Ball und Buchstabe
Damals die Seefahrer, heute die Fußballer
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| Freitag, 18. Juni 2004Die Portugiesen begreifen sich vielleicht ein bisschen als zu kurz gekommen (SZ)
Die Trikots hier erzählen von Armut, aber auch von Leidenschaft
Holger Gertz (SZ/Seite 3 18.6.) denkt bei Portugal an alte Männer, das Meer und auswandern: „Vielleicht ist es wirklich so, dass die Fußballer eines Landes so spielen, wie der Charakter des Landes ist. Die EM, so wie sie bis jetzt läuft, unterstützt diese Theorie. Die Deutschen konzentriert und fit, wenn es drauf ankommt; die Russen noch ein bisschen ungeordnet; die Franzosen künstlerisch wertvoll; die Engländer unermüdlich; die Spanier entschlossen, den Anschluss zu finden an die Großen in Europa. Die Portugiesen? Sie singen den Fado, sie trauern irgendwem, irgendwas hinterher, kolonialer Größe vielleicht, verlorener Zeit in der Diktatur, den großen Tagen der Seefahrer. Es klingt klischeehaft, aber im Klischee steckt manchmal auch ein bisschen Wahrheit. „Die Portugiesen begreifen sich vielleicht ein bisschen als zu kurz gekommen“, hatte am Tag vor diesem wichtigen Spiel Guilherme Dutschke gesagt, ein portugiesischer Maler mit deutschen Vorfahren, der – ein Nebenjob – in der Bibliothek des Goethe-Instituts in Lissabon arbeitet. Dutschke, nicht verwandt mit dem berühmten Dutschke, jedenfalls hat er das nie so nachgeprüft, saß in der Caféteria, ließ sich viel Zeit für jeden Gedanken. Ein nachdenklicher Mann, 38 Jahre alt, hager, dunkel gekleidet. Er fand diese ganzen Attribute natürlich auch zu platt irgendwie, aber was will man machen? Wen man fragt, alle sagen, dass der Portugiese sehr viel nachdenkt über das Leben. „Wie das kommt, das ist eine andere Frage“, sagte Dutschke, übersetzte seinen Vornamen ins Deutsche – Wilhelm – und sprach über das Meer. Dass man das nicht unterschätzen sollte, das Meer. Wie es einen hinauszieht, wie es einen beruhigt, einerseits, und andererseits macht es einen sentimental – und es macht einem, kraft seiner Größe, auch die eigenen Winzigkeit bewusst. Er hat mal drei Jahre in Berlin gelebt, aber dann musste er zurück nach Portugal, ans Meer. In Lissabon ist das Meer tatsächlich überall, sogar dort, wo man es nicht vermutet. Auf den Mülltonnen am Straßenrand, bedruckt mit einem Schiff. Die Metro der linha azul von Amadora Este nach Baixa-Chiado trägt als Signet eine Möwe, die linha verde von Cais do Sodre nach Telheiras ein Segelschiff. Wenn man ständig der eigenen Kleinheit gewahr wird und in einem Land lebt, in dem Fußballarenen Märchennamen tragen wie „Stadion des Lichts“ oder „Drachenstadion“ – wird man dann je so groß und stark und abgezockt, um auf dem Fußballplatz etwas reißen zu können? So sagt man es doch, unter Fußballern: Wir wollen was reißen. Man sagt nicht: Wir wollen die anderen verzaubern. In Alberto Gouveias Lokal, das zur Hälfte Rui Costa gehört, liegt das alles im Dunkeln, die Zukunft, die vielen Fragen. Stromausfall, zum Zweiten. Auftritt des Taschenlampenmanns. Die anderen johlen, als das Licht wieder brennt. Jemand holt aus einer Plastiktüte eine portugiesische Flagge und legt sich auf den Fernseher, damit der nicht mehr ausgeht. Alle haben diese Flaggen, im Supermarkt continente gibt es sie, und sie kosten nur einen Euro. Die Trikots der Nationalmannschaft kosten sechzig, unerschwinglich viel für die, die im Clube do Frango sitzen. Männer, die wie alte Eulen aussehen mit dicken Brillen, die man in Deutschland früher Kassengestell nannte. Mädchen, die sich ein rot-grünes Trikot selbst zusammengenäht haben, mit einer Nummer hinten drauf. Die Stadien drüben, für die EM neu gebaut oder restauriert, sehen wie große Schmuckkästen aus und erzählen vom Willen zu Größe und Erfolg, die Trikots hier erzählen von Armut, aber auch von Leidenschaft. Für Rui Costa. Für dessen Kunst des Zauderns. Auf den meisten, die eine Nummer haben, steht die 10. Portugal drückt, Portugal stürmt, dann ist eine Stunde um, und Simão geht raus. Für ihn kommt Rui Costa. Die Bar ist wie ein kleines Stadion jetzt, hinten bauscht sich eine Ola auf, die Welle. Dann geht Figo raus, abgekämpft, fertig. Es streift sein Kapitänsband vom Arm und übergibt es Rui Costa. Er ist jetzt der letzte aus der Goldenen Generation, er ist Mannschaftsführer. (…) Dieses Lokal ist ein Ausschnitt Portugals, hundert Leute, die sich stellvertretend für viele wünschen, ihre Jungs möchten mal irgendwas schaffen. Ob das dann irgendwas bedeutet für den Rest des Lebens, ist erst mal egal. Fußball ist eine schöne Metapher, die Mannschaft auf dem Bildschirm ist auch eine Metapher – für den Umbruch. Die goldene Generation wird allmählich abgelöst von der jungen Generation, von Spielern wie Christiano Ronaldo, die in Interviews weniger melancholisch wirken. Die früh ins Ausland gehen, früher als die anderen, und die portugiesischen Trainer gehen auch ins Ausland. Damals die Seefahrer, heute die Fußballer, alle gehen. Vielleicht bringt das was für die Nationalelf, weil man auswärts lernen kann, was der Selecção, der Auswahl, noch fehlt.“