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Das Land ist innerhalb von zwei Tagen vom tiefsten Pessimismus zur Euphorie übergegangen

Oliver Fritsch | Samstag, 19. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Das Land ist innerhalb von zwei Tagen vom tiefsten Pessimismus zur Euphorie übergegangen

Enttäuschung in Frankreich – „das Land ist innerhalb von zwei Tagen vom tiefsten Pessimismus zur Euphorie übergegangen“ (La Vanguardia) – Kritik an England trotz Sieg – „Michael Ballacks Vorzüge: sein Schwung und seine Zielgenauigkeit aus der zweiten Reihe“ El Mundo) u.v.m.

Das Land ist innerhalb von zwei Tagen vom tiefsten Pessimismus zur Euphorie übergegangen

Die spanische Zeitung La Vanguardia schildert die Stimmung in Deutschland: „Der Optimismus bemächtigt sich Deutschlands. Ein Unentschieden, das nach Sieg schmeckt, ein Mundvoll Optimismus, ein vielleicht exzessiver Enthusiasmus, aber Tatsache ist, dass Deutschland es wieder einmal geschafft hat, sich mit Kraft unter den Favoriten zu platzieren. Nach dem 1:1 gegen Holland hat Deutschland, das mit einem deutlichen Hauch von Bescheidenheit und wenig Vertrauen in das eigene Können nach Portugal kam, einen plötzlichen Anfall von Euphorie erlitten. „Europa, wir sind zurück!“, feierte in großen Lettern die Bild-Zeitung. Für einige Tage hat die meistverkaufte Zeitung des Kontinents die Katastrophenmeldungen über Armut, Wirtschaft und Politik in Deutschland auf den zweiten Platz zurückgestellt und widmet sich nun dem Anfeuern der Nationalmannschaft.(…) Wenn man einige Kommentare in der gestrigen Ausgabe der deutschen Medien betrachtet, macht es fast den Eindruck, Deutschland hätte die EM schon gewonnen. (…) Das am Dienstag war ein Sich selbst Wiederfinden der Deutschen. (…) Dieses Land ist innerhalb von zwei Tagen vom tiefsten Pessimismus zur Euphorie übergegangen. Ein typischer Prozess für eine Nationalmannschaft, die, ohne brillant zu sein, weit zu kommen pflegt und Finalist in der letzten WM war.“

Mannschaft mit dem größten Wettbewerbsgeist des Kontinents

Was spricht für Deutschland, was dagegen, El Mundo? „Pro: Die Geschichte sagt uns, dass Deutschland die Nationalmannschaft mit dem größten Wettbewerbsgeist des Kontinents ist. Opferbereitschaft, Intensität und ein absoluter Glaube in ihre Möglichkeiten kompensieren locker ihre technischen Mängel. Bloß keine voreiligen Schlüsse ziehen: die Niederlagen gegen Frankreich und Rumänien bedeuten gar nichts, wenn das Deutschlandlied erst mal erschallt. Contra: Die tschechische Republik und sein ewiger Rivale Holland können Deutschland gleich in der ersten Phase Unannehmlichkeiten bereiten. Fazit, danach strebt Deutschland: …seinen vierten kontinentalen Titel zu erreichen. Die EM bleibt, trotz der Zweifel im von Völler gezeichneten Bild, Deutschlands Fetisch-Wettkampf. Man darf nie vergessen, dass die Germanen keiner Exquisität bedürfen, um Trophäen hochzuhalten.“

Sein Schwung und seine Zielgenauigkeit aus der zweiten Reihe

Die spanische Zeitung El Mundo porträtiert Michael Ballack: „Er ist, wie Torwart Oliver Kahn, nicht in seiner besten Phase. Der Mittelfeldspieler von Bayern München hat neben seinem physischen Potenzial eine außergewöhnliche Klasse, die ihm seit seiner Zeit bei Bayer Leverkusen geblieben ist. Unter den Oberbefehl Rudi Völlers zurückzukehren, war vielleicht die beste Art und Weise, den Kummer wieder gut zu machen, der sich in der schlechtesten Saison des Münchener Vereins angesammelt hatte. Der starke Abschuss und der großartige Kopfball sind zwei seiner besten Eigenschaften, denen seine taktische Disziplin hinzugefügt werden muss. Vorzüge im Spiel nach vorne: sein Schwung und seine Zielgenauigkeit aus der zweiten Reihe.“

Mit der Zärtlichkeit und Leichtigkeit eines Genies

La Vanguardia über das Spiel Deutschland-Holland: „Ruud van Nistelrooy hat sein EM-Debüt mit einem Tor aus dem Nichts gefeiert, indem er die Verteidigung überholte und den Ball mit der Zärtlichkeit und Leichtigkeit eines Genies berührte. Oliver Kahn hatte keine Zeit zu reagieren. Kaum gesehen, war der Ball im Netz, und das betäubte Holland fand sich mit einem Punkt wieder. (…) Manchmal scheint er sich wie ein Gespenst in Luft aufzulösen, aber wenn er wieder auftaucht, ist er noch tödlicher als zuvor. Fragen Sie das unglückliche Deutschland!“

Die Franzosen haben eine ihrer schlechtesten Leistungen unter Jacques Santini abgeliefert

Nicht nur Frederic Potet (Le Monde 18.6.) ist nach dem 2:2 gegen Kroatien von Frankreich ermattet: “Die Franzosen machten zwei glückliche Tore, wurden ständig im Spielaufbau gestört und konnten zu keinem Zeitpunkt dem Spiel ihren Stempel aufdrücken. Nationaltrainer Santini sprach von einer „großen Enttäuschung“ und „einem Mangel an Demut“. Fabien Barthez fand deutlichere Worte: „Frankreich hat sich in die Sch… gesetzt“ und „es ist ein Wunder, dass es nicht verloren hat.““

Nicholas Harling warnt die Italiener (Independent 19.6.): „Das Team, da können Sie sicher sein, wird bei der Rückkehr mit dem üblichen Hagel an verfaulten Tomaten willkommengeheißen, falls sie wieder nach der Vorrunde ausscheiden sollten.“

Rooney ist etwas ganz Besonderes

Matt Dickinson (Times 19.6.) blickt auf Englands anstehende Spiel gegen Kroatien: „Sven-Göran Eriksson beanspruchte gestern für sich, dass er am späten Mittwoch entschieden hatte, die bisher verwendete Diamanten-Aufstellung durch eine flache Viererkette im Mittelfeld zu ersetzen, auch wenn Spieler wie Paul Scholes für den Diamanten plädiert haben. England muss sich nun vor dem Spiel gegen Kroatien darauf konzentrieren, das Passspiel und die einzelnen Laufwege zu verbessern, denn selbst beim 3:0 gegen die Schweiz wirkte dies eher ärmlich. Denn wenn sie wirklich den ernsthaften Anspruch auf die europäische Fußballkrone erheben wollen, müssen sie ihr Spiel noch um einiges flüssiger gestalten, denn überzeugend war dies in der drückende Hitze von Coimbra nicht. (…) „Bei der Aufstellung war ich mir nicht sicher“, so Eriksson „und wenn man sich nicht sicher ist, dann spricht man mit den Spielern. Man legt seine Karten offen auf den Tisch, denn es ist ein sehr großer Fehler zu glauben, dass man als Trainer alles weiß.“ Gegen Kroatien will der Trainer seine Mannschaft in Bestbesetzung auflaufen lassen, obwohl er sehr gut weiß, dass eine weitere gelbe Karte für Wayne Rooney eine Sperre fürs nächste Spiel mit sich bringen würde. „Wenn er noch eine Verwarnung erhält, dann ist er für das Viertelfinale gesperrt, aber zur Zeit kann ich mir absolut nicht vorstellen, ihn draußen zu lassen. In meinen Augen ist er der beste junge Spieler, mit dem ich je zusammen gearbeitet habe, und ich hatte bereits Rui Costa, Roberto Baggio und Paulo Sousa unter meinen Fingern. Rooney ist etwas ganz Besonderes.“

Das ganze Land ist besessen von Rooney

Oliver Holt (Daily Mirror 19.6.) und ganz England bewundern Wayne Rooney: „Das ganze Land ist nahezu besessen von Wayne Rooney, denn das unwahrscheinliche Talent in diesem noch so jungen Alter gibt uns das Gefühl, als seien alle anderen Teilnehmer der EM neidisch auf uns, nur weil Wayne bei uns spielt. (…) „Nach der gelben Karte kamen Becks und ein paar andere Spieler zu mir und meinten, dass ich das ganze nun ein bisschen ruhiger angehen soll, aber ich habe weiter 110 Prozent gegeben und wollte daran auch gar nichts ändern. Ich bin einfach ein Fußballer, zu dem das Temperament dazu gehört. Ich glaube einfach, dass ich durch meine hitzige Art besser spiele, und nur, weil ich jetzt bei einem großen Turnier spiele, werde ich das nicht ändern.“ (…) Rooney ist ein ruhiger Junge. Klar, er hat seine raue Spielweise auf dem Platz, und es stimmt ja auch, dass er aus der Working Class stammt und mit den reicheren Leuten und dem ganzen plötzlichen Rummel um seine Person auf dem Kriegsfuß steht. Aber er ist kein zweiter Gazza. Nicht abseits vom Spielfeld. Er sieht auch nicht so verletzend und mental zerbrechlich aus wie Gazza damals.“

Ein giftiges Gemisch aus schelmischem Übermut und pubertärer Böswilligkeit

Rob Smith (The Guardian 17.6.) steht dem Sieg der Engländer kritisch gegenüber: „Es ist ein typisches Klischee des Fußballs: Egal wie das Spiel war, das Ergebnis zählt. Genau dieses hat sich in Coimbra wieder gezeigt. Zum größten Teil war England, vier Tage nach dem gallsichen Hinterhalt, schrecklich: träge, nervös, inkompetent. (…) Für eine Mannschaft voll von dynamischen, vorstoßenden Mittelfeldspielern, stotterte Englands Maschinenraum alarmierend. Die Hitze war vielleicht ein Grund; als Erklärung reicht das nicht aus. Wie schon am Sonntag, spielten sie ohne Tempo nach vorne, und ihre Pässe waren sehr enttäuschend. Entweder fehlt es ihnen an Begierde oder dem Glaube, der gebraucht wird, um sich von ihrer wahren Seite zu zeigen. Wenn England sich in diesem Turnier wirklich verbessern will, gibt es nur einen Weg dies zu tun – genauso spielen wie Gerard Houlliers Liverpool. Erikssons England wird niemals Spiele kontrollieren, so wie es ein Team mit solchem Talent sollte; die goldene Generation wird niemals glitzern, solange die Verantwortung von jemandem so konservativem getragen wird. Gott sei Dank, gibt es Wayne Rooney! obwohl er genauso viel an seinem zweiten Tor beteiligt war wie Sir Alex Ferguson an John Magniers Erfolg auf der Rennbahn. Wie immer war Rooney ein giftiges Gemisch aus schelmischem Übermut und pubertärer Böswilligkeit (…) Rooneys Temperament ist jedoch nicht Englands signifikanteste Sorge. Michael Owen beginnt auszusehen wie ein Fußgänger, David James verhielt sich wie eine aufgeschreckte Katze auf einem Dach, und David Backham war genauso peripher wie schon vor zwei Jahren in Japan. Dort war es scheinbar die fehlende Fitness, was ist wohl jetzt seine Entschuldigung? Er und Owen sind momentan alleine aufgrund ihres Ansehens im Team. (…) England spielte rücksichtslos hart, und eine emotionale Menschenmenge schwärmte stolz und triumphierend aus. Mit angezogener Oberlippe und breiter Brust – aber in Wirklichkeit, gab es nichts worauf, man stolz sein konnte.“

„Portugiesen bleiben vor dem “Kampf von Iberien“ cool“ (Telegraph)

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