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Der Ball im Tor, Grosics am Boden

Oliver Fritsch | Freitag, 18. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Der Ball im Tor, Grosics am Boden

„ein halbes Jahrhundert hat nicht gereicht, um Gyula Grosics mit seinem Schicksal zu versöhnen“ (FAZ) – „bisher ist noch kein Favorit auf den EM-Titel zu erkennen“ (NZZ) u. v. m.

Der Ball im Tor, Grosics am Boden

Sehr lesenswert! Fußball ist doch nicht nur ein Spiel. Michael Horeni (FAZ 19.6.): „Ein halbes Jahrhundert hat nicht gereicht, um Gyula Grosics mit seinem Schicksal zu versöhnen. Das verlorene Endspiel verfolgt den ehemaligen Torwart noch immer jeden Tag und jede Nacht. Er träume immer wieder davon, sagt Grosics, aber auch im Traum habe Ungarn das Finale noch nie gewonnen. Der Fußball wurde von der Politik überwölbt, vom Kalten Krieg. Das kommunistische Land wollte mit dem Fußball seine überlegene Ordnung demonstrieren, und das sollte Grosics zum Verhängnis werden. Aber davon wußte er am Tag des Endspiels, dem 4. Juli 1954, nichts. Er ahnte nicht, was eine Niederlage gegen Deutschland bedeuten könnte, für Ungarn und für ihn. Die Spieler hatten darüber nicht nachgedacht, waren völlig unvorbereitet. Grosics und seine Kameraden befanden sich damals auf den sportlichen Gipfeln der Zeit. Die Fallhöhe war beträchtlich. Als die Ungarn im Endspiel nach neun Minuten 2:0 führten, fühlten sie sich schon wie Weltmeister. Danach begann der Absturz, kamen Trauer und Verfolgung, Wut und Angst. Für Deutsche, die dieses Spiel vor fünfzig Jahren in Bern ja als Feiertag sehen, ist das Leid der Ungarn kaum zu ermessen. Es wird ein langer Tag für Gyula Grosics, und es ist einer von diesen Tagen, die ihm zusetzen. Der Siebenundsiebzigjährige weiß das schon morgens gegen neun Uhr, als er zum Empfang beim rheinland-pfälzischen Fußballverband eintrifft. Er wird wieder leiden. Wie immer an diesen Tagen. Die Last, die er seit fünfzig Jahren mit sich herumträgt, ist jedoch nur von denen zu erahnen, die seine Geschichte kennen. Grosics wird freundlich begrüßt, aber mehr als ein dünnes Lächeln bringt er nicht zustande. Er bemüht sich angestrengt um Freundlichkeit. Aber er wirkt in sich gekehrt und einer Welt verhaftet, zu der andere keinen Zugang haben. Er wird an diesem langen Tag nicht mehr lächeln. Es ist noch früh im Jahr, und die Jubiläumsfeierlichkeiten fünfzig Jahre nach dem Endspiel von Bern sind in Deutschland gerade erst angelaufen. Die Deutschen nutzen gerne die Gelegenheit, um sich ihrer Wunder-Fähigkeit und ihrer Helden zu vergewissern. Seit einigen Jahren bleiben sie bei dieser Gelegenheit nicht mehr nur unter sich, sie laden auch die Gegner von einst hinzu. (…) Auf der Rückreise nach Budapest ereilte die Wundermannschaft der entfesselte Zorn des Volkes. Zehntausende waren nach dem Finale randalierend durch die Straßen gezogen. Sie warfen Straßenbahnen um, Schaufenster gingen zu Bruch, und aus den Auslagen wurden die Bilder der Mannschaft geholt und auf das Pflaster geworfen, sie verwüsteten die Wohnung des kommunistischen Nationaltrainers Gusztáv Sebes. „Er sagte uns oft, daß der Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus auf dem Platz stattfindet“, sagt Grosics. (…) Es dauerte noch ein halbes Jahr, bis die Welt von Grosics einstürzen sollte. Im Dezember begann „die schlimmste Zeit meines Lebens“, wie der Torwart erzählt. Er wird angeklagt wegen Landesverrats. Ihm wird der Prozeß gemacht, der über ein Jahr dauert und mit einem Freispruch aus Mangel an Beweisen endet. „Ich blieb aber unter Bewachung“, sagt Grosics. Die Demütigungen gehen weiter. Er wird aus der Nationalmannschaft verbannt, und dann muß er Honved Budapest verlassen. Die Regierung ordnet die Strafversetzung nach Tatabanya an. „Tatabanya war ein Nichts“, sagt Grosics. Dort muß er bis zum Ende seiner Karriere bleiben, auch sein Vater verliert seinen Arbeitsplatz. „Wir wurden alle bestraft.“ Zwei Jahre später, als die Sowjets den ungarischen Freiheitskampf niedergeschlagen haben, bietet das Leben Grosics plötzlich eine neue Chance. Honved Budapest ist auf Tour durch Europa, und der Manager ruft ihn im November 1956 an, weil sie einen Torwart brauchen. Er spielt unmittelbar nach seiner Ankunft gegen den FC Barcelona, dann geht die lange Reise weiter, und sie führt die Mannschaft zwei Monate später nach Brasilien. „Da habe ich ein Angebot von Flamengo Rio de Janeiro bekommen“, sagt Grosics, und er scheint sich immer noch über sich selbst zu wundern, weshalb er die Möglichkeit und das viele Geld ausschlug. Puskas, Czibor und Kosics blieben im Westen und machten ein Vermögen. Grosics kehrt nach mehr als sechs Monaten zurück nach Ungarn. Hinter der Grenze erwartet ihn ein Albtraum. „Sie haben mich erwartet“, sagt Grosics. Er muß in einen Gefängniswagen steigen, der von Menschen umlagert ist. Die Staatssicherheit kündigt ein dreitägiges Verhör an, seine Kinder weinen vor Angst. Eineinhalb Stunden wird Grosics festgehalten. Einer der Kommandeure ist ein Freund aus seiner Kindheit. Grosiscs kann es kaum glauben. Das ist die Rettung. Grosics kann nur noch schwer sprechen, Tränen füllen seine Augen. Ob er froh ist, wenn die Vergangenheit nach dem Jubiläum nun nicht mehr ständig hervorgeholt wird? Gyula Grosics wendet sich ab und sagt: „Ich werde in meinem ganzen Leben nicht mehr froh.““

Wie Puskas, Kocsis und Hidegkuti spielten, so sprach Szepesi: begeisternd und feurig

Rudi Michel (FAZ 19.6.) erinnert sich an Ungarns 12. Mann, den Radioreporter György Szepesi: „In Ungarn übertrifft die anhaltende Popularität des György Szepesi noch den Bekanntheitsgrad des Herbert Zimmermann in Deutschland. Sie nannten ihn die „Stimme Ungarns“, und sie sprechen immer noch über seine mitreißenden Radioreportagen bei 14 Olympischen Spielen und zwölf Fußball-Weltmeisterschaften zu einer Zeit, als wir die Ungarn die „europäischen Brasilianer“ nannten. Selbstverständlich hat er alle siegreichen Spiele der „Gold-Mannschaft“ in den fünfziger Jahren übertragen – aber auch die Niederlage von Bern. Der 4. Juli 1954, der für Herbert Zimmermann zum Freudenfest wurde, bleibt für ihn ein Trauertag. Das 2:3 seiner Freunde im WM-Finale kann der Mann aus Budapest nicht verdrängen, nicht vergessen. (…) Ein trauriger Held war aus ihm geworden, den ich bei meiner ersten Begegnung als strahlenden Triumphator erlebt hatte: in London am 25. November 1953 beim unvergessenen 6:3-Sieg über England. Rundfunkreporter saßen damals in Wembley dicht nebeneinander, völlig frei, ohne Kabine, kurz vor den Zuschauerrängen. Wie Puskas, Kocsis und Hidegkuti spielten, so sprach Szepesi: begeisternd und feurig, wie es ihm die Heimat in die Wiege gelegt hatte. Ohne ein Wort seiner Reportage zu verstehen, glaubte ich, das Spiel zweimal zu erleben: mit den Augen in Wembley, mit den Ohren in Budapest. Ich selbst hatte nur die letzten 15 Minuten zu schildern, aber bis dahin hatte mich Szepesi restlos aus dem Konzept gebracht. Ich war wie berauscht, aber ich konnte begreifen, was er in Budapest ausgelöst hatte. (…) Szepesi, der seine Berufskarriere 1946 im Zeitungswesen startete, war ein Allround-Radioreporter. Während des Volksaufstandes 1956 in Budapest holten sie ihn ins Haus des Rundfunks, um die Menschen in der Stadt mit Bitten und Rufen zu beruhigen und zu besänftigen. Später war er von 1975 bis 1978 Radiokorrespondent in Bonn. Nicht zuletzt aufgrund seiner internationalen Erfahrung wurde Szepesi Präsident des ungarischen Fußballverbandes, heute ist er Ehrenpräsident. Von 1982 bis 1984 war er Mitglied im Exekutivkomitee des Internationalen Fußball-Verbandes (FIFA) – und bleibt FIFA-Ehrenmitglied auf Lebenszeit. Die Ehrungen und Auszeichnungen für seine Publikationen sind Legende.“

Hat schon mal jemand gehört, dass britische Hooligans einen 50-km-Skilanglauf aufgemischt haben?

Matti Lieske (taz 19.6.) fordert einen neuen Fußballkalender: „Warum müssen diese großen Turniere eigentlich immer im Sommer stattfinden? Eine ungünstigere Zeit kann man sich doch kaum vorstellen, zumal wenn in einem südlichen Land wie Portugal gespielt wird. Hier jetzt Fußball zu veranstalten ist mindestens genauso verrückt wie, so hat es John McEnroe mal gesagt, Ende Juni ein Tennisturnier in London abzuhalten, wo es den ganzen Tag Bindfäden, junge Hunde, kleine Kinder und Erdbeeren regnet. Oder ein Radrennen in Frankreich im Juli. Aber die Tour de France wurde ja immerhin von Sadisten erfunden und wird von Masochisten bestritten. Und auf dieser Basis der Freiwilligkeit ist so etwas in unserer heutigen aufgeschlossenen Gesellschaft ja in Ordnung. Fußballspieler aber sind in erster Linie Memmen, die bei jedem kleinen Stupser in wildes Geheul ausbrechen, vor Schreck zu spucken anfangen, wenn ihnen jemand zu nahe tritt, ständig über die furchtbare Belastung klagen, der sie unterworfen sind – mehr als sechzig Spiele pro Saison, boah! –, und überhaupt ziemlich unglücklich sind, wenn sie nicht gerade vor ihrer Playstation sitzen und dort büffeln, wie man richtig Fußball spielt. Müsste der Fußballprofi das Tagewerk eines Radfahrers verrichten, würde er alle zwei Kilometer vom Drahtesel purzeln, mit einer Trage an den Rand gebracht und dort vom Doktor Müller-Wohlfahrt behandelt. (…) Negative Effekte hat das Wetter aber nicht nur auf die Spiele, sondern auch auf die Fans. Jeder weiß doch, was passiert, wenn man Engländer im Sommer nach Albufeira schickt: Sie laufen sofort rot an, und ihr Blutdruck steigt auf zwei Promille. Im norwegischen Winter zum Beispiel wäre das ganz anders. Im Fellmantel, mit Pudelmütze, Schal und Fausthandschuhen randaliert sichs nämlich erheblich schlechter als mit nacktem Oberkörper und blankem Glatzkopf. Oder hat schon mal jemand gehört, dass britische Hooligans einen 50-km-Skilanglauf aufgemischt haben? Wäre außerdem völlig sinnlos, denn man würde ja im Fernsehen gar nicht die schönen Tätowierungen sehen, wenn die Polizei einen abführt. Höchste Zeit also, dass der Fußballkalender komplett umgestaltet wird. Alle kontinentalen Meisterschaften finden im Januar statt, wie das die Afrikaner schon vorbildlich antizipiert haben, danach gibt es im Februar, wenn es überall ziemlich grässlich ist, ein paar Wochen Urlaub, der Sommer wird in den Ligen durchgespielt, und zwar abends. Mit Wassersponsor, versteht sich.“

Alles offen, Felix Reidhaar (NZZ 19.6.): „In Portugal läuft die zweite Hälfte der Gruppenphase, und die XII. Fussball-Europameisterschaft hat bezüglich des Stärkeverhältnisses noch wenig verlässliche Aufschlüsse geliefert. So fällt es schwer, einen Favoriten zu benennen, der nachhaltig Eindruck gemacht hat. Sowohl der Titelhalter aus Frankreich als auch die von Fachleuten als stark eingeschätzten Italiener, genauso wie die Tschechen und die Niederländer, sind zum Turnierstart ihren selber formulierten Ansprüchen gerecht geworden.“

Die NZZ (Medien und Informatik 18.6.) wendet sich ab vom Fußball-Feuilleton: „Wenn indessen fussballerische Grossereignisse anstehen, scheint der Schlachtenlärm plötzlich klangreicher und reizvoller zu werden. Die Fabulierlust erwacht, das politisch-korrekte Über-Ich meldet sich ab, das sonst unbedacht Geäusserte wird bewusst gedrechselt. Unter dem Patronat des Fussballs ist der Nationalkrieg wieder salonfähig. Historisch tiefsinnig schreibt die „Weltwoche“ gar vom „dreissigjährigen Krieg“. Der „Bericht von der Fussballfront“ handelt von den Spielen zwischen Deutschland und Holland seit 1974. Als Folterknecht tritt der Verband Schweizer Presse auf, der in einer Werbung für die Vorzüge von Inseraten Nägel und Schrauben in die Beine des englischen Fussballers David Beckham rammt. Selbstquälerisch gibt sich hingegen der „Blick“, der vor einer Woche meinte: „Kroaten machen aus uns Cevapcici.“ Schlechte Propheten! Bereits in die journalistische Weltliteratur eingegangen ist eine Schlagzeile der Bild-Zeitung vor einem WM-Spiel gegen Saudiarabien: „Rudi hau di Saudi!“ Doch die Boulevard-Experten denken einfach zu simpel. Sie sollten einmal die Kollegen der nobleren Presse konsultieren. Denn pünktlich zum grossen Anpfiff kommt vor allem der deutsche Feuilletonist ins Grübeln. Die „Welt“ erkennt, dass in „Harry Potter und der Feuerkelch“ das Endspiel der Weltmeisterschaft erschöpfend beschrieben wird, und schliesst daraus, dass alles ein bisschen anders ist, als sich Novalis das erträumt hat: „Zahlen und Figuren sind Schlüssel aller Kreaturen. Auch darin liegt die tröstliche Schönheit der europäischen Kultur.“ Aha. Die „Süddeutsche Zeitung“ stellt erschrocken fest, dass niemand, der in den Print- und Fernsehmedien herumzappt, so genau weiss, welcher Disziplin der Fussball überhaupt angehört. Und, mit Feuilleton-konformer Ironie: Es zeige sich mittlerweile klar, dass das Wesen des Fussballs in der Weite von Kultur und Mythos verborgen liege. Auf der anschliessenden Wissens-Seite muss ein Religionssoziologe Auskunft geben: „Kann der Rasen heilig sein?“ Der Experte weiss tatsächlich Rat: „Fussball und Kirche sind schon seit eh und je eng verbunden.“ “

Alex Rühle (SZ 19.6.) empfiehlt Netzers Autobiografie: „Dass jetzt auch noch Günter Netzer meint, uns seine Lebensgeschichte erzählen zu müssen, nehmen wir ihm fast schon übel. Es weiß doch so schon kein Mensch, wie das momentan zu schaffen sein soll: zwei Spiele am Tag, plus Delling-Netzer oder Poschmann-Beckenbauer plus drei Seiten Sportteil am Frühstückstisch plus mittägliches Kantinenpalaver. Und dann noch spätnachts 265 Seiten ¸¸Aus der Tiefe des Raumes“. Anfang der Siebziger begannen Professoren und Studenten, in Günter Netzer und das Spiel der Mönchengladbacher Borussia all das hineinzuprojizieren, was ihnen im bundesrepublikanischen Alltag fehlte. Wer am Samstag Gladbach sah, brauchte am Montag nicht mehr Marcuse zu lesen. Netzers Pässe kamen plötzlich nicht mehr von der Mittellinie, sondern aus der Tiefe eines geistesgeschichtlich unendlichen, mit politischer Utopie aufgeladenen Raumes. Der Literaturkritiker Helmut Böttiger knüpfte vor einigen Jahren daran an, als er in seiner Netzer-Biographie ein rasantes Kurzpassspiel zwischen der frischen, frechen Spielanlage der jungen Borussia unter Weisweiler und den Verhältnissen unter Brandt, zwischen dem laxen Genie Netzer und der Aufbruchsstimmung jener Jahre aufzog. Dass der Ferrari-fahrender Diskothekenbesitzer und Womanizer nie der idealtypische Politkommunarde sein wollte, war ja eigentlich immer schon klar. Insofern ist es schön, dass es nun Netzers Autobiographie gibt und er uns selber sagen kann, was es mit seinen Haaren und seinen Pässen damals auf sich hatte. Der Journalist Helmut Schümann hat ihm den Stift geführt, herausgekommen ist ein erfrischend unprätentiöses Buch, das alles Geraune über Netzer als Marcuse des Fußballs ins Leere laufen lässt.“

Besprochenes Buch:
Aus der Tiefe des Raumes. Von Günter Netzer und Helmut Schümann. Reinbek, 288 S., 19,90€.

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