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Hohes Tempo, hohes Risiko, hohe Energie

Oliver Fritsch | Mittwoch, 23. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Hohes Tempo, hohes Risiko, hohe Energie

Holland „wetzt die Messer“ (FAZ) für Dick Advocaat – „vielleicht sollte Jörg Stiel sich ein Bewerbungsvideo von dieser glorreichen EM zusammenschneiden lassen“ (FR)

Die Messer sind gewetzt

Christian Eichler (FAZ 23.6.) fühlt mit Dick Advocaat: „Ewig wird ihm dann das Etikett anhaften, mit dem angeblich unsinnigsten Wechsel der Geschichte einer immer wieder durch sich selbst verhinderten Fußballgroßmacht ein Team genau in dem Moment zerstört zu haben, als er es endlich gefunden hatte. Advocaat kann einem leid tun. Wie muß er Rudi Völler beneiden. Zum einen um die Ausgangsposition, nicht auf die stärksten Tschechen zu treffen. Noch mehr darum, daß beim deutschen Kollegen nicht alle, Fans, Fernsehexperten, Reporter, Spieler, selbst Assistenten, es immer besser wissen als der Chef. Selbst als Advocaat alles richtig machte, konnte er es nie allen recht machen. Nun, da Holland in einem großartigen Spiel nach großartiger Leistung durch einige Fehler, einen davon des Trainers, verlor, stürzen sich alle nur auf ihn. Ein Automatismus, den Giovanni Trapattoni einst in die unsterblichen Worte faßte: „Ich habe immer die Schulde über diese Spieler.“ Andere Trainer würden für ihren Fleiß gelobt; er, der Nächte mit Video-Analysen verbringt, wird nur für seine „viereckigen Augen“ verspottet, ja man höhnt, er nehme gegnerische Aufstellungsvarianten sogar mit auf die Toilette. Kein Wort darüber, daß Advocaat das Team glänzend auf- und eingestellt hatte; kein Wort von den Anfängerfehlern der Abwehr, die den Tschechen vor zwei der drei Tore den Ball schenkte, oder den vielen vergebenen Chancen der Stürmer. Auch die staatserschütternde Auswechslung wäre zumindest diskutabel, denn Advocaat wollte in einer Phase, als die Tschechen immer mehr Platz im Mittelfeld bekamen und der 19 Jahre alte Robben, bei allem Glanz im Angriff, kaum noch Defensivarbeit leistete, bei einer eigenen 2:1-Führung die Defensive stärken. Doch für solch differenzierte Betrachtung ist längst kein Platz mehr im niederländischen Fußball. Der ist nur noch mit einem großen Befreiungsschlag, dem EM-Titel, aus dem Kreislauf der Selbstzerfleischung zu retten. Damit rechnet nun kaum noch einer. Die Messer sind gewetzt.“

Hohes Tempo, hohes Risiko, hohe Energie

Ronald Reng (SZ 23.6.) hofft, dass Wayne Rooney nicht wie Paul Gascoigne endet: „Dann kam Wayne Rooneys Auftritt gegen Kroatien. Es war ein Spektakel. Dass er wieder zwei Tore schoss, war fast noch das Wenigste. Es war die Wiederentdeckung des wahren Englands. Ein Team, das in den drei Jahren unter der konservativen Regie des Trainers Sven-Göran Eriksson erfolgreich, aber viel zu selten unterhaltsam gespielt hat, zeigte endlich wieder „alles, was englischen Fußball ausmacht“, sagte Außenverteidiger Gary Neville, „hohes Tempo, hohes Risiko, hohe Energie“ – und Rooney, diese moderne Version des altmodischen, wild kämpfenden, wuchtigen englischen Fußballers, marschierte vorneweg. Er ließ sich in den Zwischenraum zwischen Angriff und Mittelfeld fallen, er erkannte die Situationen im Voraus und spielte Direktpässe, dass man glaubte, den Ball lachen zu hören. Man verstand, warum sie in seinem Verein, dem FC Everton, meinen, der Stürmer werde einmal als Spielmacher enden. „Er schießt nicht nur Tore – das ist ein Fußballer!“, sagte Eriksson, und dies schien ein Kompliment zu sein. „Manchmal denke ich, man sollte nicht zu viel über den Jungen sagen, damit er nicht überschnappt“, fuhr Eriksson fort, „aber mir fällt nur ein Spieler ein, der so auf die große Bühne trat: Pelé, bei der WM 1958.“ Gary Neville verstummte für einen Moment, als er vom Vergleich mit dem berühmtesten Fußballer der Geschichte hörte. „Ich mache mir ein bisschen Sorgen wegen dem ganzen Rummel“, sagte Neville. Er ist 29, seit neun Jahren im Nationalteam, lange genug, um andere Wunderkinder erlebt zu haben – und zu sehen, wie sie endeten. Neville war zum ersten Mal bei einem Turnier dabei, als Paul Gascoigne bei der EM 1996 seinen letzten großen Auftritt hatte. Es ist Zufall, aber einer mit Pointe, dass nun zeitgleich mit Rooneys Aufstieg Gascoignes Autobiographie erscheint. „Viele Leute sagen mir, dass Rooney sie an mich erinnert“, erzählt Gascoigne: das Draufgängerische auf dem Platz, der außergewöhnliche Spielsinn; dass sie beide scheinbar auch als Leistungssportler das Leben der englischen Arbeiterklasse weiterführten, mit Bier, Hamburgern, auf der Straße kicken. Heute ist Gascoigne bekennender Alkoholiker, er hat „nie gezählt, wie viel Geld ich verdient habe, vielleicht zwanzig Millionen Pfund, und ich weiß auch nicht mehr, wo ich alles ausgegeben habe.“ Doch Rooney habe es leicht, seine Karriere glücklich zu gestalten, sagt er: „Er muss einfach nur alles anders machen als ich.“ Gazza wird sich nie ändern: Er muss immer über alles Witze machen – selbst über sein Scheitern.“

Vielleicht sollte er sich ein Bewerbungsvideo von dieser glorreichen EM zusammenschneiden lassen

Für Frank Hellmann (FR 23.6.) ist Jörg Stiel endgültig gestrandet: „Jörg Stiel ist 1,80 Meter groß – das ist nicht das in Europa übliche Gardemaß herausragender Torsteher von heute. Er trägt im normalen Leben eine Brille – auch das ist nicht gerade das Markenzeichen des Schlussmanns der Moderne. Überhaupt sieht er mit seinem wüst-wilden Haupthaar eher aus wie der Langzeitstudent der Uni Münster, 18. Semester, als ein altersloser Klassekeeper à la Uli Stein. Stiel ist ein Mann mit allerlei Macken. Anscheinend hat ihn das zuvorderst zum Fußball-Torwart befähigt. (…) Stiel, jetzt 36 Jahre alt, hat gestern nach 21 Länderspielen seinen Rücktritt aus der Nationalauswahl erklärt. Profi-Torwart will er bleiben, nur einen Verein hat er noch nicht. Vielleicht sollte er sich ein Bewerbungsvideo von dieser glorreichen EM zusammenschneiden lassen: Am Anfang: verletzungsfreies Aufwärmen. Dazu fehlerloses Singen der Nationalhymne. Dann das 0:0 gegen Kroatien, irgendwo mittendrin seine lustige Einlage, hinter einem über ihn hüpfenden 80-Meter-Schuss herlaufend, auf dem Bauch rutschend, mit dem Kopf berührend. Ball kurz vor der Linie angeschaut und angepackt, Applaus Herr Stiel.“

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