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Der Fußball ist in Sachen Massenkonsum unschlagbar

Oliver Fritsch | Mittwoch, 23. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Der Fußball ist in Sachen Massenkonsum unschlagbar

„der Fußball ist in Sachen Massenkonsum unschlagbar“ (FAZ) / „die Gruppenphase lieferte interessante Inhalte, enthielt begeisternde Spiele“ (NZZ) – „Rehhagelismus“ (taz) u.v.m.

Felix Reidhaar (NZZ 24.6.) fasst die Vorrunde zusammen: „Die Gruppenphase lieferte interessante Inhalte, enthielt begeisternde Spiele wie Tschechien – Holland, Portugal – Spanien sowie das skandinavische Duell und bestätigte auch leise Bedenken über die Kompetitivität sogenannt grosser Verbandsauswahlen, die durch mühselige Leistungen in Vorbereitungsspielen entstanden waren. Deshalb kommt das Ausscheiden ambitionierter Teams wie des deutschen, des italienischen und des spanischen so überraschend nicht. Das will nicht heissen, dass diese Formationen aufgrund ihrer überdurchschnittlichen individuellen Kapazitäten nicht zu den besten (acht) gehörten; aber als Einheit erlangten sie nicht die Kompaktheit und mentale Stärke zum potenziell legitimierten Durchbruch. Man darf das bedauern, ohne gleichzeitig die Fortschritte anderer in puncto mannschaftlicher Organisation und Ausgeglichenheit gering zu schätzen. Denn diese Europameisterschaft ist letztlich nur eine Fortsetzung der Entwicklung, die sich auf kontinentaler Klubebene ablesen lässt: Die Teams gleichen sich auf oberem Niveau an, werden immer kompakter, disziplinierter und dadurch stabiler in der taktischen Umsetzung sowie hochklassiger in der individuellen athletischen Verfassung. Das mag ein Grund sein, dass einerseits ältere Semester hier Mühe haben, ein volles Pensum durchzustehen. Anderseits gehört zu den aufschlussreichsten Erkenntnissen, dass der von den Selektionären in Portugal mehrheitlich favorisierte Einmannsturm nicht nur – oder fast nicht – der Realisation als dem erstrangigen und ursprünglichen Zwecke dient, sondern ebenso sehr dem Öffnen der Räume für die offensiven Verbindungsleute. Beispiele wie Pauleta (Portugal), Owen (England), Sand (Dänemark), Raúl (Spanien), Vieri (Italien) oder Kuranyi (Deutschland) belegen dies. Mut und Risikobereitschaft haben Vorsicht und Defensivdenken bisher klar verdrängt.“

Den Fernsehknopf zu drücken genügt, und es beginnt das Verwöhnprogramm aus Portugal

Peter Heß (FAZ 24.6.) ist begeistert von der EM: “Die Bundesligaklubs werden es in einigen Wochen schwer haben, ihre Fans zu begeistern. Die Geschmacksnerven des Publikums erfahren gerade eine Sensibilisierung. Den Fernsehknopf zu drücken genügt schon, und es beginnt das Verwöhnprogramm aus Portugal. Die Vorrundenspiele der Europameisterschaft haben die beste Fußball-Unterhaltung seit Jahrzehnten geboten. Das 3:2 der Tschechen über die Niederlande erfüllte alle Anforderungen eines Klassikers. Viele andere Begegnungen erhöhten den Pulsschlag der Zuschauer, sogar den der neutralen. Taktisch klug, am Ball geschickt und jugendlich frisch präsentierten sich die meisten Mannschaften. Auffällig, daß die unbelasteten Nachwuchsgrößen den etablierten Stars die Schau stahlen. Wayne Rooney, Zlatan Ibrahimovic, Antonio Cassano, Milan Baros, Joaquin und Johann Vonlanthen rückten erstmals in die vorderste Reihe. Auch bei den Deutschen waren die Jungen die Auffälligsten, ohne freilich international in den Blickpunkt zu rücken: Kevin Kuranyi, Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger. Insgesamt ist Fußball-Europa zusammengerückt.“

Der Rehhagelismus dominierte bisher über weite Strecken das Turnier

Laut Matti Lieske (taz 24.6.) wird „Safety-First-Denken“ direkt bestraft: „Ein Grund für die konservative taktische Struktur dieses Turniers liegt möglicherweise im Alter der Trainer. Während die Kader so jung sind wie selten zuvor, ist die Entwicklung bei den Coaches gegenläufig. Rudi Völler ist bei weitem der jüngste, etliche seiner Kollegen sind bereits über 60, die meisten weit in den Fünfzigern. Das läuft komplett dem Trend im Vereinsfußball zuwider, wo jüngere Trainer wie Mourinho, Deschamps, Camacho oder – warum nicht – Thomas Schaaf zunehmend das Bild bestimmen. Natürlich sind ältere Trainer nicht zwangsläufig risikoscheu, jene bei der EM neigen aber eindeutig zum „Safety First“-Denken. Der Rehhagelismus dominierte bisher über weite Strecken das Turnier. Das Schöne bei dieser EM ist, dass die Ängstlichkeit der großen Teams ziemlich konsequent bestraft und manch ein Trainer auf diese Weise zu seinem Glück gezwungen wurde, oft auch auf Drängen seiner Spieler.“

Sven Goldmann (Tsp 24.6.) schaut in die Fußball-Geschichtsbücher: „Siege gegen Spanien zählen in Portugal nicht doppelt, sondern dreifach, weil es zum einen so wenige davon gibt und zum anderen die Spanier noch immer der nationale Lieblingsfeind sind. Der Nachbar im Osten, der immer ein wenig herabblickt auf die Portugiesen und ihnen die Unabhängigkeit über Jahrhunderte hat verwehren wollen. Deswegen ist die Europameisterschaft für die Portugiesen schon jetzt ein Erfolg, unabhängig vom Ausgang des heutigen Viertelfinalspiels gegen England. Dass die Bilanz bei neun Siegen und drei Niederlagen klar für England spricht, ist dem EM-Gastgeber egal. Portugal setzt auf andere Statistiken, etwa auf die, dass in Lissabon seit 1987 kein Länderspiel mehr verloren ging. Oder darauf, dass die letzten beiden Spiele bei großen Turnieren gegen England gewonnen wurden: 1986 bei der WM in Mexiko (1:0) und vor vier Jahren bei der EM in Holland und Belgien (3:2). Von diesem Spiel hat die Fußball-Zeitung „A Bola“ vor dem Viertelfinale noch mal schnell eine Doppelseite veröffentlicht.“
Fußball ist toll

24 Stunden Fußball am Tag, Katrin Weber-Klüver (Spiegel Online) schüttelt sich: „Gefühlte 48 Stunden täglich kann man im Fernsehen erfahren, was in Portugal bei der EM so los ist. Alles, was man schon immer wissen wollte. Zum Beispiel: Wie Hotelsuiten aussehen, in denen sich englische Spieler mit ihrem schwedischen Trainer zu Geheimgesprächen getroffen haben. Oder wie ein ehemaliger Profispieler, der inzwischen davon lebt, dass er durch den Spruch „Was erlauben Strunz!“ in die Geschichte einging und außerdem der Mann zur Frau ist, die als Frau Strunz bald Frau Effenberg wird, wie dieser Strunzerl also darlegt, Fußballer müssten so viel Geld verdienen, weil es echt hart ist, in der Öffentlichkeit zu stehen. Auch toll zu erfahren, wie der Chefkoch der deutschen Mannschaft auf dem Markt einkauft und später in der Hotelküche das Stapeln der Fischfilets an Gemüsenetzen überwacht. Dazu als Zuckerl: Wie sich einer jener ungefähr hundert Ex-Nationalspieler, die inzwischen wegen überragenden Insiderwissens beim TV beschäftigt sind, erinnert, dass es für Fußballspieler oft zu essen gibt, was der Trainer selbst mag. Geheiminfo: Felix Magath steht auf Milchreis. Herzlichen Glückwunsch, Bastian Schweinsteiger und Co. Schweinsteiger, apropos, mit seinem superhippen Straßenköterhaarschnitt, könnte – wenn’s schon nichts wird mit allgemeiner Aufschwunghilfe durch Erfolge des deutschen Fußballs – zumindest das Friseurgewerbe in Fahrt bringen. Irgendein Chefbarbier hat herausgefunden, dass Fußballer heutzutage Rollenmodelle sind. Interessant, oder? Und wussten Sie, dass die dreijährige Tochter eines ehemaligen Auswahlkickers und jetzigen Medienarbeiters jüngst die Windpocken durchmachte? All diese Dinge erfährt man aus dem Fernsehen. (…) Fußball ist toll. Übrigens heute toller als vor 20 Jahren. Aber Fernsehfußballberichterstattung war damals entschieden toller. Und zwar dank maximaler Reduzierung. Wer sich mit dem Selbstversuch Fernsehabstinenz jenseits der Spielübertragungen überfordert fühlt, kann sich das in den steten Wiederholungen alter „Tagesschau“-Ausgaben auf einem der Dritten ansehen: Am 15. Juni 1984 etwa teilte Dagmar Berghoff am Ende der Sendung mit, Bundestrainer Jupp Derwall erläutere nach dem 0:0 beim EM-Auftaktspiel der Deutschen gegen Portugal seinen Spielern Taktik nun mit Pappkameraden. Im Bildhintergrund oben links war ein Foto mit Derwall, Karlheinz Förster und den Pappkameraden zu sehen. Anschließen vermeldete Berghoff noch, Hans-Peter Briegel werde von Kaiserlautern nach Verona wechseln. Oben links im Bild: ein Foto von Briegel. Dann kam die Wettervorhersage. Der Rest war reine Phantasie. Es war keine Welt voll brachialbanaler Enthüllungen, es war eine Welt voll schöner Geheimnisse.“

Der Fußball ist in Sachen Massenkonsum unschlagbar

Dagegen verweist Roland Zorn (FAZ 24.6.) auf die Quoten: „Bei der EM geht es wie zuletzt immer bei den stundenlang ausgebreiteten Großereignissen des Fußballs zu – sogar noch etwas intensiver. Der Ball rollt zwar nach wie vor in der Regel gerade mal neunzig Minuten, doch das Drumherum wird immer aufwendiger. Vorspiel und Nachspiel übertreffen inzwischen in der Summe das Spiel selbst um Stundenlängen: das ist die Dramaturgie des Sport-Event-Fernsehens. Die ARD, die Heribert Faßbender in Portugal als eine Art Mannschaftskapitän repräsentiert, stimmt sich wie die Kollegen vom ZDF mehr als gründlich auf die Spiele ein und macht auch nach dem Abpfiff erst rund eine Stunde später den Weg frei für die „Tagesthemen“ und damit die in die Nacht verschobenen Nachrichten aus der dieser Tage kleiner anmutenden großen Welt der Politik. Ist Fußball wirklich unser Leben? Auf dem Bildschirm der öffentlich-rechtlichen Sender sieht es derzeit so aus, und Faßbender bestätigt: „Auch die Sendungen rund um die EM liegen, was ihre Resonanz angeht, deutlich über den verdrängten Programmen.“ Wer zum Beispiel Pressekonferenzen mit Rudi Völler live überträgt und bis zu 1,5 Millionen Zuschauer begrüßen kann, der staunt selbst ein wenig über solch preiswert produzierte Quotenbringer zur Mittagszeit. Zu schweigen vom Hauptmenü, das den Fernsehmachern wie die reinste Völlerei vorkommen dürfte. Deutschland gegen Niederlande: ein Fall für 23,54 Millionen Zuschauer; Deutschland gegen Lettland, trotz des 0:0 ein Muß für 19,63 Millionen Menschen. Der Fußball, soviel scheint sicher, ist bei seinen größten internationalen Festen unschlagbar – in Sachen Massenkonsum zumindest. Wer mit Marktanteilen von fast 75 Prozent renommieren kann und dabei Quotenkönige wie Thomas Gottschalk – 2003 mit einer Folge von „Wetten, daß . . .?“ bei 16,19 Millionen Zuschauern (50,6 Prozent Quote) der Hingucker des Jahres – locker abhängt, kann sich mit seinem Produkt jedenfalls sehen lassen. Zumal sich das Interesse am Fußball anders als zu früheren Zeiten längst internationalisiert hat. Zur Erinnerung: Bei der für Deutschland völlig mißratenen EM 2000 schalteten sich zum Finale Frankreich gegen Italien 18,33 Millionen Zuschauer ein – Rekord für jenes Jahr.“

Was denn, Mädels?

Ralf Wiegand (SZ 24.6.) zappt sich durch: „Britischer Humor ist, wenn das ZDF Rudi Cerne losschickt, um wie am vergangenen Montag die Stimmung unter den Engländern nach dem 4:2 gegen Kroatien zu erforschen. Oh, lächelte da ein Engländer, sie würden viel Spaß haben und ein paar Bier trinken und sich anständig benehmen. Als Cerne gerade erleichtert zurückgeben wollte ins Studio, fügte der Engländer rasch an: „And we will look for a titty bar.“ Wie auf Kommando wedelten sodann viele Engländer mit Männermagazinen in die ZDF-Kamera, noch ehe sich Cerne („Das werde ich jetzt besser nicht übersetzen“) angemessen errötend verabschieden konnte. Wunderbar! Deutscher Humor ist, was Bild aus Portugal abliefert. Seit Wochen redet uns das Blatt ein, wir seien „portugeil“ und außerdem so gut wie pleite, weshalb wir am Samstag eine von Bild in Kooperation mit einer Supermarktkette auf Seite 1 vermakelte Billig-Plörre samt Wühltisch-Würstel (je sechs Stück zu 79 Cent) kaufen sollten – für die „Völlerei“. Und um mindestens so portugeil zu werden, wie die Bild-Redaktion schon ist, schenkte diese uns am Mittwoch gleich 22 nackte Brüste verschiedenster Konsistenz auf dem Titel und die äquivalenten elf nackten Hintern auf der letzten Seite. Die vorgeblichen „Völler-Verehrerinnen“ forderten dieserart einen Sieg gegen Tschechien. „Sonst“, so die Schlagzeile, „könnt ihr uns mal!“ Was denn, Mädels? Liebe Bild-Kollegen: Unsere Coupé, aus der Ihr die Fotos habt, können wir uns schon noch selber leisten. (…) Sogleich hob Empörung an. Der DGB Baden-Württemberg (!?) beklagte eine „ungeheuerliche Entgleisung“ und forderte „Hirn statt Hintern“ sowie „Themen statt Titten“.“

Zu tief getroffen, deshalb tief betroffen: Finale fatal

Christian Eichler (FAZ 24.6.) steht am Elfmeterpunkt: „Was tun beim Elfmeter? Die Tipps erfolgreicher Praktiker helfen nicht viel weiter. Einige setzen darauf, den Torwart „auszugucken“, dessen Bewegung abzuwarten. Andere hämmern einfach drauf. Wieder andere entscheiden sich vorher für eine Stelle im Tor. Nur welche? Klar ist, daß der Radius auch des längsten Torwarts nicht die gesamten 18 Quadratmeter des Tores abdecken kann. Wie ein Scheibenwischer, dessen Halbkreis die oberen Ecken der Windschutzscheibe nicht erreicht, so können seine Arme die oberen Winkel beim Elfmeter nicht erreichen: Die Diagonale von der Mitte der Torlinie bis zum äußersten Torwinkel beträgt rund 4,40 Meter. Eine Auswertung von 113 Schüssen bei WM- oder EM-Elfmeterschießen beziffert die Wahrscheinlichkeit, hoch in die Ecke zu verwandeln, auf über 90 Prozent. Aber: flach ist einfacher. Der Hochschuß birgt das peinliche Risiko, mit dem Fuß eine Spur zu tief unter den Ball zu kommen und übers Ziel hinauszuschießen, wie Uli Hoeneß im EM-Endspiel 1976 oder Roberto Baggio bei der WM 1994. Zu tief getroffen, deshalb tief betroffen: Finale fatal.“

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