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Heruntergeputzt wie einen Schulbuben
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| Mittwoch, 23. Juni 2004„ob die Gerichtskameras des italienischen Staatsfernsehens RAI den flotten Auftakt zwischen Dänemark und Schweden eingefangen haben?“ (SZ) – „hat sich Christian Vieri schmollend und in ein großes Handtuch heulend zurückgezogen?“ (SZ) – „Zinedine Zidane putzte den behäbigen Angreifer David Trezeguet herunter wie einen Schulbuben“ (BLZ) / Lob für die Schweiz (FAZ) – England siegt, „künftig wird es zwei Nationalheilige im Königreich geben, Saint Georg und den heiligen Sankt Wayne“ (BLZ) u.v.m.
Schweden-Dänemark 2:2
Ob die Gerichtskameras des italienischen Staatsfernsehens RAI den flotten Auftakt richtig eingefangen haben?
In der SZ (23.6.) lesen wir: „Henning Mankell, der schwedische Krimi-Autor, hätte die Dramaturgie nicht spannender gestalten können. Ein 2:2 hatte Dänemark im nordischen Duell mit Schweden benötigt, um selbst bei einem italienischen Sieg über Bulgarien ins Viertelfinale einzuziehen. Und Punktlandung – 2:2 trennten sich Dänen und Schweden. Ob die Gerichtskameras des italienischen Staatsfernsehens RAI, postiert hinter den Toren, den flotten Auftakt richtig eingefangen haben? Den Gewaltschuss von Ljungberg knapp übers dänische Gehäuse, die Schüsse von Jorgensen und Tomasson auf der Gegenseite, den Kopfball von Laursen, der am schwedischen Tor vorbei strich? Nicht nur dreiste Betrugsverdächtigungen (über ein abgesprochenes Remis unter skandinavischen Freunden) waren ja laut geworden im Land des öfter mit Korruptionsproblemen kämpfenden Operettenfürsten Berlusconi – Italien untermauerte sein profundes Misstrauen noch mit lächerlichen Big-Brother-Maßnahmen. „Wir sind ehrliche Leute“, hatte Dänemarks Coach Morten Olsson also vor der Partie gewettert, und selbst ein wenig angespielt auf sizilianische Usancen: Italien könne „über solche Dinge sprechen, aber nicht Dänemark und Schweden.““
Peter B. Birrer (NZZ 23.6.) glaubt nicht an Absprachen: „Die Verlockung war da, ein nordländisches „Päckli“, eine Absprache oder sogar eine regelrechte Verschwörung lagen in der Luft, weil sowohl den Dänen wie auch den Schweden ein Unentschieden (fast) in jedem Fall für den Vorstoss in die Viertelfinals gereicht hätte. Also appellierten die Direktbeteiligten an ihren Berufsstand, der leider nicht immer so ehrenwert ist, wie er gerne dargestellt wird. Weil in solchen Fällen jeweils sehr viel Pathos mitschwingt, hätte man meinen können, dass es um viel mehr geht als nur um ein Fussballspiel. „Ehret unser Land“ war der Leitsatz, der herumgereicht wurde. Nicht alle schienen jedoch den Ruf zu hören. Auf dem Weg zum Estádio do Bessa hatten sich ein paar betrunkene Anhänger aus Dänemark in der Metro von Porto stillos benommen und rein gar nichts unternommen, um den Ruf ihrer Gilde zu verbessern. Der da wäre: Fussballfans sind männlich, besoffen und primitiv. Aber eines war ihren verzerrten Gesängen dann doch noch zu entnehmen: Sie mögen die Schweden nicht unbedingt. Dass dann auch die Schadenfreude im Stadion nicht zu überhören war, als der Halbzeitstand des anderen Gruppenspiels zwischen Italien und Bulgarien (0:1) auf der Anzeigetafel eingeblendet wurde, versteht sich von selber. Nun, auf dem Rasen gab es keinerlei Anzeichen, dass die beiden Teams ohne Tore und mit geteilter Freude in ihre Camps zurückreisen wollten.“
Italien-Bulgarien 2:1
Nachweislich weniger Erfahrung mit getürkten Spielen und bestochenen Schiedsrichtern als Fussballer südlicherer Provenienz
Das konnte ja nichts für die Italiener werden, Felix Reidhaar (NZZ 23.6.): „Von wem sonst an diesem Turnier als von den Italienern hätten die Verschwörungstheorien stammen können, die den entscheidenden dritten Durchgang der Gruppe 3 überlagerten? Das Staatsfernsehen RAI unter der Fuchtel von Ministerpräsident Berlusconi brachte präventiv Kameras im Estadio Dragão an, um genauestens im Bild darüber zu sein, wie im anderen Match zwischen den skandinavischen Teams im Direktvergleich allenfalls eine „Brücke über den Öresund“ („Corriere della Sera“) entstehen könnte, die Schweden und Dänen gemeinsam in die Viertelfinals tragen würde. Die Furcht vor einem 2:2-Remis (oder höher) in diesem Spiel sowie davor, dass die eigenen Anstrengungen in Guimarães dann vergebliche Müh gewesen sein könnten, liess die Entourage der Azzurri wieder einmal die Contenance verlieren, sie, die sich so häufig in der Vergangenheit betrogen oder unzureichend respektiert fühlte. Die Perplexität bei den nordischen Konkurrenten ob dieser Verdächtigungen war verständlich; sie haben nachweislich weniger Erfahrungen mit getürkten Spielen und bestochenen Schiedsrichtern als Fussballer südlicherer Provenienz. Giovanni Trapattoni hatte dagegen Sorgen ganz anderer Art. Er musste gleich drei gesperrte Teamstützen wie Captain Cannavaro, Totti und Gattuso sowie den leicht angeschlagenen Zanetti ersetzen. Ob er gleich auch noch auf die bisher einzige Sturmspitze Vieri verzichtete, weil sich dieser an einer Medienkonferenz öffentlich mit Journalisten angelegt hatte, liess sich exakt nicht in Erfahrung bringen. Dadurch erhielt die Squadra Azzurra personell wie taktisch ein stark verändertes Gesicht: mit dem 4:3:3 deutete der C. t. jedenfalls die – notwendige – Stossrichtung seines Teams an. Es musste Tore schiessen – vorsorglich mehrere. Und das gehört nicht zu den Stärken ihrer Auswahlen. Noch nie hat eine an einem EM-Match mehr als deren zwei erzielt. Nun ergriff sie mit einem Dreimannsturm die Initiative, per se aus ihrer Sicht eine Merkwürdigkeit, aber eine Anordnung, die zunehmend einen schnellen Match mit verschiedentlich aussichtsreichen Gegenstosschancen der Bulgaren begünstigte.“
Hat sich Vieri schmollend und in ein großes Handtuch heulend zurückgezogen?
Die SZ (23.6.): „Der Himmel über Guimarães weinte schon vorher bitterlich. Dieses Omen war etwas penetrant, aber berechtigt: Italien verabschiedete sich glanzlos von dieser EM, und nach dem 2:1 dürften viele Tifosi weniger aus Trauer über das Aus denn vor Wut über die Leistungen ihres Teams geweint haben – wenn sie sich nicht gerade über den Referee ärgerten, der Bulgarien angeblich einen Elfmeter schenkte, den Italienern aber einen verwehrte. Oder sie schimpften über Schweden und Dänen, die ja tatsächlich – wie angeblich verabredet – 2:2 gespielt hatten. Doch nichts konnte davon ablenken, dass niemand mehr Schuld am Aus Italiens hatte als die Italiener selbst. Man dürfe nicht an das Duell der Skandinavier denken, hatte Italiens Kapitän Fabio Cannavaro vor der abschließenden Partie verlangt. Stattdessen wolle er den Geist des Schweden-Spiels wieder sehen. Dass der Verteidiger Verstärkung aus der Zwischenwelt anforderte, war nicht verwunderlich, schließlich fehlten den Azzurri mehrere vermeintliche Stammspieler: Außer Totti mussten die Gelb-gesperrten Gattuso und eben Cannavaro ersetzt werden. Außerdem hatte sich Christian Vieri abgemeldet, er nahm zunächst nur auf der Ersatzbank Platz – nicht etwa wegen psychischer Überlastung, obwohl seine Tirade am Sonntag gegen Gott und die Medien den Schluss zuließ, er habe sich schmollend und in ein großes Handtuch heulend zurückgezogen.“
Schweiz-Frankreich 1:3
Peter Heß (FAZ 23.6.) lobt die Schweizer: “Während der 90 Minuten sahen sie einem Klasseteam zum Verwechseln ähnlich, ihr Auszug aber entlarvte die Schweizer Nationalspieler als Einwohner eines Fußball-Entwicklungslandes. Große Mannschaften werden nicht mit Ovationen verabschiedet, wenn die Abschlußbilanz nur einen Punkt und ein Tor auf der Habenseite ausweist. Immerhin schrieb ein Schweizer Fußballgeschichte. Johann Vonlanthen verdrängte mit seinem Treffer Wayne Rooney als jüngsten EM-Torschützen aus den Rekordlisten. Aber nicht die Erwähnung eines Schweizers in den Statistiken erfüllte die Eidgenossen mit Stolz und Begeisterung. Die unerwartet gute spielerische Leistung gegen den Europameister versöhnte den Anhang mit den gewohnt ärmlichen Ergebnissen ihrer Nationalelf bei einem großen Fußballturnier. Der Entdeckung der Jugend verdankt die Schweiz ihren neuen Schwung. Nationaltrainer Jakob „Köbi“ Kuhn brach, als es nichts mehr zu verlieren gab, mit seiner jahrzehntelang gepflegten Tradition, nur Bewährtem zu vertrauen. Vielleicht animierte ihn Rooneys Auftritt als Quälgeist der Schweizer Abwehr im zweiten Gruppenspiel, diesmal die jungen und dynamischen unter seinen Spielern aufs Feld zu schicken. (…) Zwar verbesserte der Erfolg über die Eidgenossen ihre Vorrundenbilanz auf zwei Siege und ein Unentschieden. Aber von der Mannschaft wird mehr erwartet – der begnadete Fußball der vergangenen Jahre. Doch über die Ergebnisse hinaus vermochte der Europameister nicht zu überzeugen. Auch gegen die Schweiz offenbarten die Franzosen Alterserscheinungen. Die Eidgenossen wirkten im Mittelfeld dynamischer.“
Zinedine Zidane putzte den behäbigen Angreifer David Trezeguet herunter wie einen Schulbuben
Die Franzosen sind auch nur Fußballer. Ralt Itzel (SZ 23.6.): „Auch gegen die Schweizer war es ein hartes Stück Arbeit gewesen, viel zu hart angesichts deren schwachen Niveaus. Es gelingt den Franzosen derzeit nicht einmal, einen Gegner wie diesen zu dominieren. In Bestform hätten sie ihn ausgetanzt oder überrannt. In der ersten Halbzeit boten die Eidgenossen sogar meist den überzeugenderen Fußball. Zidanes drittes Turniertor (20.), diesmal per Kopf nach einem Eckstoß von Robert Pirès, fiel entgegen dem Spielverlauf. Doch die Schweizer verschafften sich Gerechtigkeit. Frankreichs einst schier unüberwindbare Abwehr erlaubte ihnen den einzigen Treffer beim Aufenthalt in Portugal. Der 18-jährige Naseweis Johan Vonlanthen, für den einer Spuck-Attacke überführten Alexander Frei aufgeboten, flitzte an Silvestre vorbei und löste durch seinen feinen Streich den Engländer Wayne Rooney als jüngsten Torschützen der EM-Geschichte ab (26.). Zidane wurde da allmählich sauer. Erst putzte er den behäbigen Angreifer David Trezeguet herunter wie einen Schulbuben. Dann, als er zur Pause Richtung Kabine stapfte, riss er sich frustriert die Kapitänsbinde vom Arm. (…) Nun begleiten den Titelverteidiger noch mehr Zweifel auf seiner Reise durch Portugal. Denn nicht die Organisation einer Elf entscheidet über die Leistung einer Mannschaft, sondern die Akteure, die ihr Leben verleihen. Aber begeistert und hungrig wirkten bisher nur wenige der Blauen. Mit Tschechiens erster Elf könnten die Franzosen in dieser Verfassung kaum mithalten. Aber es geht ja nicht gegen die Tschechen am Freitag in Lissabon, Otto Rehhagels Griechen gelten als eine eher leichte Aufgabe. Platz eins ihrer Viererkonkurrenz hat den Blauen im Vergleich zum Gruppenzweiten England einen Tag mehr Pause verschafft. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil. „Davon wollen wir profitieren und uns gut erholen“, sagte Zidane, leerte seinen Plastikbecher und schnappte sich einen neuen.“
Kroatien-England 2:4
Künftig wird es zwei Nationalheilige im Königreich geben, Saint Georg und den heiligen Sankt Wayne
Barbara Klimke (BLZ 23.6.) staunt: „Sein halbes Leben hat Englands Nationalcoach Sven-Göran Eriksson dem Fußball gewidmet; am Montag gegen 22 Uhr Ortszeit aber stellte er seine Trainertätigkeit vorerst ein. „Wenn Sie mich fragen, wie Wayne Rooney Tore schießt, muss ich sagen: Ich weiß es nicht“, erklärte Eriksson. „Übers Toreschießen kann ich ihm nichts beibringen.“ Möglicherweise kann er seinem Schüler noch mit dem einen oder anderen Tipp in taktischem Verhalten behilflich sein. Ansonsten aber sieht er sich leider am Ende seiner Fähigkeiten: „Wayne Rooney ist erst 18 Jahre alt, aber er ist schon ein kompletter Spieler“, schwärmte der Trainer. „Er schießt nicht nur vorne die Tore, er versteht auch das Spiel.“ Und so sei er, Sven-Göran Eriksson, froh und dankbar dafür, diesen Begnadeten in seinem Team zu haben, diesen „Star der Europameisterschaft“. Wer bisher glaubte, um derart angebetet zu werden bedürfe es der Fähigkeit, Blinde sehend zu machen, möglicherweise auch eines gottesfürchtigen Lebens, der sah sich getäuscht. Im Falle Wayne Rooneys, des 18-jährigen Stürmers vom FC Everton, reichten zwei Tore zur Verklärung völlig aus. Es steht nun fest: Künftig wird es zwei Nationalheilige im Königreich geben, Saint Georg und den heiligen Sankt Wayne.“
Rooneymania
Matti Lieske (taz 23.6.) über den Shootingstar des Turniers: „Irgendwann ging Otto Baric die Rooneymania der britischen Reporter gehörig auf die Nerven. Gequält verdrehte der kroatische Trainer die Augen, als ihn jemand fragte, ob es bei dieser EM denn irgendeinen gäbe, der Wayne Rooney stoppen könnte. Dann raunzte er: „Er ist ein sehr guter Spieler, aber es gibt in Europa mindestens zehn Leute, die ihn stoppen können.“ Ein Kroate ist offenbar nicht darunter. Mit zwei Toren und der Vorbereitung des Ausgleichstreffers durch Scholes zum 1:1 war der 18-jährige Stürmer vom FC Everton erneut Englands Matchwinner beim 4:2 gegen Kroatien, sorgte für den Einzug ins Viertelfinale gegen Portugal und nebenbei dafür, dass kaum noch jemand von David Beckham redet. Alle reden von Wayne Rooney. Sehr gern auch Englands Trainer Sven-Göran Eriksson, der nicht müde wird, seinen Shootingstar, im wahrsten Sinne des Wortes, zu preisen. „Ich bin glücklich, ihn in meinem Team zu haben“, sagt der Schwede und kann sich auf Nachfrage natürlich nicht erinnern, seit Pelé 1958 einen Spieler dieses Alters gesehen zu haben, der einen solchen Einfluss auf ein großes Turnier genommen hat. Was auch Erikssons Verdienst ist. Im Gegensatz zu Kollegen wie Menotti oder Parreira, die ihre 17-jährigen Supertalente Maradona und Ronaldo bei den Weltmeisterschaften 1978 bzw. 1994 nicht einsetzten, lässt er Rooney spielen. Und zwar ausgiebig. Ausgewechselt wird er erst, wenn er seine Schuldigkeit getan hat. Dann darf er sich den Jubel der englischen Fans abholen, die ihn vollständig in ihr Herz geschlossen haben, vor allem, weil sie ihn als einen der Ihren betrachten. Sie sind überzeugt, dass der aus einfachen Liverpooler Verhältnissen stammende Jüngling bei ihnen auf der Tribüne stände, wenn er nicht zufällig unten auf dem Rasen zu tun hätte. „Roooooney, Roooooney, Roooooney“ ist der neue Lieblingsruf der britischen Anhänger, was deutsche Zaungäste an die Huldigungen erinnert, die früher einem gewissen „Ruuuudi“ zuteil wurden.“