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König ohne Entourage

Oliver Fritsch | Freitag, 18. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für König ohne Entourage

Luis Figo wurde gegen Russland zu einem König ohne Entourage (SZ) / Luis Figo grantelt wie ein älterer Herr, der seine Parkbank besetzt vorfindet (taz) – Frankreich ist keine Übermannschaft (NZZ) – Die Schweizer fühlten sich vom Referee Iwanow um eine gute Leistung betrogen (NZZ) u. v. m.

Portugal-Russland 2:0

Gibt es einen Umsturz in der portugiesischen Nationalelf?

Christoph Biermann (SZ 18.6.): „Es war ein ganz anderes Portugal als im Eröffnungsspiel, das die Russen mit 2:0 geschlagen und den Fluchtweg ins Viertelfinale offen gehalten hatte. „Scolari inszenierte eine Perestroika und brachte die Mannschaft des Volkes“, schrieb das Jornal de Notícias. Fünf Profis des FC Porto hatte Nationalcoach Felipe Scolari aufgeboten, und Schwungrad im Mittelfeld des neuen FC Portogal war Deco, der auch den ersten Treffer vorbereitet hatte. Das Tor wurde erzielt von Maniche, seinem Mannschaftskameraden beim diesjährigen Gewinner der Champions League FC Porto. Die Perestroika hatte jedoch revolutionäre Züge, selbst wenn Figo nicht gestürzt wurde. Aber mit der Partie gegen Russland wurde er zu einem König ohne Entourage, weil eine neue Generation die Herrschaft im Team übernahm. (…) Als die Partie gegen Russland angepfiffen wurde, stand nur noch Figo allein auf dem Platz. Dass Deco für Rui Costa im Mittelfeld die Regie führte, war vielleicht noch zu erwarten gewesen, weil der gebürtige Brasilianer ihn schon zur Halbzeit der Eröffnungspartie abgelöst hatte. Dass Scolari jedoch auch Abwehrchef Couto auf die Bank setzte, bedeutete einen Umsturz. Zudem wurde Figo eine neue Rolle zugewiesen, die ihm mehr Arbeit auf dem Flügel zuwies und der Regie im Mittelfeld weitgehend enthob. „Es waren nur Spielerwechsel“, sagte Scolari und wollte von einer Revolution nichts wissen. Fragen danach blockte er ab, bevor sie zu Ende gestellt waren. Das zeigt auch, was für ein geschickter Taktiker dieser Gorbatschow des Trainerwesens ist. Scolari hatte es 2002 geschafft, die schwierige brasilianische Nationalelf bei Laune zu halten und zum WM-Sieg zu führen. Es erschien eher wie eine politische Entscheidung, dass er Costa eine knappe halbe Stunde vor Schluss einwechselte. Der Degradierte erzielte das erlösende 2:0 für ein zittriges portugiesisches Team, was man wohl Glück des Taktikers nennen muss.“

Figo grantelt wie ein älterer Herr, der seine Parkbank besetzt vorfindet

Matti Lieske (taz 18.6.) beschreibt die Hierarchie bei den Portugiesen: „Diese Wechsel haben es jedoch in sich. Das Gerüst des Teams bilden jetzt die Champions-League-Gewinner vom FC Porto, die Scolari im Vorfeld der EM noch gern gemieden hatte. Dafür flogen nach dem Auftaktschock gegen Griechenland mit Rui Costa und Couto zwei der drei verbliebenen Veteranen aus der Anfangsformation, übrig blieb allein Luis Figo, der wacker um seine führende Position im Team kämpft. Fast spannender als die sehr wohl spannende Partie gegen die Russen war die Interaktion zwischen Deco, dem neuen Bestimmer im Mittelfeld, den Porto-Akteuren und dem mit 31 Jahren noch gar nicht so alten Kapitän. Schließlich hatte Figo heftig gegen die Berufung des gebürtigen Brasilianers Deco in den Kader polemisiert, weil der kein echter Portugiese sei. Wenn er wolle, stelle er einen Chinesen auf, hatte Scolari entgegnet. Bei jedem Freistoß, bei jedem Eckball, sogar beim Einwurf gibt es nun kleine Diskussionen zwischen den beiden; wenn Deco zu viele Bälle bekommt und er zu wenige, grantelt Figo wie ein älterer Herr, der seine gewohnte Parkbank besetzt vorfindet. Deco ist fast schon der neue Chef, aber bemüht, Figo einzubeziehen. Auch die anderen Porto-Spieler versuchen, den Star von Real Madrid bei Laune zu halten. Was Nuno Valente allerdings nicht hindert, Figo mit einer ungeduldigen Handbewegung nach vorne zu scheuchen, als der an der Mittellinie einen Freistoß ausführen will. Früher hätte es solche Majestätsbeleidigung nicht gegeben. In der 29. Minute dann ein seltenes Abklatschen zwischen Figo und Deco, ansonsten sind aufmunternde Gesten rar im portugiesischen Team, es überwiegen hektische Debatten über Positionierung und Genörgel über Fehlpässe. „Ich habe keine Auswahl, sondern eine Mannschaft“, beharrt Scolari immer wieder, in Wirklichkeit ist er davon weit entfernt. Die Mannschaft versucht vielmehr gerade auf dem Platz, sich zu finden und neue Hierarchien zu bilden – wenn Scolari Glück hat, klappt es noch bei diesem Turnier. Auch wenn es der Trainer nicht zugeben will, hat sich das System sehr wohl geändert. Statt des gepflegten Kurzpassspiels der Figo-Generation spielen die Porto-Leute den Porto-Fußball des von Scolari herzlich verabscheuten neuen Chelsea-Coaches José Mourinho. Mit Volldampf in der Abwehr, mit Volldampf nach vorn, meist über den großartigen Deco.“

Tilo Wagner (FR 18.6.) sieht dagegen harmonische Portugiesen: „Deco, der Mittelfeldregisseur, der aller Voraussicht nach in der nächsten Saison beim FC Chelsea spielen wird, bestritt, dass es im Nationalteam Spannungen mit den Spielern der „Goldenen Generation“ gegeben habe: „Ich habe großen Respekt vor Rui Costa oder Couto, die Portugal viel gegeben haben. Sie sind nicht die Alleinschuldigen für die Niederlage gegen Griechenland.“ Zu seinen Wechselabsichten meinte er: „Wir haben praktisch alle Fragen geklärt. Ich muss noch die medizinischen Untersuchungen machen.“ Nach der EM wolle er denVertrag unterzeichnen.““

Frankreich-Kroatien 2:2

Der Blick der „Bleus“ darf (noch) nicht nach Lissabon gleiten

Peter Birrer (NZZ 18.6.) betont, dass Frankreich keine Übermannschaft ist: „Die Statistik sprach für sich: Seit dem schmählichen Aus am 11. Juni 2002 anlässlich des World Cup in Südkorea liessen die Europameister fast gar nichts mehr anbrennen, in Wettbewerben schon gar nicht. Seit jenem denkwürdigen Nachmittag in Incheon hatten sie 14 Spiele gewonnen, deren 8 in der EM-Qualifikation, 5 anlässlich des Konföderationen-Cups und eines an der Euro 2004. Nicht abzusehen war zunächst, wann die Serie reissen könnte, obschon Frankreich auch gegen Kroatien keinen unverwundbaren Eindruck hinterliess und mit einem durchschnittlichen Pflichtprogramm den Erfolg suchte. Doch eines steht nach dem sechsten Endrunden-Tag fest: Incheon ist zwar vergessen, aber der Blick der «Bleus» darf (noch) nicht nach Lissabon gleiten, wo am 4. Juli das Endspiel stattfinden wird. Sind sie verwegen, wenn sie schon nach Lissabon schielen? (…)Die „Bleus“ sind keine Über-Fussballer, eines gilt auch für sie: Unschlagbarkeit gibt es nicht, lange Serie hin oder her. Das haben die Kroaten, die leistungsmässig ganz nahe bei den Schweizern liegen, allzu deutlich aufgezeigt. Zum grossen Problem für die SFV-Auswahl kann vielleicht nur werden, dass auch die Franzosen fortan nicht mehr mit angezogener Handbremse spielen können. Und vielleicht überlegen sie sich nochmals, wie gut denn ihr Startspiel gegen England wirklich war. Einmal abgesehen von den drei Minuten der Overtime.“

England-Schweiz 3:0

Florin Clalüna (NZZ 18.6.) und die Schweizer hadern mit dem Schiedsrichter: „Es dauerte nicht lange, und die Höflichkeit war der Erregung gewichen. Köbi Kuhn war kaum dazu gekommen, die Gratulationen an den Gegner zu richten und diplomatisch von der „erwartet starken Leistung der Engländer“ zu sprechen, als der Pressechef Pierre Benoit damit begann, ein Eigenleben zu entwickeln. Ungehalten ergänzte er die Aussagen des Trainers mit eigenen Bemerkungen. Kuhn hatte davon gesprochen, dass er gerne einmal ein Spiel zu elft beenden würde und damit die gelb-rote Karte gegen Bernt Haas in der 60. Minute angesprochen. Mehr Fingerspitzengefühl hätte er vom Schiedsrichter verlangt, sagte Kuhn. Und Benoit ergänzte: „Und ich möchte gerne einmal nicht zu zehnt gegen zwölf spielen. Kuhn hat das nicht gesagt. Aber ich sage das.“ Damit war der Unmut in Worte gefasst. Die Schweizer fühlten sich vom Referee Iwanow um eine gute Leistung betrogen und um den Lohn ihrer Arbeit gebracht. Dem entscheidenden zweiten Tor von Rooney sei ein klares Foul des eingewechselten Vassell an Müller vorausgegangen, beschwerte sich Kuhn. (…)Die Qualifikation für die besten acht Teams können die Schweizer mit grosser Wahrscheinlichkeit abschreiben. „Die Chancen sind jetzt nur noch gering“, sagte Kuhn.“

Griechenland-Spanien 1:1

Otan ego echo to apolito kodrol ime dikeos

Ronald Reng (taz 18.6.) beobachtet Otto Rehhagel auf dem Weg zum Trainer-Olymp: „Und dann sprach Otto Rehhagel auch noch Griechisch. Er war auf dem Weg zum abfahrbereiten Mannschaftsbus schon vorbei an den griechischen Sportjournalisten, die gar keine Fragen stellen, sondern nur seine Hand schütteln wollten. Otto Rehhagel lächelte nur und hastete weiter durch die überhitzten Katakomben des Estádio do Bessa in Porto, ehe er es sich anders überlegte. Abrupt blieb er stehen, schloss die Augen, wie er es immer macht, wenn er etwas Bedeutendes sagen will, ging die fünf Meter zu den Reportern zurück und sprach: „Otan ego echo to apolito kodrol ime dikeos.“ Wenn ich die absolute Kontrolle habe, haben wir Erfolg. Es sagt einiges über das Selbstwertgefühl des 65-jährigen Fußballtrainers, dass er diesen Satz wählte, um zu offenbaren, dass er im vierten Jahr als griechischer Nationaltrainer zumindest ein paar Brocken Griechisch beherrscht. Mit welcher diebischen Freude Rehhagel nach diesem Ein-Satz-Theaterstück davonzog, zeigte vor allem, wie sehr er solche Auftritte genießt. Er hört einfach nicht auf zu überraschen. Dreimal deutscher Meister mit Werder Bremen und Kaiserslautern, 1992 gar Europacupsieger der Pokalsieger mit Werder, schien Rehhagels Trainerkarriere mit dem neuen Jahrtausend zu Ende zu gehen, traurigerweise ohne dass sie gebührend gewürdigt wurde. Doch im Jahr vier seiner Karriere nach der Karriere ist er dabei, die achtziger Jahre noch einmal zu leben. (…) Spanien bot erneut eine Demonstration des schönen Spiels, mit technisch feinem, schnellem Angriffsfußball. Das Flügelspiel war Poesie in Bewegung, Rechtsaußen Joaquín Sánchez nahm die 25 500 Zuschauer gefangen mit seinen kraftvollen Dribblings. Doch all die Eleganz brachte nur ein Tor, während die Griechen in ihrer Biederkeit, mit all ihren kleinen Makeln und vielen Ballverlusten, nicht weniger erreichten. Es war ihre einzige Strafraumchance gewesen. „Wir spielen den Fußball, den wir können“, sagte Giannakopoulos, und niemand sollte sie dafür verachten. Es ist das Recht der kleinen Teams: die Verteidigung und den Konter zu ihren Waffen zu machen, „die Leidenschaft und Hingabe“, wie Rehhagel sagte. Mittelfeldspieler Vasilios Tsiartas ließ keine Zweifel, wo sie die Kraft dafür herhaben: „Der Trainer hat uns den Glauben gegeben. Früher hatten wir Angst vor Gegnern wie Spanien, heute vertrauen wir in uns. Er hat uns allen die Augen geöffnet.““

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