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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

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Lesebuchgeschichten über Lenin

Oliver Fritsch | Samstag, 19. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Lesebuchgeschichten über Lenin

„die Letten sind keine kuriosen Freaks“ (SZ) / Fußball führte lange ein Schattendasein in Lettland (FAZ) – BLZ-Interview mit Thomas Rosicky / „die Tschechen strotzen vor dem Duell mit Holland vor Zuversicht“ (FAZ)- Hollands Nationaltrainer steht unter Beschuss der ganzen Nation (FR) u.v.m.

Der lettische Schriftsteller Pauls Bankovskis (FAZ/Feuilleton 19.6.) schildert seine Hinwendung zum Fußball: „Bisher bin ich kein großer Fußball-Fan gewesen. Genauso wie die meisten in Lettland. Als ich klein war, habe ich Lesebuchgeschichten über Lenin gelesen: In einer von ihnen begegnete er in Moskau im Hof des Kreml zerlumpten Kindern, die Fußball spielten. Als er sah, daß sie sich aus alten Lumpen selber einen Ball gebastelt hatten, besorgte ihnen Lenin in seiner Mildtätigkeit einen echten Lederball. Ein Proletariersport eben. Wenn ich in alten, in Schwarzweiß gedrehten Kinowochenschauen manchmal die schlammbespritzten Spieler in ihren wehenden, knielangen Shorts (ob die damals vielleicht Longshorts hießen?) sehe, ihre herb-schönen Gesichter voller Entschlossenheit, die Frisuren mit den ausrasierten Hinterköpfen und die Fans in Hut und Anzug, dann überkommt mich eine eigentümliche Wehmut. Wie beim Betrachten von etwas, das unwiederbringlich verloren und unerreichbar ist. Wie beim Betrachten von etwas wirklich Coolem. Denn eines ist sicher: Im Gegensatz zum Eishockey ist Fußball cool. Das weiß jeder, der die Mode der letzten Jahre mitgemacht und ein im Stil der Fifties gehaltenes Fußballershirt oder entsprechend designte Kickerschuhe erstanden hat. Der Eishockeykosmos trägt zur Mode bestenfalls ein formloses Schlabberhemd als Outfit-Scherflein bei, das zudem nur dann zum Tragen geeignet ist, wenn man sich ein Spiel anschauen geht. Dieses Hemd ist nämlich das Letzte. Als kleiner Staat mit einer kurzen Geschichte und einer langen Liste historischer Heimsuchungen befindet sich Lettland in einer ständigen Identitätskrise. Daraus resultiert der verzweifelte Wunsch, bemerkt und (an-)erkannt zu werden – und zugleich eine tiefe Kränkung, wenn jemand von außen einen wunden oder anderweitig unschönen Punkt bemerkt. Aber solche bruchstückhaften und oftmals kritischen oder unangenehmen Seitenblicke sind in gewissem Sinne ebenso unbedeutend wie alle Versuche, gezielt so etwas wie ein internationales Image Lettlands zu konstruieren: Denn meistens geht es dabei um Themen, Probleme und Ereignisse, die nur für einen ganz winzigen Teil der Weltbevölkerung von wesentlichem Belang sind. Wer ist schon besonders überrascht oder betroffen darüber, daß Lettland oder Luxemburg beim Eurovision Song Contest zum x-ten Male nicht gewonnen hat? Aber Fußball ist eben etwas vollkommen anderes. Wenn ich Schriftstellerkollegen aus (west-)europäischen Staaten treffe, dann wollen die doch nicht etwa über die lettische Gegenwartsliteratur mit mir plaudern! Sondern über Fußball. (…) Keine Ahnung, wie das heutige Spiel gegen Deutschland ausgehen wird. Aber im Unterschied zu den Spielen der lettischen Eishockeymannschaft gegen die russischen Champions wird es hier keinerlei politische Hintergedanken geben. Es geht vielmehr um das ewig eine: das Beste zu geben, was wir haben und können, und an einem gemeinsamen Erlebnis teilzuhaben, das unmittelbar und ohne Übersetzung für so viele Menschen verständlich ist. Und eines ist sicher: Wie auch immer das Ergebnis ausfällt, es wird ein Gewinn für unsere Mannschaft sein.“

Lettlands Fußball hat höchstens Amateur-Status. Peter Heß (FAZ 19.6.): „Starkovs ist der wortgewandte und intelligente Schöpfer des lettischen Fußballwunders. Der 49 Jahre alte Fußball-Lehrer prägt und führt ein Team, in dem bis jetzt kein Spieler die Aufmerksamkeit eines europäischen Spitzenklubs erregt hat und das dennoch in Portugal dabei ist. Disziplin, Mannschaftsgeist, Verteidigungsgeschick und die Tore von Maris Verpakovskis haben die Letten in die Endrunde gebracht. Auf mehr, auf das Viertelfinale, hofft niemand, aber alle hoffen auf bessere Verträge bei besseren Klubs, das macht die Außenseiter so gefährlich. Lettland ist ein Wunderland des Sports, das gilt nicht nur für den Fußball. In der ehemaligen Teilrepublik der Sowjetunion leben nur 2,3 Millionen Menschen, aber die Balten zählen im Basketball und im Eishockey zur Weltklasse, halten im Handball und Volleyball auf höherem europäischen Niveau durchaus mit. Mit Stolz erfüllt sie auch Kristers Sergis, der fünfmalige Seitenwagen-Weltmeister im Moto-Cross. Fußball dagegen führte lange ein Schattendasein in Lettland. 1961 stieg der letzte lettische Klub aus der ersten sowjetischen Liga ab. Die mit der Unabhängigkeit 1991 gegründete lettische Nationalliga rief wenig Interesse beim Publikum hervor. Noch heute schauen sich nicht mehr als 2000 Zuschauer ein Spitzenspiel der Achter-Liga an, wenn sie dafür Eintritt zahlen müssen. Werden Freikarten verteilt, sind es immerhin bis zu 5000. Früher fühlten sich noch weniger Besucher vom Fußball animiert. Seit etwa sechs Jahren tragen die Investitionen des Verbandspräsidenten Guntis Indriksons Früchte. Der Milliardär kehrte vor 13 Jahren aus den Vereinigten Staaten in seine Heimat zurück und machte es sich zur Aufgabe, den Fußball nach oben zu bringen. Er gründete den heute führenden Klub Skonto Riga, gab viel Geld aus für die Entwicklung moderner Strukturen und die Jugendarbeit. Das Niveau der Spieler stieg so weit, daß einige Angebote aus dem Ausland bekamen, meistens aus Rußland. Andrejs Stolcers und Marians Pahars wurden gar von englischen Klubs verpflichtet, freilich von keinem der berühmten. Von ihren professionellen Erfahrungen beim FC Fulham und FC Southampton profitiert die lettische Nationalmannschaft dennoch. Die in der EM-Qualifikation bezwungenen Gegner lesen sich zudem nicht schlecht: Schweden, Polen, Ungarn und die Türkei.“

Sie sind keine kuriosen Freaks

Christoph Biermann (SZ 19.6.) findet die Letten erfrischend exotisch: „Es ist heiß im Zelt vor dem Stadion Municipal in Anadia. So saunaheiß, dass man jeden Moment darauf wartet, jemand kommt herein und macht den nächsten Aufguss. Mit Überfüllung hat die Hitze im Pressezelt nichts zu tun, denn gerade mal anderthalb Dutzend Journalisten haben auf den Polsterstühlen Platz genommen. Nils Kalns, der Sprecher des lettischen Fußballverbandes, macht seine Übersetzungen der Statements auf dem Podium am Mikrofon vorbei. In der fünften Reihe kann man ihn schon nicht mehr hören, aber da sitzt auch niemand. Ganz vorne versteht man ihn ebenfalls kaum, weil der Motor des Mannschaftsbusses ungeduldig durch die Zeltwand brummt. Gleich soll es ins Hotel zurückgehen, aber die demonstrative Eile kopiert die Aufregungen großer Teams eher, als dass man sie glauben würde. (…) In einer Zeit, wo aktuellem Neusprech zufolge immer irgendeiner irgendwo „angekommen ist“, muss man feststellen: Die Letten sind bei der EM angekommen. Das Bedürfnis des Publikums nach Exotik möchten sie – Außenseiter hin, Außenseiter her – nicht befriedigen. Immerhin haben sie verloren, und das wollen sie gegen Deutschland nicht. Schon gar nicht möchten sie das Gegenstück zu dem abgeben, was jamaikanische Bobfahrer sind oder arabische Teams, von echten Scheichs aus der VIP-Loge angefeuert. Sie sind keine kuriosen Freaks, wenn auch ihre Namen einen rätseln lassen, wie man den Zusammenhang zwischen geschriebener Sprache und gesprochenem Wort hinbekommt: P-R-O-H-E-R- E-N-K-O-V-S, B-L-A-G-O-N-A-D-E- Z-D-N-I-S. Und dann sind sie schneller vor Kahns Tor, als man V-E-R-P-A- K- O- S-K-I-S gesagt hat.“

BLZ-Interview mit(19.6.) Thomas Rosicky

BLZ: So glücklich wie im Kreis der Landsleute hat man Sie lange nicht gesehen. Ist die EM nach der chaotischen Saison bei Borussia Dortmund eine willkommene Abwechslung?
TR: Wir hatten fast nie Ruhe, es hat immer etwas gestört, das war schwierig. Es stimmt: Hier zu sein, ist eine Erleichterung für mich. Ich genieße die Zeit im Nationalteam.
BLZ: Ein paar der Vereinskollegen werden Sie kommende Woche wieder sehen. Die Partie gegen Deutschland muss eine besondere für Sie sein.
TR: Das kommt darauf an, was am Sonnabend passiert. Wenn wir Holland schlagen, sind wir durch. Dann könnte das für uns ein Freundschaftsspiel werden. Aber die Niederländer sind stark. Gut möglich, dass bis zuletzt alles offen bleibt. Das könnte spannend werden.
BLZ: Vielleicht entscheidet am Ende die Tordifferenz. Haben Sie vor dem Spiel gegen Lettland daran gedacht?
TR: Kann sein, aber gegen die Letten werden sich auch die Deutschen schwer tun. Die sind wie eine Mauer, die sich vor dir aufbaut. Und gelingt dir kein schnelles Tor, kommt die Nervosität hinzu. Gegen diese Mannschaft gewinnt man nicht mal eben im Vorbeigehen 3:0 oder 4:0.

Die Tschechen strotzen vor Zuversicht

Thomas Klemm (FAZ 19.6.) hört sich im tschechischen Lager um: „Der unweit von Lissabon gelegene Ort Sintra, wo Brückner und sein Aufgebot während der EM residieren, ist für sein besonderes Mikroklima bekannt. An den Hängen blühen exotische Pflanzen, und auf dem Rasenplatz gedeiht das Selbstbewußtsein. „Die Stimmung ist sehr gut“, behauptet Tomas Ujfalusi vom Hamburger SV überschwenglich, „daß wir gegen Lettland das Spiel gedreht haben, zeigt unser Selbstvertrauen.“ Nur vorübergehend ließen sich selbst jene Stars wie Pavel Nedved und Karel Poborsky, die bei der EM 1996 der deutschen Auswahl im Finale unterlagen, von dem lettischen Abwehrbollwerk und den gefährlichen Gegenstößen erschüttern, drehten das Spiel nach einem 0:1-Rückstand binnen acht Minuten und wendeten wieder alles zum Guten. „Das schaffen nur große Mannschaften“, sagte der kleine Rosicky, der ebenso wie seine Nebenleute nur so strotzt vor Zuversicht. Vor allem sein Dortmunder Vereinskollege Jan Koller spekuliert nach dem „schwersten Spiel bei der Euro“ darauf, seine alte Treffsicherheit gegen die Niederlande aufs neue zu beweisen. In den beiden Qualifikationsspielen erzielte er zwei der vier Tore. Das dicke Knie von Verteidiger René Bolf und die geschwollene Speicheldrüse von Abwehrspieler Zdenek Grygera sind derzeit die einzigen Probleme, an denen die Tschechen zu leiden scheinen. Auch ihren Status als Geheimfavorit empfindet die Auswahl offenbar nicht als Bürde, wiewohl sich Trainer und Mannschaft vor ihrer zweiten Reise nach Aveiro geheimnisvoller gaben, als es ihr extrovertiertes Auftreten vermuten ließ. Nicht einmal ein Beobachter der Europäischen Fußball-Union durfte am Donnerstag auf das Trainingsgelände, weil sich der bisher einzige Sieger in der Gruppe D mit neuen Varianten auf die dritte Begegnung mit den Niederlanden binnen 15 Monaten vorbereiten wollte.“

Von Johan Cruyff und Louis van Gaal über Franz Beckenbauer bis hin zu Frau Antje gefällt sich jeder im fröhlichen „Bondscoach-Bashing“

Beobachtungen der FR (19.6.): „In den diesen Tagen hat der Mann wieder kämpfen müssen, und wie. Er hat gekratzt, gehalten und gebissen, hat die Ellenbogen ausgefahren und Gras gefressen, nimmermüd und ohn‘ Unterlass. Am Ende war er in Schweiß gebadet, und selbst Edgar Davids, der ewige Rackerer und Ackerer, den sie mal „Pitbull“ nennen und mal „Piranha“, hätte den Hut ziehen müssen, wenn er gesehen hätte, wie sich der Mann engagierte. Doch die Niederlande hat keinen neuen Spieler fürs defensive Mittelfeld erhalten, wer da kämpfte und verteidigte war Dick Advocaat, in eigener Sache. Advocaat ist Trainer der niederländischen Auswahl, die so schwer in dieses Turnier findet, und wenn es nach den ganzen Großkritikern und „Gurus“ (Rudi Völler) ginge, auch der Alleinschuldige der momentane Krise der Elftal genanten Mannschaft. Von Johan Cruyff und Louis van Gaal über Franz Beckenbauer bis hin zu Frau Antje gefällt sich jeder im fröhlichen „Bondscoach-Bashing“. Derweil hat sich nahezu die komplette niederländische Presse auf Advocaat eingeschossen, und dies hatten sie ihn auch verbal spüren lassen. (…) Auch die interne Kritik reißt derweil nicht ab. Torwart Edwin van der Saar bezeichnete den Kader als „schlechter als die Mannschaften von 1998 und 2000″. Und auch Advocaat nimmt zum eigenen Schutz kein Blatt mehr über die Qualität seine Akteure vor den Mund: „Ich hoffe, dass ihre Nervosität langsam nachlässt.““

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