setze und das Kommando gebe. Kahn und die Mannschaft – eine Beziehung, in der Schmerzen inzwischen unterdrückt werden, eine schwierige, labile Beziehung. Sie sagt mehr über die Zerbrechlichkeit deutscher Fußballerfolge als über Kahns schwankende Qualität auf dem Platz. Im Stadion von Loulé, bei einem öffentlichen Training vor dem Spiel gegen Holland, drosch der deutsche Torwarttrainer Sepp Maier serienweise Bälle in die Torwinkel. Es war wieder sehr heiß, auf dem Rasen über 30 Grad, im Publikum saßen fast nur deutsche Fans, und Timo Hildebrand musste sich ordentlich anstrengen, um Maiers Bälle abzufangen. Als Oliver Kahn sich warm gemacht und seine Schuhe noch ein wenig strammer geschnürt hatte, ging Hildebrand aus dem Tor und überließ es Kahn. Linke obere Ecke. Rechte obere Ecke. Zehnmal, zwanzigmal, links, rechts, links, rechts. Jeden Ball wehrte Kahn ab, bis auf einen. Zum Schluss legte sich Kahn flach auf den Rasen, hob einen Arm und ein Bein an, und sobald Maier Anlauf nahm, rollte sich Kahn zusammen, stieß sich ab und stieg scheinbar mühelos empor, flog ausgestreckt in die richtige Ecke, lenkte den Ball übers Tor, und die Zuschauer klatschten und johlten. In Strömen rann der Schweiß vom Gesicht, aber Kahn zog seinen eng geschnittenen Trainingsanzug nicht aus. Rechte Ecke, linke Ecke, Kahn sprang wie eine große, gierige Raubkatze. Es war mehr als bloß eine Übung. Es war eine Kundgebung. „Mich inspiriert der schwarze Panther sehr stark“, schreibt Kahn an einer Stelle in seinem Buch. An einer anderen erinnert er sich an eine Episode, die sich ereignete, als er 15 Jahre alt war. Damals steckte er noch all seine Kraft in ein Mofa. Damit es schneller fuhr, frisierte Kahn den Motor, wurde aber eines Tages von der Polizei erwischt. Auf der Wache entfernten Polizisten alle unerlaubten Motorteile, und Kahn musste sein Mofa durch die Karlsruher Fußgängerzone nach Hause schieben, die abgeschraubten Teile trug er auf dem Arm. Viel mehr erfährt man nicht über die Schlüsselerlebnisse seiner Jugend, und dass Kahn diese eine Szene noch heute hervorhebt, sagt sehr viel über die pubertäre Erlebniswelt der pubertierenden Nummer eins. In seinem Leben war scheinbar nichts Spektakuläres außerhalb des Kastens. Ein Mofa und natürlich ein Ball. Das alles erinnert ein wenig an den CDU-Politiker Friedrich Merz, auch ein Spielführer, damals, der als Jugendlicher in seinem sauerländischen Heimatort mit einem Mofa durch die Gegend gerast sein will und angeblich als Rocker gefürchtet war. Oliver Kahn und Friedrich Merz. Sie machen es ihren Beobachtern sehr einfach. Es gehört nicht viel dazu, den Hunger nach gesellschaftlicher Bedeutsamkeit zu erkennen. (…) Wer sich dazu aufrafft, Kahns Memoiren zu Ende zu lesen, wird zwar nie wieder eine Sportlerbiografie in die Hand nehmen wollen, begreift aber schneller als in einem portugiesischen Stadion, dass ein erwachsen gewordener Mofafahrer nach Hauptverkehrsadern sucht, wo sich Passanten staunend umdrehen, wenn ein aufgebohrter Auspuff zu knattern beginnt. Es genügt Oliver Kahn längst nicht mehr, nur ein berühmter Torhüter zu sein. Sein persönliches Dilemma ist das nicht allein, auch eines der deutschen Nationalelf, denn Kahn steht im Tor, dem verwundbarsten Punkt. Kahn ist der Kapitän, der Erfahrenste auf dem Platz. In Porto ist er 35 Jahre alt geworden. Dreimal ist er zum besten Torhüter gewählt worden, dem besten der Welt. Er hätte keinen Grund, mit sich, seinem Ruf und der Welt zu hadern, wenn er einfach zwischen den Pfosten stehen geblieben wäre. Zu einer „Marke“ aber versuchte er sich zu stilisieren, dem globalisierten Maskottchen David Beckham nachempfunden, einer aus Spielermaterial generierten Marketinghülle. Die Medien haben Kahn zunächst liebedienerisch begleitet, als er seine Verwandlung zu inszenieren begann. Aufgeblasen hat sich Kahn schon immer, erst nur im Strafraum, noch hoch konzentriert, später jedoch als Werbefigur, als King Kahn, der in Fernsehspots faucht wie eine angriffsstarre Raubkatze vor dem Sprung.“

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