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Ball und Buchstabe

Die Hunde üben heimlich Fallrückzieher

Oliver Fritsch | Dienstag, 22. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Die Hunde üben heimlich Fallrückzieher

Wo waren diese Leute eigentlich während der letzten Woche?

Von wegen Saudade und Fado und Melancholie und Schwermut – Matti Lieske (taz 22.6.) beschreibt portugiesische Begeisterung: “Ein leichter Dunst liegt über dem Tejo, einige ungewohnte Wölkchen schieben sich gelegentlich vor die morgendliche Sonne, dennoch scheint der Himmel zu strahlen in Lissabon am Tag danach. Die Vögel zwitschern unaufhörlich mit großer Begeisterung vor sich hin, und man meint, die Aufstellung der portugiesischen Nationalmannschaft herauszuhören. Die Fliegen führen kleine Tänze auf, die Katzen komponieren schnurrende Oden an die Freude, die Hunde bellen die Nationalhymne und üben heimlich Fallrückzieher. Und die Menschen? Sie leuchten von innen heraus, als sei ihnen letzte Nacht kollektiv die Heilige Jungfrau erschienen. Nach dem Wunder von Fatima hat das Land jetzt das Wunder von Alvalade – und es ist, als sei ganz Portugal mit dem 1:0 gegen Spanien, das den Einzug ins Viertelfinale bedeutet, aus einem bösen Traum erwacht. Dieser hatte eine Woche zuvor begonnen, als der fiese Hexerich Otto Rehhagel mit seinen Griechen die Gastgeber mit einem Bann belegte und alle Begeisterung im Keim erstickte. Die Heftigkeit, mit der sich die Freude über die fußballerische Wiedergeburt am Sonntagabend in der Innenstadt Bahn brach, die unzähligen Autos, aus denen Fahnen und Oberkörper hingen, die bis zum Fingerbruch traktierten Hupen, die sich gegenseitig um den Hals fallenden Menschen in der U-Bahn und auf den Plätzen, die fröhlichen „Portugal“-Gesänge allenthalben zeigten, wie wenig die grundlegend pessimistisch ausgerichteten Portugiesen noch an den Erfolg ihrer Mannschaft geglaubt hatten. Wo waren diese Leute eigentlich während der letzten Woche?“

Ob die Begeisterung über die EM hinaus anhält?

Thomas Klemm (FAZ 22.6.) ergänzt: „Die Europameisterschaft hat das Lebensgefühl eines ganzen Landes verändert. Die Portugiesen leben nicht mehr in den Tag hinein, sondern von einem Spieltag ihrer Selecção zum nächsten. Drei Tage läßt das Gros der fußballverrückten Nation die Fahnen von Balkonen und aus Autos hängen und glücklich die Seele baumeln, während gleichzeitig die Intellektuellen darüber diskutieren, ob der Fußball nur die Alltagssorgen überspiele, ob es noch Patriotismus oder schon Nationalismus sei, was das ausgelassene Volk seit eineinhalb Wochen an den Tag lege. Am vierten Tag aber, wenn die Kicker der Nation auf dem Feld stehen, sind die Bevölkerung und ihre Kritiker plötzlich vereint (…) Ob die Begeisterung über die EM hinaus anhält? Tatsächlich hat Portugal die große Chance, über die Selecção als identifikationstiftendes Objekt die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen einheimischem Bürgertum und Immigranten aus den früheren Kolonien ein Stück weit zu überwinden. Als großes Vorbild kann die Grande Nation gelten: Frankreich und seinen Fußballspielern, zum Teil von Einwanderern aus ehemaligen Kolonien abstammend, war es vor sechs Jahren beim WM-Titelgewinn im eigenen Land gelungen, die multikulturelle Lebenswirklichkeit akzeptieren zu lernen, deren Vorzüge zu feiern. Noch drei Siege für die Selecção, und auch Portugal könnte seinen vielleicht größten Erfolg erringen.“

Holger Gertz (SZ 22.6.) trocknet Tränen: „Von den Spaniern bleibt: nichts. Rückfahrt vom Stadion, Einstieg U-Bahn-Station Campo Grande, ein Abteil voller Portugiesen und einiger Spanier. Die Portugiesen singen, Purrtugall, die Spanier, es sind vier, sitzen auf ihrer Bank. Einer von ihnen drückt beim Hinausschauen seine gelb-rot geschminkte Stirn traurig gegen das Fenster, und als er drei Stationen weiter die U-Bahn verlässt, bleibt von ihm ein kleiner gelber Fleck am Fenster, ein bisschen Farbe, ein Nichts. Für die Portugiesen bleibt der Rest, und der Rest ist: alles. (…) Der Portugiese schaue gern in eine trübe Zukunft. Das sagt der Portugiese von sich selbst. Aber natürlich flippt auch er aus, nach so einem Fußballspiel, klettert fast zum Marques hinauf, feiert wie neulich in Deutschland der Bremer, der ja auch gern in eine trübe Zukunft schaut, wenn nicht der Fußball für Momente alles anders macht. Ganz Lissabon ist auf den Beinen. Endlich mal was gewonnen. Das Wunderbare am Fußball ist, dass er die Leute verrückt macht, eine Nacht lang.“

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