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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

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Gut ausgesehen, schlecht abgeschnitten

Oliver Fritsch | Dienstag, 22. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Gut ausgesehen, schlecht abgeschnitten

„im Rahmen ihrer Selbstfindung entdeckten die Portugiesen ein großes Herz“ (SZ) – „wieder einmal – längst hat man aufgehört zu zählen – schaffte es Spanien, gut auszusehen und schlecht abzuschneiden“ (FR) u.v.m.

England-Kroatien 4:2

Wer eben ein richtiger Engländer ist, der geht hin

Peter B. Birrer (NZZ 22.6.) lässt sich nicht ablenken: „Die Objektive waren vorerst nicht auf die Heroen des Fussballs gerichtet, nein, etwa hundert Kameras nahmen die auf der Tribüne anwesende Victoria Beckham ins Visier. Auch andere Starlets sassen dort, und wer genau hinschaute, der entdeckte sogar zwei, drei versteckte Handbewegungen der sich aufwärmenden Männer. Die Aufregung vor und auf der Tribüne war jedenfalls gross, und man stellte sich nicht zum ersten Mal einige Fragen, worum es in solchen Extremfällen eigentlich geht. Als wenig später die englische Nationalhymne erklang, hinterlegten die Anhänger von der Insel erneut den schallenden Beweis ihrer Kraft. Es waren sicher wieder 40 000 Britinnen und Briten im Estádio da Luz zugegen, obschon der englische Verband weniger als 20 000 Billette erhalten hatte. Aber wer eben ein richtiger Engländer ist, der geht hin. Auch ohne Tickets. Dass die kroatische Hymne von den gleichen Anhängern gellend ausgepfiffen wurde, ist eine andere Sorge, die von wenig Stil zeugt. Irgendwann legte sich zum Glück die Erregung um die Starlets auf der Tribüne. Denn auf dem Spielfeld ging es rasant los.“

Schweiz-Frankreich 1:3

Dario Venuttis (NZZ 22.6.) Daumendrücken hat den Schweizern nichts genutzt: “Die Franzosen sind dieser Tage angenehme Gegner. Es fehlt ihnen an mannschaftlicher Geschlossenheit, weil einige Spieler, besonders die Angreifer Henry und Trézéguet, nicht in Form sind. Dadurch können sie ihr Tempospiel nicht wunschgemäss entwickeln, was sonst fast jeden Widersacher überfordert. Und in defensiver Hinsicht lassen sie dem Gegner Zeit bei der Ballannahme und greifen erst entschlossen ein, wenn dieser in die Nähe des Strafraums vordringt. Wie schon Kroatien machte sich auch die Schweiz diese Ausgangslage zunutze und zeigte, vorab in der ersten Halbzeit, ihr bestes Spiel an der EM. (…) Die zweite Halbzeit bestätigte den Eindruck einer an diesem Turnier fast ebenbürtigen Schweizer Mannschaft. Ihr Defizit war aber wiederum die mangelnde offensive Durchschlagskraft, auch gegen das weiterhin ziemlich passive und abwartende französische Team. Schienen vor der Pause einige Schweizer Aktionen erfolgversprechend werden zu können, fand man später davon nur noch Spurenelemente.“

Spanien-Portugal 0:1

Im Rahmen ihrer Selbstfindung entdeckten die Portugiesen ein großes Herz

Es war viel Herzblut im Spiel, Christoph Biermann (SZ 22.6.): „Patriotismus hatte Nationaltrainer Felipe Scolari in der Vorbereitung des Spiels auf eher unangenehme Weise gekitzelt. Der Brasilianer hatte sich dazu selbst eingebürgert („Bei diesem Spiel bin ich Portugiese“) und in einem Radiointerview martialisches Tamtam gemacht: „Ich rede nicht mit Spaniern. Das ist Krieg, und dort geht es um töten oder getötet werden.“ Angeblich, so erklärte der Coach gestern, sei er bei diesem Interview geleimt worden. Es habe sich um ein vermeintliches Vorgespräch gehandelt, das dann aber ohne sein Wissen live übertragen worden sei. Überhaupt sei, so meinte Scolari, der brasilianische Stil blumiger, und kriegerische Metaphorik eben üblich. Glauben muss man ihm den Rückzieher nicht, aber der gewünschte Effekt war eingetreten. Mit dem Erreichen des Viertelfinales sind die Tage von Zweifel, Zerknirschung und Kritik vorbei. Nach der Niederlage im Auftaktspiel hatten die Erwartungen wie eine Bleiweste um der portugiesischen Mannschaft gelegen, das dürfte sich nun endlich in einen wirklichen Heimvorteil verwandeln. „Wir haben das Spiel gewonnen, das wir gewinnen mussten“, sagte Scolari, und das galt nicht nur streng tabellarisch. Der Sieg über den Nachbarn aus Spanien war nicht nur ein großer, weil er den Gruppensieg und Einzug ins Viertelfinale bedeutete. Damit war auch der Bann gebrochen, dass gegen den großen und oft als arrogant empfundenen Nachbarn auf den Tag genau 23 Jahre lang kein Sieg gelungen war. Und dass die Spanier zugleich aus dem Turnier geworfen wurden, versüßte den Triumph zusätzlich. (…) Eine große Mannschaft ist diese portugiesische immer noch nicht, doch den Mangel an Klasse glich sie gegen Spanien endlich so überzeugend aus, wie man das von Gastgebern großer Turniere gewohnt ist. Im Rahmen ihrer Selbstfindung entdeckten die Portugiesen ein großes Herz, das sich in neunzigminütiger Bereitschaft offenbarte, alle eigenen Grenzen zu überschreiten.“

Kombinationssinn und stupende Ballbehandlung

Felix Reidhaar (NZZ 22.6.) lobt die Spanier: „Auch wenn das Weiterkommen des Teams aus dem Veranstalterland aus atmosphärischer Sicht zu begrüssen ist, bedauert man die vorzeitige Heimreise der Spanier. Sie spielten mit ihrem Kombinationssinn und der stupenden Ballbehandlung vielleicht den elegantesten Fussball dieser Vorrunde. Sie seien schliesslich in Schönheit gestorben, ist ihnen gleichwohl nicht vorzuwerfen. Dafür hatten sie sich zu vehement und stürmisch gegen das drohende Verhängnis gegen Portugal aufgelehnt.“

Nicht Spanien hat verloren, sondern wir haben das Spiel gewonnen

Erfolg sollte man sich selbst gutschreiben, Thomas Klemm (FAZ 22.6.): „Der Schlüssel zum Erfolg, sagte Luiz Felipe Scolari frei von aller Bescheidenheit, seien neben dem entstandenen Teamgeist die Veränderungen gegen Rußland gewesen. Der Nationaltrainer, der bei der WM vor zwei Jahren bereits aus brasilianischen Lustfußballern eine erfolgsorientierte Gemeinschaft geformt hatte, krempelte seine Selecção während des Turniers um, vertraut seither weniger auf die alten Recken der Goldenen Generation, sondern vielmehr auf hungrige, aber mit FC Porto schon international erfolgreiche Profis wie den eleganten Abwehrchef Ricardo Carvalho, den Kämpfer Costinha und den Regisseur Deco; ergänzt wird die junge Garde vom 19 Jahre alten Cristiano Ronaldo, der sich anschickt, seine bei Manchester United gezeigte Güteklasse auch für sein Land zu beweisen. Einen „Wettkampfgeist“ hat der 55 Jahre alte Scolari nun in seiner Mannschaft ausgemacht; ebenjene Einstellung, die beim 35. iberischen Nachbarschaftsduell den entscheidenden Unterschied beider Teams ausmachte. „Nicht Spanien hat verloren, sondern wir haben das Spiel gewonnen“, zeigte sich auch Deco nach tagelangem Bangen selbstbewußt.“

Michael Rosentritt (Tsp 22.6.) fügt hinzu: „Solange die Mannschaft im Rennen bleibt, sind die Fans ein wichtiger sportlicher Faktor. Vor allem Trainer Scolari umgarnt das Volk, weil es ihn in seinem Kleinkrieg mit den Medien unangreifbar macht. Neben dem Mannschaftsgeist bezeichnete der Brasilianer „den Geist des portugiesischen Volkes“ als wichtigsten Faktor für den Sieg gegen die Spanier. Der Trainer bilanzierte: „Es war ein Sieg für all die wundervollen Menschen, die der Mannschaft Vertrauen gegeben haben. Sie haben niemals aufgehört, an uns zu glauben.“ Als der Mannschaftsbus am Nachmittag von der Academia Sporting in Alcochete zum Stadion gefahren war, standen die Menschen an der Strecke und winkten. „Jeder war auf der Straße“, sagte Scolari. Die Fahrt des Busses wurde aus einem Hubschrauber heraus gefilmt und live im Fernsehen gezeigt. Mit seinem Hang zum Pathos passt Felipe Scolari genau in die erwartungsfrohe Stimmung des Landes. Das Spiel gegen Spanien hatte er vorher zum Krieg erklärt, bei dem viel Blut fließen werde. Jemand wie Scolari würde wohl auch sagen, dass die Spanier auf dem Feld der Ehre gefallen seien. Wie so oft bei großen Turnieren. „Die Mannschaft hat als Mannschaft gut gespielt“, sagte Spaniens Trainer Inaki Saez. Am Ende fehlte ein Tor. Es ist, als ob ein Fluch über dem Nationalteam läge. Das Scheitern ist vielen Spaniern unerklärlich. Saez wurde nach dem Spiel gefragt, ob er im Amt bleiben werde. „Das ist nicht der Zeitpunkt, darüber zu sprechen“, lautete seine Antwort. Doch warum sollte es ihm besser ergehen als all den meisten seiner Vorgänger? Obwohl Felipe Scolari zu den portugiesischen Journalisten ein schwieriges Verhältnis pflegt, bleiben ihm solche Fragen erst einmal erspart. Für die Öffentlichkeit gibt er den Sturkopf, der sich in seinen Entscheidungen durch niemanden beeinträchtigen lässt. Was die Journalisten schrieben, sei komplett absurd: „Sie wissen nichts über Fußball, und sie wissen nichts über Journalismus.“ Hinter dieser Fassade aber hat Scolari die Mannschaft immer mehr den Erwartungen der Öffentlichkeit angepasst. Er hat die angeblich goldene, in Wirklichkeit aber erfolglose Generation der Älteren schleichend entmachtet und die jungen Spieler in wichtige Positionen gebracht. Fernando Couto, im ersten Gruppenspiel noch Kapitän, wurde gegen Spanien in der 85. Minute eingewechselt.“

Ronald Reng (FR 22.6.) singt eine Ode auf den schönen Verlierer: “Das Turnier geht weiter, der Fußball hat keinen Stillstand, doch für jene, die die spanische Nationalelf bei dieser EM bis zu ihrem Ausscheiden aus der Nähe erleben durften, sind die Eindrücke von vorgestern noch immer die aktuellen. Und sie hören nicht auf zu schmerzen. Die Geschichte wiederholt sich doch, für Spaniens Fußballelf scheinbar bis zur Unendlichkeit: Wieder einmal – längst hat man aufgehört zu zählen, zum wievielten Mal – schaffte es Spanien bei einer Europa- oder Weltmeisterschaft, gut auszusehen und schlecht abzuschneiden. „Man hat das Gefühl: Mit Spanien ist es immer dasselbe“, sagte Verteidiger Juanito (…) „Ich habe jetzt auf die Schnelle keine Antwort, warum uns das immer passiert“, sagte Inaki Sáez. „Aber ich weiß, warum wir bei diesem Turnier ausgeschieden sind: Es strengt uns zu sehr an, Tore zu schießen.“ Eine Mannschaft, die die Attacke liebt, die zehn anerkannte Offensivfußballer im Aufgebot hat, schaffte es nicht, ein systematisches Angriffsspiel zu inszenieren und mehr als zwei Tore in drei Spielen zu erzielen. „Sie sind mehr Spieler als Torjäger“, sagt Sáez über seine Angreifer, und man verstand, was er meinte: Den klassischen Mittelstürmer, den nur das Tor interessiert und der welche aus dem Nichts macht, hatte Spanien nicht. Viele schöne Momente bleiben zurück, die Tricks von Linksaußen Vicente, die kraftvollen Sprints von Rechtsaußen Joaquín und das Auftauchen im Strafraum aus dem Nichts von Raúl gegen Griechenland, Torres“ Pfostenschuss mit Außenrist gegen Portugal; allein, es blieben Momente, Augenblicke, in denen die Stürmer eine Einheit wurden. Ein Gesamtbild ist nie daraus entstanden. So oft verpassten die Mitspieler um einen Tick Joaquíns Flanken, so oft fehlten ein paar Zentimeter bei Raúls gefährlichen Überraschungspässen. Das ist kein Pech, das ist das, was eine Mannschaft, die so aussieht, als ob sie eine werden könnte, von einer Siegerelf unterscheidet. Sáez will wiederkommen mit diesem Team, es war das jüngste im Turnier. Er hat seinen Vertrag vor der EM um zwei Jahre verlängert. Die Heuchler der spanischen Sportpresse haben ihn unfair kritisiert, seit er den Posten 2002 antrat, sie nennen ihn einen „kleinen Trainer“, weil er zuvor nur als Nachwuchs- nicht als Profitrainer Erfolg hatte, und sie werden ihm auch jetzt wieder mit all der Schlaumeierei kommen, die nach so einem Aus im Nachhinein immer zu hören ist. Dass er falsch gewechselt habe, zu dogmatisch aufgestellt – Unsinn. Was Spanien in Portugal fehlte, war die Dynamik des Erfolgs: der Moment, wenn ein Team spürt, wir rollen, und daraus ein Gefühl wird, das die Elf durch das Turnier trägt.“

Jede Pressekonferenz mit dem 55-Jährigen ist ein Spektakel

Ralf Itzel (BLZ 22.6.) hört Scolari gerne zu: „Vom Fußballspiel, das Portugal veränderte, hatte Luis Felipe Scolari eine Videokassette unter dem Arm. Ob er sich die Partie gegen die Spanier heute Nacht nochmal anschauen werde? „Oh Gott, nein“, sagte er und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Ich war seit zwei Wochen nicht zuhause. Ich gehe jetzt heim und umarme meine Frau.“ Jede Pressekonferenz mit dem 55-Jährigen ist ein Spektakel, jeder Satz ein Feuerwerk, und wenn seine Mannschaft gewonnen hat noch viel mehr. (…) Am Sonntag hat Portugal die Rolle des ewigen Verlierers an Spanien abgegeben. Es ist der Geist des FC Porto, der die Elf beseelt, jetzt bildet der Champions-League-Sieger ihren Kern. Und der Geist eines ganzen Landes. „Kampfgeist“, sagt Solari und ballt zur Bekräftigung die Faust: „Der Schlüssel ist die brillante Einstellung des Teams und des gesamten portugiesischen Volkes.“ Scolari liebt neben den lustigen die bedeutungsschweren Sätze, ganz normal für einen Südamerikaner.“

Pressestimmen aus Portugal und Spanien (oder wie das Synonym-Wörterbuch vielen Journalisten spätestens im zweiten Satz vorschreibt: der iberischen Halbinsel) NZZ

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