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Lallende Folterknechte

Oliver Fritsch | Donnerstag, 17. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Lallende Folterknechte

Francesco Totti gibt eine Speichelprobe seines Könnens ab (FAZ) – Die tägliche Fanberichterstattung ist der absolute Tiefpunkt der Fußballberichterstattung (SZ) u. v. m.

Roland Zorn (FAZ 18.6.) lobt die UEFA-Schiedsrichter: „Der 23. Mann gehört regelmäßig zu den besten Akteuren auf dem Platz. Es zahlt sich aus, daß die UEFA ausschließlich auf Unparteiische baut, die allerhöchstes Champions-League-Niveau gewöhnt sind. Anders als bei der vergangenen Weltmeisterschaft in Korea und Japan, bei der Schiedsrichter-Skandale eine unrühmliche Nebenrolle spielten, sind bei den 31 Begegnungen nur zwölf Gespanne im Einsatz – in Fernost waren 36 Referees erste Wahl, ausgesucht nach Proporz und nach kontinentalen Gesichtspunkten, flankiert von Assistenten, die ihnen im Schiedsrichteralltag nicht zur Seite standen. Wer in Portugal pfeift, ist international herumgekommen und bekannt. Außerdem verfolgt die UEFA im Umgang mit den Referees eine erfreulich liberale Grundhaltung, nach der im Zweifel eine nicht über die Maßen sture Regelauslegung möglich ist. Daß zum Beispiel der Kaiserslauterer Zahnarzt Merk beim Elfmeter für Frankreich in allerletzter Minute nicht auch noch den englischen Torwart James – er hatte Henry im Strafraum gefoult – vom Platz schickte, war vollkommen verständlich. Die Engländer waren gestraft genug, mochte die Regelvermutung auch noch eine Rote Karte für den Torwart hergeben. Auch daß Merks schwedischer Kollege Frisk den unabsichtlichen Tritt des Holländers Stam ins Gesicht seines deutschen Kollegen Kuranyi nicht mit Elfmeter – was möglich gewesen wäre – ahndete, war nachvollziehbar. Je souveräner die stärksten Schiedsrichter ihr Spiel leiten dürfen, um so erfreulicher für das Klima auf dem Rasen.“

Speichelprobe seines Könnens

Francesco Totti schreibt seine Geschichte fort, Dirk Schümer (FAZ/Feuilleton 18.6.) rezensiert: „In Italien, wo der Idiot traditionellerweise den besseren Volkshelden abgibt als eine langweilige Lichtgestalt, suchte man sich für die volkstümliche Verspottung von Dummheit und Begriffsstutzigkeit nicht grundlos das Milieu der Fußballmillionäre aus. Und unter denen dann wieder den sportlich strahlendsten und erfolgreichsten. Das mag für deutsche Ohren merkwürdig klingen, weil man sich bei uns an die Heroisierung eines Torhüters mit latenter Lachmuskelverkümmerung hat gewöhnen müssen. „Der Deutsche kämpft“, hat der haarscharf an der Witzfigur vorbeigeschrammte Berti Vogts ein für allemal die sportlichen Tugenden seines Landes festgeschrieben. Der Italiener dagegen schont sich lieber, wie gegen Dänemark vorgeführt, und übt sich in der Kunst, die anderen zum Lachen zu bringen. Totti hat das zumindest auf seine derbe Art probiert. Statt die Ärmel aufzukrempeln und in die Hände zu spucken, nutzte unser Witzbold die Partie erst zu einem so medienwirksamen wie lukrativen Lancieren eines neuen Schuhmodells und rotzte danach seinem dänischen Gegenspieler ins Gesicht und katapultierte sich erst mal aus dem Turnier. Durch diese Speichelprobe seines Könnens hat der Erfolgsautor für die Literaturgeschichte bewiesen, daß die Verhohnepipelungen seiner Dummheit nicht unbedingt auf souveräner Selbstironie beruhen, sondern einen wahren Kern haben könnten. Wer sich derart zur tumben Commedia-Figur mit notorisch feuchter Aussprache macht, gilt zu Recht als nationaler Meister „in unserer perversen Genialität, sich selber das Leben schwerzumachen“ – wie der fußballverrückte Schriftsteller Beppe Severgnini den Lama-Skandal in patriotischer Zerknirschung kommentierte. Statt aber darob Rotz und Wasser zu heulen, haben die Italiener gestern sogleich eifrig neue Totti-Witze erfunden, mit denen unser Held bald einen dritten Band seiner Serie füllen kann: Totti, der mit seiner neuen Rastafrisur à la Bob Marley auch dasselbe Kraut raucht wie die vernebelten Reggaefreunde. Totti, der seine nagelneuen Schuhe verfehlt, die er mit etwas Spucke aufpolieren möchte. Mit Geduld und Spucke kann Totti, wenn er so weitermacht, irgendwann noch Dantes „Göttlicher Komödie“ den Rang ablaufen.“

Gerd Schneider (FAZ 18.6.) ruft: „Aus Moskau erreicht uns eine Meldung, die den Sportjournalismus revolutionieren könnte. Da die Partie zwischen Rußland und Portugal erst um 1.00 Uhr Ortszeit und damit weit nach Redaktionsschluß zu Ende war, erschien die Zeitung „Iswestija“ am nächsten Morgen kurzerhand mit zwei Spielberichten. Die Leser wurden aufgefordert, nur den „richtigen“ zur Kenntnis zu nehmen. Der eine Bericht war überschrieben mit: „Das Glück war so nah, aber es ist nicht gekommen“, die andere Schlagzeile lautete: „Es geschehen noch Wunder“.“

Bist du für England?

Web (NZZ 18.6.) Fußballabend in der Schweizer Botschaft: „«Hinter uns sind welche für die Franzosen.» Die Nachbarin raunt es entsetzt ins Ohr, als hätte sie den Kollegen bei einer ausserehelichen Affäre ertappt. Wie das? «Sie reden französisch.» Das ist im Londoner Westend nichts Besonderes, die Stadt ist voller Fremder – auch aus Frankreich. Doch während eines Spiels zwischen Frankreich und England haben frankophone Laute im Pub nichts zu tönen. «Bist du für England?», wurde ich denn auch gefragt, bevor ich mitgehen durfte. Und nun soll ich öffentlich «Hopp Schwiiz» schreien? Ein riskantes Unterfangen, zumal der Nation Herz noch immer blutet ob jener unseligen neunzigsten Minute. Helvetischer Patriotismus dürfte in London während der Partie zwischen England und der Schweiz kaum auf offene Ohren stossen, eher wohl: auf Ärger oder auf Spott oder auf beides. Man lebt ihn darum mit Vorteil in sicheren Wänden. Und wo ist das Ausland sicherer als auf der Schweizer Botschaft? Bruno Spinner, Botschafter in London, bietet Asyl für Schweizer Fans und mehr – zum (Freundschafts-)Spiel mit Wienerli und Thomy-Senf. Auf Grossleinwand wird Schweizer Fernsehen übertragen, föderalistisch abwechselnd mit deutschem, französischem und italienischem Kommentar. Auf der andern Seite des Saals ist auf ITV geschaltet für die englischen unter den 180 Zuschauerinnen und Zuschauern. Beide Gruppen stehen (und sitzen) gewissermassen Rücken an Rücken ihrer Mannschaft zugewandt.“

Hübsch anzusehen, stehen die Italiener für nichts

Thomas Kistner (SZ 18.6.) würde den Italienern keine Träne nachweinen: „Nimmt man das bisherige Auftreten der geckenhaft gestylten, taktisch aber ins Cattenaccio-Mittelalter zurückgefallenen Kicker, wäre ihr Ausscheiden kein zu herber Verlust. Himmelblaue Superdiven, Haarbändchen und goldene Rückennummern sind perfekte Insignien aus Berlusconi-Land: Hübsch anzusehen, stehen sie für nichts. Totti ist auch Opfer eines immer besinnungsloseren nationalen Überschwangs – insofern könnte es aber noch mehr Ausraster geben bei dieser EM. Die Grenze zwischen Emphase und Hysterie ist ja fließend, und der Fußball durchläuft keine gesunde Entwicklung. Auch nicht hierzulande, wenn schon nach dem Auftaktspiel der Innenminister jubelnd in die Umkleide stürmt. Überstehen Rudis Jungs die Vorrunde, wird das vielleicht schon zum neuen deutschen Wirtschaftswunder erklärt. Und mit Entzug der Bürgerrechte bestraft, wer noch Skepsis am Finalsieg hegt.“

Pfui! Und noch mal pfui

Jürgen Ahäuser (FR 18.6.) rümpft die Nase über Tottis Spuck-Attake: „Tief reinziehen in die Gurgel, dabei werden anscheinend auch nicht unbeträchtliche Hirnmassen hinabgezogen, und raus mit dem Grünzeug. Im bestanzunehmenden Fall landet das Glibber-Geschoss auf dem Rasen, schlimmstenfalls im Gesicht des Gegners. Ein zutiefst machistisches Gehabe, denn der Kontrahent soll demonstrativ gedemütigt, ja erniedrigt werden. Bei Francesco Totti kam zu den entwicklungsgeschichtlichen Aspekten noch ein ganz banaler, menschlicher hinzu. Der Macho war gekränkt. Der ganze Frust aus Blutblasen an den Füßen und einer insgesamt blutleeren Vorstellung des EM-Mitfavoriten Italien entlud sich in Ekel erregender Weise im Gesicht des Dänen Christian Poulsen. Pfui! Und noch mal pfui!“

Je lauter einer vor den Kameras herumschreit, desto größer ist seine Chance, ins Fernsehen zu kommen

Benjamin Henrichs (SZ/Medien 18.6.) schüttelt den Kopf: „Die tägliche Fanberichterstattung ist der absolute Tiefpunkt der Fußballberichterstattung. Alle zwanzig Minuten sieht man grölende Deutsche beim Absingen des Liedes: „Schade, Holland, alles ist vorbei.“ Dem folgt notwendigerweise der Blick zum Gegner, also kommt jetzt der Programmpunkt: Grölende Holländer beim Absingen des Liedes „Schade, Deutschland, alles ist vorbei!“ Die wie im rhetorischen Vollrausch schwadronierenden Experten sind die Quälgeister des Fußballfernsehens, die im Echtrausch lallenden Fans sind seine gemeinen Folterknechte. Eine Europameisterschaft ganz eigener Art findet da statt: Je lauter einer vor den Kameras herumschreit, desto größer ist seine Chance, ins Fernsehen zu kommen, also unsterblich zu werden, wenn auch auf zweifelhafte Weise. Aber plötzlich, mitten im Gebrüll und Bildermüll, kommt es zu tatsächlich unvergesslichen Szenen. Frankreich gegen England, das Spiel ist vorbei. Eine herbe britische Dame, um ein Statement gebeten, sagt nur: „Wer so viel Geld verdient wie Beckham, darf keinen Elfmeter verschießen!“ Man ist noch ganz schockiert über so viel Herzlosigkeit, so viel soziale Kälte gegen Spitzenverdiener, als schon der nächste Auftritt beginnt. Ein dicker Brite taumelt vor die Kamera. Er denkt jetzt an Englands letzten Fußballtriumph (1966), und dann entfahren ihm die zugleich geflügelten und niederschmetternden Worte: „Achtunddreißig Jahre nichts als Schmerz – ich kann nicht mehr!“ Der zu Tode betrübte dicke Mann trägt eine Art Narrenkostüm und hat sich das Gesicht bunt und wild bemalt. Das absolut Kindische seiner Erscheinung und das absolut Tragische seiner Rede ergeben zusammen eine unwiderstehliche, man muss jetzt einfach sagen: shakespearehafte Gewalt. Dann geht er weg – und nimmer kehrt er wieder.“

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