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Letztes Reservat des europäischen Nationalismus?
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| Sonntag, 20. Juni 2004„die EM als letztes Reservat des europäischen Nationalismus?“ – Alexander Frei spuckt auch u.v.m.
Sind die Sozialdemokraten wieder mal an allem schuld, liebes Streiflicht (SZ 21.6.)? „Eine Woche ist sie alt, die Kanzlerdämmerung, die siebte ungefähr in der Geschichte der BRD. Diesmal also Schröderdämmerung. Wäre anderseits nicht die Euro 2004 mit Dramen und Spuckspielen voll der Tränen und Tricks, der Schönheiten und Fouls, hervorgebracht von ewigen Trotteln und echten Fußballgöttern – was hätten wir an dem miesen Knochen Europa-Wahl herumzunagen. Doch die Koinzidenz der Ereignisse fügte, dass es anders kam, dass sich die Massen wohligen Eskapismus verschafften, vereint in hohen Einschaltquoten. Fußball als Flucht und Ausflucht. Längst schon wird alles Politische ausgeblendet, wo immer es geht. Kriegsberichte, Folterbilder, Selbstmordwahn: Lieber weggucken. Ruditrallala! Oder hat jenes grauenhafte Null zu Null auch der Kanzler verbockt? Hohe Bälle in den Strafraum und dann – nichts mehr?! Gleicht das nicht seiner Politik? Nein, man lässt den ehem. Mittelstürmer Gerhard „Acker“ Schröder vielleicht nicht einen guten Mann sein; aber grad eben, so lange „Portugal“ läuft, ist er den Leuten wurscht.“
Die EM als letztes Reservat des europäischen Nationalismus?
Philipp Selldorf (SZ 21.6.) wittert ein Missverständnis: „Die New York Times hat sich zur EM geäußert und das Fußballturnier als letztes Reservat des europäischen Nationalismus beschrieben. „Während die politischen Führer in Brüssel über eine gemeinsame Verfassung diskutieren“, stellte die Zeitung fest, „strömen Hunderttausende nach Portugal, um ihre Landesfahnen zu schwenken und andere Europäer auszubuhen oder, wie ein paar Hundert englische Hooligans in Albufeira, zu verprügeln.“ (…) Am Samstag im Stadion Bessa machten die deutschen Fans Stimmung wie beim Kölner Karneval. Als die Partie zuende und das triste 0:0 eine Tatsache war, applaudierten sie ihrer Mannschaft, als wollten sie deren vergebliche Anstrengungen würdigen. Oliver Kahn irrte, als er, darauf angesprochen, den Beifall zur Selbstverständlichkeit erklärte („Wieso nicht? Haben wir ein Verbrechen begangen?“). Einmal haben die deutschen Fans sogar die Nationalhymne gesungen, und es war keineswegs die verbotene Strophe. Auf Frankreichs Tribünen gehört die Marseillaise zum ständigen Repertoire, aber für ein deutsches Länderspiel war es eine Premiere in bald 60 Jahren Nachkriegszeit, und man muss nicht Gerhard Mayer-Vorfelders Ansichten teilen (der einst als baden-württembergischer Kultusminister in den Schulen das Singen des deutschen Liedes zur Pflicht erklären lassen wollte), um darin einen gewissen Charme zu erkennen. Vermutlich hätte sich der Reporter der New York Times wieder gewundert, aber ein Nationalismus in dieser entspannten Form bietet keinen Grund zur kultursoziologischen Beunruhigung.“
Stadion mit der Intimität eines Dorfplatzes
Christoph Biermann (SZ 21.6.) ist irritiert und angetan: „Im Estadio Municipal de Braga ragt hinter einem Tor eine Wand aus Granitfelsen auf, hinter dem anderen wellt sich ein Hügelchen. Architekt Fernando Mouro ist der etwas exzentrischen Ansicht, dass Fußball eine Show sei, „die niemand von hinten sehen will“. Nur verhindert es angeblich die Show, wenn niemand von hinterm Tor zuschaut. „Man führt den Ball, schaut hoch und kommt sich wie im Urlaub vor“, klagte Borussia Dortmunds dänischer Profi Niclas Jensen, „mit Fußball hat das nichts mehr zu tun.“ Nun hatte das Gekicke zwischen Bulgarien und Dänemark mit Fußball wirklich nicht viel zu tun. Aber darüber tröstete wenigstens das Stadion hinweg, das angeblich an den schlechten Leistungen schuld war. Die Arena im Granitfels ist nämlich noch toller als all die hymnische Architekturkritikerlyrik zuvor behauptet hat. Eine Tribüne besteigt man über Hunderte von Stufen, um steil auf das Spielfeld hinunter zu schauen. Auf der anderen Tribüne trägt einen der Lift sechs Etagen hinunter fast auf Ballhöhe. Die ganz und gar schiefergraue Stadionschönheit gleicht die Imposanz fast fünfzig Meter hoch aufragender Bauten mit der Intimität eines Dorfplatzes aus. Und nur Kicker, die vergessen haben, wo sie Fußballspielen gelernt haben, nehmen das als Entschuldigung für verhauene Großchancen und müdes Kombinationsspiel.“
Roland Zorn (FAZ 21.6.) ärgert sich, wenn Spielmacher ausgewechselt werden: „Bestraft wurde am Freitag und am Samstag eine Haltung, die dem freien Spiel der Fußballkräfte misstraut, und damit ein manchmal unnützes Sicherheitsdenken, mit dem die zuvor hochtourige Angriffsmotorik der Holländer wie Italiener abgewürgt wurde. Verloren hatten am Ende weniger die Spieler als zwei Fußball-Fachleute, die sich nicht getraut hatten, ihre Denkschablonen beiseite zu legen und einfach das Spektakel auf dem Platz wie alle anderen im Stadion zu genießen.“
Flurin Clalüna (NZZ 21.6.) nimmt Frei, den zweiten Spucker des Turniers, in Schutz: „Trotz aller Empörung gilt es, die Relationen und die Verhältnismässigkeit zu wahren. Eine Verurteilung des Spielers unter rein moralischen Vorzeichen ist nicht angezeigt. Ist das Bespucken des Gegenspielers verwerflicher, als ihm von hinten brutal in die Beine zu fahren? Ist das aufgeregte mediale Suchen und detektivische Stöbern nach Ungereimtheiten auf dem Fussballplatz richtig? Und die Frage sei erlaubt, ob es tatsächlich einen Sinn hat, unzählige Filmdokumente als Beweis zuzulassen. Darf in Zukunft jeder Zuschauer mit Handkamera zur Wahrheitsfindung beitragen?“