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Wurde Reiner Calmund gemobbt?
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| Sonntag, 20. Juni 2004wurde Reiner Calmund gemobbt? – Kritik an der Entlassung Marcel Kollers in Köln (SZ) – FAZ-Interview mit Joseph Blatter – Alert-Interview mit Klaus Toppmöller u.v.m.
Erik Eggers (FR 11.6.) befasst sich mit Reiner Calmunds Rücktritt: „Das Beben, das der spektakuläre Rücktritt Reiner Calmunds ausgelöst hatte, überschattete alles, selbst die Präsentation der Chronik „100 Jahre Bayer 04″, über die Meinolf Sprink, seit einigen Jahren Sportbeauftragter des Konzerns, so gerne gesprochen hätte. Vergeblich. Alle wollten wissen: Was steckt wirklich hinter dieser Demission? Und wie geht es weiter mit Bayer 04 Leverkusen? Sprink sprang von Mikrophon zu Mikrophon und beruhigte und dementierte. „Nicht bestätigen“ wollte Sprink etwa, dass Calmund einer Intrige innerhalb des Konzerns zum Opfer gefallen sei. Für die allgemeine Einschätzung, dass genau eine solche Calmund gestürzt und es sich also um einen erzwungenen freiwilligen Rücktritt gehandelt hat, gibt es freilich einige Anzeichen. Zwar hatte Calmund insbesondere gesundheitliche Gründe für seinen plötzlichen Rückzug angeführt („Ich bin platt“). Aber schon am Donnerstag zeigte sich der 55-Jährige in einem Interview mit dem Kölner Express erholt. Nach der EM werde er erst ausgiebig urlauben, aber „dann geht es nächste Saison mit Vollgas weiter“. Wo, das ließ er offen, offenbar favorisiert er eine Beraterfunktion. Es hätten, prahlte er, bereits Stunden nach dem dramatischen Abgang finanziell lukrative Angebote von anderen Bundesligisten vorgelegen. „Ganz ohne Fußball kann ich nicht“, so Calmund. Die Reaktion angesichts der hochkochenden Gerüchte, der Konzern habe sich von ihm getrennt, weil er sich bei den Transfers von Franca und Marquinhos bereichert habe, bewies ebenfalls Angriffslust. „Wenn mir hier ein Krümel angedichtet wird“, so Calmund, „dann werde ich zur Wildsau“. Unkontrollierte rhetorische Geschosse dieser Qualität waren dem Konzern in den letzten Jahren unheimlich geworden. Laut Sprink pumpt Bayer jährlich 15 Millionen Euro immerhin in die Fußballtochter. Aber so volkstümlich und populär die Reden Calmunds auch waren, drohten diese Wortkaskaden stets eine Gefährdung dieser Investition, etwa als Calmund den Skandal um Lipobay – jenes Cholesterin senkende Bayer-Präparat, dessen Einnahme in den USA Todesfälle provoziert haben soll – im Fernsehen bedenkenswert naiv verharmlosen und wegreden wollte. Auch den PR-Super-Gau rund um den Kokain-Skandal um Christoph Daum, verheerend für das Image, lastete der Konzern Calmund an, genauso wie das eigenwillige Krisenmanagement in der Katastrophensaison 2002/2003. Vor allem aber wollte sich Calmund nicht mit dem Sparkurs abfinden, auf den der Konzern – in Gestalt des Co-Geschäftsführers Wolfgang Holzhäuser – zuletzt pochte.“
Christoph Biermann (SZ 11.6.) ergänzt: „So recht konnte auch am Tag danach niemand glauben, dass der Geschäftsführer von Bayer 04 Leverkusen wirklich von seinem Amt zurückgetreten war. Und so mischten sich in den Unglauben gleich Vermutungen um Hintergründe der Demission, die über die geäußerten hinausgehen. Der Kölner Stadt-Anzeiger meinte, „dass dieser Mann das, was er als sein Lebenswerk betrachtet, freiwillig hergibt, ist völlig ausgeschlossen.“ Ein Calmund besonders nahe stehender Reporter von Bild kommentierte: „Mit System vertrieben.“ Der neue alleinige Sprecher der Geschäftsführung, Wolfgang Holzhäuser und Meinolf Sprink, der Sportbeauftragte der Bayer AG, fühlten sich demnach „meist durch Calmunds Figur, Energie und Beliebtheit eingeengt“. Ist Calmund also gemobbt worden, und war der tränengetränkte Abschied mit den von ihm so anschaulich geschilderten Leiden („Ich bin platt“) nur ein Bühnenstück? „Ich habe durchaus gezuckt, als ich das gelesen habe“, gibt Meinolf Sprink, zu. Die Interpretationen jedoch, dass er und Holzhäuser die Bundesliga-Ikone Calmund gestürzt hätten, weist er jedoch weit zurück. „Das ist ein Nachhall aus vergangenen Zeiten“, meint Sprink. Zwischen ihm und Calmund hatte es durchaus Konflikte gegeben, als etwas Otto Rehhagel als Sportdirektor verpflichtet werden sollte. Doch diese Meinungsverschiedenheiten seien längst erledigt.“
Bayer hat sich vom Spitzensport Fußball verabschiedet
Jörg Stratmann (FAZ 11.6.) fügt hinzu: „Vor der Geschäftsstelle flatterte ein Banner zwischen den Bäumen. Ihr „Danke für 27 Jahre“ hatten unbekannte Fans dort aufgehängt. Drinnen wurde das Buch „100 Jahre Bayer 04 – Die Geschichte eines einzigartigen Sportvereins“ vorgestellt, in dem auch dies zu lesen ist: Ohne Marketingfachleute und Juristen gehe nichts mehr, „aber ausschlaggebend, weil unverzichtbar, sind im Fußball Emotionen und die Leute mit Stallgeruch“. Eine Selbstbeschreibung des Reiner Calmund – doch schon am Erscheinungstag Mittwoch veraltet. Denn der Bundesligaklub Bayer Leverkusen verzichtet seit Dienstag und nach 27 Jahren auf die Dienste des 55 Jahre alten Geschäftsführers. Und für manchen im Umfeld der BayArena steht fest: Bayer hat sich vom Spitzensport Fußball verabschiedet. Calmund wiederum dachte schon am Tag nach seinem Rücktritt an die Rückkehr in die Bundesliga. Der „Bild“-Zeitung vertraute der Manager an, daß er „nach EM und Urlaub in etwa vier Monaten wieder mit Volldampf bei einem Bundesligaklub“ arbeiten werde. Ein Angebot liege schon vor. „Die favorisierte Lösung ist ein Beraterjob bei einem Verein, bei dem ich auch 15 Stunden powern kann.“ An erster Stelle jedenfalls werde er, der noch am Dienstag gesundheitliche Gründe für seinen Rückzug angeführt hatte, „nie mehr antreten“. „Die fetten Jahre sind vorbei.“ Das ist keine despektierliche Wortspielerei, sondern das hat der schwergewichtige Calmund längst selbst erkannt. Nach Kirch-Crash und der verkorksten vorigen Saison und unabhängig vom Erreichen der Champions-League-Qualifikation in diesem Sommer fehlen Bayer rund dreißig Millionen Euro. So wurden erst die Prämien gestrichen, dann der Stadionausbau zur Weltmeisterschaft 2006. Und schließlich wurde den Profis angekündigt, daß alle 16 Verträge, die bis 2006 auslaufen, nur unter dem Vorbehalt einer Gehaltskürzung um mindestens dreißig Prozent verlängert würden. Von Verstärkungen war da keine Rede mehr. Im Gegenteil: Stammspieler Lucio, von Calmund als Herz der Abwehr betrachtet, wurde an Bayern München verkauft. Verantwortlich und mit Rückendeckung des Bayer-Konzerns hält Finanzexperte Wolfgang Holzhäuser, nun Sprecher der Geschäftsführung, den Rotstift in der Hand. Da kommt alles auf den Prüfstand. Sogar am Musikprogramm bei den Heimspielen wurde gespart. (…) Spätestens in der übernächsten Saison müsse sich Bayer mit einer bescheideneren Rolle in der ersten Liga abfinden. Während Calmund an diesem Freitag als Fernsehkoch neben Alfred Biolek neue, streßfreie Betätigungsfelder erkundet, wird Holzhäuser sich erst an die Hitze in der ersten Reihe des Fußballs gewöhnen müssen.“
Daniel Theweleit (SZ 16.6.) kommentiert die Entlassung Marcel Kollers in Köln: „Wolfgang Overath entpuppt sich mehr und mehr als Meister der öffentlichen Inszenierung. Die Mitgliederversammlung des 1. FC Köln hatte den früheren Fußballer gerade mit großer Mehrheit als Nachfolger des zurückgetretenen Präsidenten Albert Caspers gewählt, woraufhin Overath ans Mikrofon trat, um „noch vier Punkte“ anzusprechen. Mit sicherem Gefühl für die Dramaturgie eines großes Finales bedankte er sich erstens für seine Wahl, verkündete zweitens, dass er seit 1966 verheiratet ist (im Gegensatz zu den neuen Vize-Präsidenten hatte er dieses Detail bei seiner Vorstellung vergessen), er gab den Abschluss eines neuen Ausrüstervertrages bekannt, und dann hielt er kurz inne. Die Spannung stieg während einiger Sekunden, und Overath sagte: „Wir haben uns am Wochenende von Marcel Koller getrennt.“ Es war, als wäre in letzter Minute das entscheidende Tor zu einem großen Titel gelungen. Jubel, in die Luft fliegende Hände, der Saal tobte. „Wir haben aber noch etwas getan“, fuhr Overath nach einigen Momenten fort. „Wir haben den besten verfügbaren Trainer auf dem Markt verpflichtet: Huub Stevens.“ Jetzt fielen sich die Menschen in die Arme. So leidenschaftlich wurde die traurige Nachricht von einer Trainerentlassung wohl noch nie gefeiert. Dabei ist die ganze Geschichte eigentlich nur ein neues Kapitel der Tragödie rund um den abgestiegenen Kölner Fußballklub. Aber für die Stadt des Frohsinns ist der ewige Schrecken wohl nicht mehr zu ertragen – wie gut, dass jetzt einer wie Overath da ist. Denn er versteht es großartig, den deprimierenden Stoff als klangvoll-optimistische Operette zu inszenieren. Dafür hängen ihm die Leute an den dünnen Lippen. „Der 1. FC Köln ist für mich und meine Freunde eine Herzensangelegenheit. Mein ganzes Leben lang habe ich nur das Trikot mit dem Geißbock getragen“, hatte er gesagt. Nun sei es „allerhöchste Zeit“, dass sich etwas ändert, denn der 1. FC Köln müsse „in einigen Jahren wieder zu den Spitzenklubs in Deutschland zählen“. So reden sie seit Jahren beim FC. Mal lauter, mal leiser, jetzt wieder sehr laut.“
Der Schriftsteller Burkhard Spinnen (FAZ 4.5.) erzählt aus seiner Kindheit: „Ich war gerade so alt, daß mein Vater mich mit ins Fußballstadion nehmen konnte, da stieg unsere Borussia in die Bundesliga auf. Das Gefühl, dabeigewesen zu sein, verpflichtete mich zu treuester Anhängerschaft. Ich verwahrte, jede auf ein großes, weißes Blatt geklebt, die Eintrittskarten zu den Spielen der Aufstiegsrunde. Im Jahr darauf zogen wir in einen Vorort, der noch etwas weiter entfernt von der Innenstadt lag, in der ich mich als Sextaner des dortigen Gymnasiums gerade heimisch zu fühlen begann. Nun fürchtete ich, kein Recht mehr zu haben, mich als Borussenanhänger zu betrachten. Meine Eltern bewiesen mir, daß auch der neue Wohnort innerhalb der Stadtgrenzen lag. Aber das nutzte nichts, ich fühlte mich ausgeschlossen oder zumindest unzureichend legitimiert. Heute wohne ich weit weg von der Borussia; aber ich bin ein Anhänger geblieben. Man bekomme, sagt ein Schriftsteller, seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer, und den Rest des Lebens rinne dann dessen Inhalt an einem herab. Dies ist ein unappetitliches Bild, aber ein gutes.“
FAZ-Interview (15.5.) mit Joseph Blatter über die Macht der großen Vereine
FAZ: Sie legen in Ihrer zweiten Amtszeit viel Wert auf die Einhaltung oder Rückeroberung der klassischen Tugenden des Sports: Solidarität, Disziplin, Respekt, Fair play. Aus welcher Motivation heraus?
JB: Der Fußball ist für mich eine Schule des Lebens. Er kann diejenigen, die sich zu ihm hingezogen fühlen, zu besseren Menschen machen. Der Fußball basiert auf Disziplin und Respekt vor dem anderen. Das muß unten gefördert und oben gefordert werden. Andernfalls artet das Spiel aus.
FAZ: Nachdem es in den ersten vier Jahren Ihrer Präsidentschaft, also zwischen 1998 und 2002, viel hausinternen Streit gab und eine Reihe von Machtproben mit Mitgliedern des früheren FIFA-Exekutivkomitees, herrscht innerhalb der FIFA so viel Frieden wie lange nicht. Auf der anderen Seite stehen Sie und Ihr früherer Widersacher Lennart Johansson, der Präsident UEFA, an der Spitze der Kritiker, wenn es darum geht, die Eigensucht der großen Profiklubs anzuprangern.
JB: Die FIFA gibt jedem Verband, ob reich oder arm, eine Million Dollar in vier Jahren. Jede Konföderation bekommt zehn Millionen Dollar. Dann haben wir das Solidaritäts- und, wenn Sie so wollen, Entwicklungshilfeprogramm, das Goal-Projekt, über das die weniger begünstigten Verbände zusätzlich 400 000 Dollar pro Projekt bekommen. Also: 40 Prozent unserer Einnahmen gehen an die Verbände. Wenn man die G 14 nimmt, die Abstellungsgebühren für Nationalspieler während der Weltmeisterschaften von der FIFA fordert und dafür die Wettbewerbskommission der Schweiz angerufen hat – ein Vorgehen, das ich für deplaziert halte –, muß ich doch mal fragen: Wer hat denn den Grundstein für die Ausbildung der guten Spieler in Afrika, der Karibik und Südamerika gelegt? Sicher nicht die großen Klubs. Die bedienen sich dort und verlangen gleichzeitig, daß wir denen die Spieler bezahlen. Wir sind eine gemeinnützige Organisation, die ihre Verträge mit den Verbänden und nicht mit Vereinen abschließt.
FAZ: Also sollen die Nationalverbände die Forderungen der Vereine befriedigen?
JB: Bei den Weltmeisterschaften bekommen unsere Verbände viel Geld von der FIFA. Die Verbände können dieses Geld den Spielern oder auch einen Teil davon den Klubs geben. Was die Verbände in dieser Zeit für die Klubs tun könnten, ist soviel: mindestens die Versicherung für die bei den Turnieren eingesetzten Profis sicherstellen.
FAZ: Die großen Klubs glauben, die FIFA sitze auf ihrem Geld und rücke vom Megageschäft mit den Weltmeisterschaften nichts heraus.
JB: Eine völlig irrige Meinung, zumal wir ein Non-Profit-Unternehmen sind, das keinen Raum für das eigennützige Horten von Geldern bietet. Wenn die großen Klubs sagen, sie brauchen mehr Geld, sollten sie vielleicht nicht mehr Geld ausgeben als einnehmen.
FAZ: Es fällt auf, daß FIFA und UEFA eine gemeinsame Abwehrhaltung gegenüber der G 14 einnehmen und die Durchsetzung von mehr wirtschaftlicher Vernunft anstreben.
JB: Wir stimmen mit der UEFA in den Fragen des richtigen Umgangs mit den großen Vereinen vollkommen überein, zum Beispiel beim künftigen Lizenzierungsverfahren zwecks Teilnahmeberechtigung an den Europapokal-Wettbewerben. Die Prüfung auf finanzielle Lebensfähigkeit wird nicht in allen Verbänden so gut gemacht wie in Deutschland.
(…)
FAZ: Was sollen die Menschen dereinst über den FIFA-Präsidenten Joseph Blatter sagen?
JB: Ich bin der Präsident derjenigen, die mehr Mühe hatten, im internationalen Konzert mitzuspielen. Also wenn man so will, bin ich der Präsident der Kleinen.
Interview mit Klaus Toppmöller im Interviewmagazin Alert (März/April 2004)
Alert: Sie haben 2002 den schönsten Fußball spielen lassen, den man in Europa zu sehen bekommen konnte. Das wurde Ihnen sogar von italienischen, englischen und spanischen Zeitungen attestiert.
KT: Darauf bin ich auch heute noch stolz. Natürlich hätte ich auch gerne dem Calmund einen Pokal oder eine Schale in die Hand gedrückt, immerhin war Leverkusen ja noch nie deutscher Meister. Aber die Spielkultur war mir immer wichtiger.
Alert: Ein solcher Standpunkt ist doch sicherlich nicht ganz einfach gegenüber einem Verein zu kommunizieren, oder?
KT: Deshalb ist es in Leverkusen ja auch auseinander gegangen. Ich lasse mir doch nicht erzählen, dass im Abstiegskampf andere Tugenden gefragt sind. Was für andere Tugenden denn? Nicht mehr siegen wollen? Soll ich da zwei Verteidiger mehr reinstellen? Dafür bin ich der falsche Mann. Ich erinnere mich noch: Marko Babic sollte ich damals nicht aufstellen. Dabei ist er heute kroatischer Nationalspieler und Bundesliga-Stammspieler – und genau deshalb auch so wertvoll. Aber seine Tugenden wurden damals angeblich nicht gebraucht. Im Fußballgeschäft widersprechen sich die Menschen sowieso andauernd, das lernt man mit der Zeit. Das ist ja nur noch erfolgsabhängig, das Ganze. Ich weiß aber, dass ich von meinem Job etwas verstehe. Ich weiß auch, dass ich meinen Job mit Herzblut mache. Also können mich da keine Zeitung, kein Spieler und auch keine Vereinsführung verunsichern. Wer soll mich dann bitteschön aus der Ruhe bringen können? Ich habe mir sagen lassen, dass in Hamburg die Halbwertszeit [sic!] für Trainer ungefähr bei knapp zwei Jahren liegt. Kaum ein Trainer hält sich hier länger. Selbst wenn ich hier einen Titel gewinne, bin ich deswegen noch lange kein anderer Mensch. Aber eines Tages werde auch ich hier entlassen, und dann kommt der nächste Verein. Dann werde ich da wieder alles versuchen.
Alert: Aber ist das nicht eine verkehrte Welt? Trainer werden ja oft aus psychologischen Gründen entlassen, um eine Stimmung zu bedienen, nicht weil ihnen die Kompetenz fehlt.
KT: Gut, aber das weiß man ja vorher. Also, ich habe es zumindest gewusst, als ich meinen Trainerschein gemacht habe.
Alert: Sie erzählen das, als ob Sie nichts aus der Ruhe bringen könnte.
KT: Ich kann Ihnen auch sagen, warum: Fußball ist manchmal wie ein surreales Theater.
Alert: Sie spielen lieber den Fußball, den Sie selber gerne sehen wollen.
KT: Dafür muss ich man natürlich auch die Spieler haben. Ich habe hier in Hamburg eine Mannschaft vorgefunden. Ich habe es natürlich auch gerne, wenn ich meine Ideen noch einbringen und einfließen lassen kann.
Alert: Wenn Sie selbst eine Mannschaft zusammenstellen, dann geht es ja ausschließlich darum, was die Spieler können, sondern es geht auch darum, ob die Spielerpersönlichkeiten harmonieren.
KT: Eine Mannschaft zusammenzustellen ist meiner Ansicht nach mit das Interessanteste am Trainerjob. Viele Trainer können eine Mannschaft fit machen, auch taktisch nach vorne bringen – eine Mannschaft zusammenstellen können sie nicht. Ich merke das ja immer dann, wenn mich die Kollegen anrufen und um Rat bitten.
Noch einmal – Silvia Henke (FR 9.6.) rezensiert Klaus Theweleits Fußball-Buch: „1942 geboren, erlebt Klaus Theweleit Nachkriegsdeutschland als Flüchtlingskind im ehemaligen Osten; Deutschland wurde für ihn über magische Fußballnamen aus dem Luftraum der Rundfunkstationen gerastert und die sonntäglichen Fußballergebnisse der Oberligen waren Magie, Schicksal, Welt. Das bleibt auch für mich nachvollziehbar. Atemlose Stille im Auto bei der Rückkehr von sonntäglichen Ausflügen, die Fußballübertragungen beanspruchten jeden Zoll Luft im Familientross. Dann aber kommt der wesentliche Geschlechterunterschied: Auf der Straße greifen Mädchen den Ball mit Händen, um ihn sich zuzuspielen, während für die Buben das Kicken mit den Füßen beginnt. Folgt man Theweleits Kindheitsbericht, war der Ball (oder alles Ballähnliche) die einzige Möglichkeit für Knaben, sich nicht zu verprügeln. Aber natürlich erklärt dies die weltumspanndende Faszination für den Fußball nicht, aus der in den letzten Jahren zig historische, kultursoziologische und auch pseudowissenschaftliche Untersuchungen hervorgegangen sind. Theweleit kennt und nennt sie alle, von Dietrich Schulze-Marmelings Buch Der gezähmte Fußball über Christoph Bauseweins Geheimnis Fußball zu Christiane Eisenbergs Fußball, soccer, calcio bis zu Diego Maradonnas Memoiren: die Liste der Bücher, die sich jetzt neben Nüsschen und Bier als geistiges Futter in den Fußballstuben einfinden können, ist lang. Warum also noch ein Buch über Fußball als Realitätsmodell? Vom Autor der Männerphantasien würde man zunächst erwarten, dass er das System Fußball ideologiekritisch durchlöchert und innerhalb der großen Apotheosen des Weltsports eine kritische Reduktion vornähme. Dass er den Kampfsport als Militärersatz ausweisen würde, dem heimlichen Sexismus und Chauvinismus des „Realitätsmodell“ Fußball nachspürte, Finanzskandale und die gewalttätigen Ausschreitungen brutalisierter männlicher Massen kanzelte. Dem ist aber nicht so. Was Theweleits Perspektive auf den Fußball ausmacht, sind zwei positive, fast euphorische Befunde: zum einen, dass Fußball – wie Kino und Rockmusik – in seiner Verkoppelung von Körpergefühl und technischer Übertragung verlebendigend wirkte und wirkt. Wer Fußball aus Gründen des guten Geschmacks herablassend taxiert, gehört, so Theweleit, zur Kategorie seiner Lehrer aus den 50er Jahren, die in Folge ihres eigenen Abgestorbenseinsein alles ahndeten, was lebendig war. Der zweite Befund, der diese anarchische Bejahung des Ballenbolzens notwendigerweise ergänzt und korrigiert, ist die zivilisatorische Wirkung des Fußballspiels – vom Pausenhofkicken bis zu den WM-Spielen. Das utopische Prinzip für diese zivilisatorische Wirkung ist das Prinzip der Fairness, das den modernen Fußball kennzeichnet. Das Prinzip, das Feinde in Gegner verwandelt, das Prinzip des Unparteischen und der Überprüfbarkeit sämtlicher Regeln. Damit wird der moderne Fußball zu dem, was Theweleit als Utopie vorschwebt, die das Realitätsmodell übersteigt. Und seit im Fußball – in Deutschland spätestens mit Bundestrainer Helmut Schön – auch die Intelligenz Einzug gehalten hat, ist er kontinuierlich humaner, artistischer, femininer, demokratischer, raffinierter, interkultureller, sogar schwuler geworden. Fußball also nicht als Reflex gesellschaftlicher Entwicklungen, sondern als eigenes Aktions- und Experimentierfeld. Weil er primär Spielraum und nicht Kampfzone ist, wird Fußball somit bei Theweleit zum Modell für eine offene Gesellschaft.“
Besprochenes Buch:
Klaus Theweleit: „Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004, 230 S., 8,90 Euro.