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Mittelmäßigkeit und Gleichförmigkeit

Oliver Fritsch | Donnerstag, 24. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Mittelmäßigkeit und Gleichförmigkeit

„für Verzweiflung besteht kein Anlass“ (Tagesspiegel) / „Mittelmässigkeit und Gleichförmigkeit“ in der DFB-Elf (NZZ) / „da war kein Feuer im Team“ (FR) – die Holländer können’s kaum fassen (SZ) – „sollte das 2:2 zwischen Dänemark und Schweden doch ein grandioses Täuschungsmanöver gewesen sein, dann Hut ab“ (FAZ) – „die Italiener sind schlechte Verlierer“ (FR) / „ausgerechnet die Italiener fühlen sich von einer Wikinger-Mafia verschaukelt“ (FAZ) / „halb Berlusconien schreit Zeter und Mordio“ (SZ) u.v.m.

Deutschland-Tschechien 1:2

Das war viel zu wenig, Ludger Schulze (SZ 24.6.): „In einer staunenswert schlechten deutschen Mannschaft gab es während der ersten Hälfte einen, der Fußball spielte, kämpfte, grätschte, Pässe zum Nebenmann brachte und zunächst das Tor schoss, das man vom ihm erwartet hatte. Es ist der Mann gewesen, der im Dress des FC Bayern das Publikum und die Vereinsverantwortlichen ratlos machte, weil man sich in Anbetracht seiner Leistungen fragen musste, wo er sein unbestreitbares Können gelassen hatte. Mitunter spielte er so nervtötend lau, dass sich die Klub-Bosse irgendwann überlegten, den Spieler mit der Nummer 13 zu veräußern. Zweifel daran kamen allerdings immer dann auf, wenn er für Rudi Völlers Nationalteam antrat – und oft überzeugte. Der Mann zwischen Tag und Nacht ist Michael Ballack. Die Nacht über dem Stadion in Lissabon zog kurz nach der Pause ein. Zwar war es immer noch Ballack, der am meisten im Bild war bei den Weißen, aber auch er ging mit ihnen unter. Einmal nur, bei seinem Schuss an den Pfosten, sorgte er für Gefahr für das tschechische Tor, aber er war es wieder nicht, der die großen Signale setzte. Wie schon mit den Bayern in der Champions League gegen Real Madrid. Es gelang Ballack nicht, mit seiner Aura abzustrahlen, es gelang ihm nicht, die anderen mitzureißen, ihnen ihre Ängste zu nehmen, sie zu beruhigen. Torwart Kahn trägt zwar die Kapitänsbinde, aber Ballack ist der Chef dieser Mannschaft für die EM 2004, die gegen eine B-Elf unterging.“

Mittelmässigkeit und Gleichförmigkeit

Felix Reidhaar (NZZ 24.6.) fügt hinzu: „Eine noch so überragende Spielerfigur Michael Ballack hat für den WM-Zweiten Deutschland nicht ausgereicht, gegen Tschechiens „zweite“ Nationalmannschaft den nötigen Sieg zu erzielen. Rudi Völlers gegen Holland an sich vielversprechend zum Turnier gestartete Equipe fehlte es nach der einfallslosen Leistung gegen Lettland erneut an Inspiration und spielerischer Klasse, um aus der zuletzt so oft demonstrierten Mittelmässigkeit und Gleichförmigkeit herauszufinden. Gegen die Tschechen, die sich nach Kräften wehrten, liessen es die Deutschen nicht am Willen und Kampfgeist fehlen, sie unternahmen alle Anstrengungen und standen einem Tor in ihrer Druckperiode nach der Pause sehr nahe, doch das Glück konnten sie diesmal nicht erzwingen. Sie wurden im Gegenteil 2:1 geschlagen und bleiben damit seit dem EM-Titelgewinn in London 1996 – gegen die Tschechen – ohne Sieg in sechs EM-Endrundenspielen. Die Skeptiker in den deutschen Medien erhielten damit für ihre pessimistische Einschätzung Recht. Und die Holländer brauchen sich nicht weiter zu ärgern über den tschechischen Rückgriff auf die Reserven. Diese spielten von Beginn weg fair und engagiert um den Sieg, der ihnen zwar schmeichelte, den sie aber nicht stahlen.“

Till Schwertfeger (Spiegel Online) zensiert: „Die Schulnote sechs wäre in der Tat eine angemessene Beurteilung für die Darbietung der deutschen Mannschaft in den ersten 45 Minuten. Als hätten sie kiloweise Blei in den Schuhen, lahmten einige Nationalspieler über den Platz, am schlimmsten sah es bei Didi Hamann aus.“

Da war kein Feuer im Team

Was für eine holprige Partie! Jan Christian Müller (FR 24.6.): „Der DFB-Elf war die Nervosität spürbar anzumerken. Gehemmt, ängstlich, fast hilflos waren sie in der ersten Halbzeit zu Werke gegangen, ohne Ideen, ohne Esprit. Da war kein Feuer im Team, vieles war zu statisch, so als trüge jeder Spieler noch einen extra schweren Tornister auf dem Rücken. Ähnlich holprig wie die deutsche Elf hat sich nur die Gattin des DFB-Präsidenten Gerhard Mayer-Vorfelder angestellt, als sie mit hochhackigen Schuhen und einem Rollkoffer übers Kopfsteinpflaster ins Stadion Jose Alvalade unterwegs war. Zu verstehen war nicht, warum das deutsche Team nicht in Schwung kam. Die erste Halbzeit hatten Völlers Mannen komplett verschlafen. Vieles wirkte pomadig. Schneider war ein Totalausfall, auch Frings war nicht viel besser auf der rechten Seite, Hamann machte das ohnehin nicht schnelle Spiel der Deutschen immer wieder unnötig langsam.“

Michael Rosentritt (Tsp 24.6.) beobachtet den Bundestrainer: „Rudi Völler hatte seine eigene Taktik geändert. Für das entscheidende Spiel hatte er sich mit verschränkten Armen an der Seitenlinie aufgestellt – und blieb dort stehen, während seine Spieler versuchten, den Ball auf dem Rasen zum Laufen zu bringen. Normalerweise schaut sich der Teamchef der deutschen Nationalmannschaft die Spiele zunächst im Sitzen an – doch je ängstlicher seine Mannschaft agierte, umso nervöser rannte Völler herum. Doch Völlers Engagement übertrug sich selten auf sein Team.“

Tim Bartz (FTD 24.6.) gratuliert Karel Brückner: „Die Tschechen gelten gemeinhin als liebenswerte Schlitzohren. Legende sind die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk. Unter der Flagge der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn überlebte der gewitzte kleine Mann den Ersten Weltkrieg dank seiner ausgeprägten Bauernschläue und seines überwältigenden Humors. Über seinen literarischen Vater Jaroslav Hasek heißt es, er habe Geld zeitweise auf böhmischen Kirmesplätzen mit einem Trick verdient: So habe Hasek Neugierige mit dem Versprechen in sein Zelt gelockt, ihnen ein Erlebnis zu bieten, das sie nicht vergessen würden. Einmal hineingelockt ins abgedunkelte Rund, habe er die Kunden mit einem kräftigen Tritt in den Hintern gleich wieder hinaus befördert – fürwahr Entertainment der besonderen Art. Und dann war da noch Antonin Panenka: Im EM-Finale 1976 traf die damalige CSSR auf Deutschland und besiegte den amtierenden Weltmeister nach Elfmeterschießen. Den entscheidenden Strafstoß versenkte der Prager auf bis dato nicht gekannte Art: Panenka nahm einen langen Anlauf, ruderte wild mit dem linken Arm, um Sepp Maier im Tor der Deutschen den Eindruck zu vermitteln, den Ball im rechten Eck zu versenken – um ihn dann mit einem butterweichen Tupfer aufreizend lässig direkt in die Tormitte zu löffeln. Die aktuelle Schwejk-Hasek-Panenka-Variante heißt Karel Brückner, ist Trainer der tschechischen Auswahl und wird ob seiner schlohweißen Haarpracht liebevoll „Kleki-petra“ genannt, frei nach dem weisem Vater Winnetous, dem Häuptling der Apachen. Im letzten Gruppenspiel gegen Deutschland verzichtete Brückner gestern Abend gleich auf neun Stammspieler seiner bereits für das Viertelfinale qualifizierten Mannschaft. In erster Linie natürlich, um Kräfte zu schonen und Spielsperren zu vermieden. Womöglich aber auch, um die Deutschen zu demütigen, falls sie es nicht schaffen würden, sein B-Team zu schlagen.“

morgen im freistoss: mehr über das Ausscheiden der Deutschen

Holland-Lettland 3:0

Stefan Hermanns (Tsp 24.6.) notiert: „Dick Advocaat ist doch im Stadion Braga erschienen. Der Trainer der Niederlande hat das Rückflugticket nicht genutzt, das enttäuschte Fans für ihn gekauft hatten. Flug TV 541 hob ohne Advocaat ab. Der Trainer wird mindestens bis Samstag bei der EM in Portugal bleiben.“

Peter B. Birrer (NZZ 24.6.) ist genervt: „Vor dem Spiel war ein x-tausendköpfiger, orangefarbener, vorwiegend alkoholisierter Menschen-Wurm durch die kleine Stadt gezogen, einem Saubannerzug ähnlich, da anlässlich einer Euro offenbar jedes Verhalten erlaubt ist. Der Sicherheitsdienst schaute nur hilflos zu, und dem Verkehr blieb nur noch eines übrig: der Zusammenbruch. Die Oranjes nahmen in der Tat wenig Rücksicht, mussten auf tschechische Schützenhilfe hoffen und belagerten schon Stunden vor dem Spielbeginn erwartungsfroh die schmucke Sportstätte, die für einen Abend fast nur in die Farbe Orange gehüllt war. Auf dem Rasen entwickelte sich ein Geschehen mit bizarren Zügen. Und zwar nicht, weil einen der Bauch des Stadions und die Umgebung an die Kulisse eines James-Bond-Films erinnern, sondern, weil schon bald einmal das Spiel zwischen Tschechien und Deutschland auf mehr Interesse stiess als jenes in Braga. Die Menge heulte auf, als die Tschechen zum 1:1 ausglichen. Die Menge begann kurz darauf wieder zu jubeln – und niemand wusste warum. Einfach so. Tschechien wurde auf breiter Front bejubelt. Im Stadion selber fragte man sich, wie lange wohl die lettische Mauer den Angriffen des Favoriten würde standhalten können, der ja tatsächlich gegen den einen Felsen auf der Längsseite des Estádio anrannte. (…) Der Mist war aus Sicht der Niederländer geführt – oder je nach Sichtweise: der Steinbruch bearbeitet.“

Die Holländer können’s kaum fassen, Christoph Biermann (SZ 24.6.): „Am Ende blickten sie sich an, als sei alles ein Märchen. Als hätten sie geträumt. Nein, die Spieler der Niederlande hatten vor dieser Partie nicht daran geglaubt, dass sie ins Viertelfinale einziehen. Es war eine dieser Partien, wie wir sie von den Zuspitzungen letzter Spieltage aus der Bundesliga kennen, bei der eine Mannschaft auf den Ausrutscher einer anderen warten muss. In Braga schienen beide Teams zunächst auf ein Signal aus Lissabon zu warten. Offensichtlich wussten vor allem die holländischen Spieler nicht so recht, was sie mit der Begegnung anfangen sollten. Müde und ratlos trabten sie über den Rasen, dazu dösten ihre Fans auf den Tribünen vor sich hin. Van Nistelrooy vergab nach einer Viertelstunde eine Chance so, wie er das selten tut. Frei vor dem lettischen Keeper schoss er Aleksandrs Kolinko an. Die Depression erreichte ihren Tiefpunkt, als die deutsche Führung aus Lissabon gemeldet wurde. Viele Holländer hatten Radios mitgenommen, denn plötzlich war es so still im Schatten der Felswand, dass man die Rufe der Spieler hören konnte. Doch innerhalb von zehn Minuten änderte sich alles. Die Niedergeschlagenen kamen aus dem Jubeln gar nicht mehr heraus.“

Schweden-Dänemark 2:2

Heinz-Wilhelm Bertram (FTD 24.6.) hat das Spiel gefallen – und das Nachspiel: „Vielleicht beging Olsen, der erfahrene, weit gereiste Coach, nun einen Fehler. Er wechselte von seiner geschäftsmäßigen Redeweise in eine Tonart der Empörung, die darauf schließen ließ, er sei eher beleidigt denn verletzt über diesen Vorwurf: „Das ist doch lächerlich, absolut lächerlich!“ Olsen verlor für einen Moment seine Souveränität und Fassung – und genau das deuteten italienische Medienvertreter als vorgespielt und unehrlich. Es wurde nachgefasst, und Olsen grollte ein zweites Mal: „Es ist einfach nur lächerlich.“ Der Auftritt von Schwedens Trainer Lars Lagerbäck war hingegen ein Lehrstück darüber, wie jemand seine innere Haltung ganz unverstellt Dritten vermitteln kann. „Wenn sich Italiens Trainer Giovanni Trapattoni das Video zu dem Spiel ansehen wird, dann wird er sehen, dass es ein total reelles Match war. Es war ein grundanständiges Spiel, das beide Mannschaften unbedingt gewinnen wollten. „Unglücklicherweise“, so Lagerbäck, sei es so ausgegangene, dass es für Gerüchte Platz biete. Im feinsten Sprühregen bei 18 Grad entfaltete sich ein Spiel voller Leidenschaft und Hingabe, das in seinen kleinsten Aktionen wie auch in seinem großen dramaturgischen Bogen unendlich weit entfernt war von Verschwörungsplänen. Jedes Fußballspiel hat seinen eigenen Herzschlag, und das zwischen Dänemark und Schweden hatte einen kraftvollen, gesunden. Hier die leichtfüßigen, variablen, kreativeren Dänen, da die kraftvollen, kompakten, etwas behäbigen Schweden mit ihrem englisch geprägten Stil. Es war ein rassiges Hoch und Runter im prestigeträchtigen Wettkampf um die inoffizielle nordische Meisterschaft. Die Dänen wollten den Sieg dem äußeren Eindruck nach zwingender als der Rivale aus dem großen Nachbarland.“

Sollte es doch ein grandioses Täuschungsmanöver gewesen sein, dann Hut ab

Peter Heß (FAZ 24.6.) sah ein mitreißendes Duell: “Nach der zweiten Nachfrage verlor Morten Olsen die Geduld und die gute Laune: „Ich beantworte zu diesem Thema keine Fragen mehr. Das ist lächerlich.“ Womit der Trainer der dänischen Fußball-Nationalmannschaft natürlich die Verschwörungstheorien der Italiener unterstützte. Die Südeuropäer hatten schon vorher gemutmaßt, daß das letzte Vorrundenspiel zwischen Dänen und Schweden 2:2 enden würde, weil dieses Ergebnis ihrer Squadra Azzurra keine Chance mehr ließ, an einem der beiden Teams vorbeizuziehen und das Viertelfinale zu erreichen. Aber wer das Spiel im Estádio do Bessa verfolgt hatte, mußte Olsen recht geben. In diesem intensiven, hin und her wogenden Match sah nichts nach Absprache aus. Sollte es doch ein grandioses Täuschungsmanöver gewesen sein, dann Hut ab. Dann war es die perfekte Illusion eines Zauberkünstlers à la David Copperfield, dessen Tricks die Gesetze der Natur außer Kraft zu setzen scheinen. Aber der amerikanische Magier kann seine Show monatelang vorbereiten, mit hohem technischen und finanziellen Aufwand an einer effektvollen und überzeugenden Aufbereitung feilen. Den skandinavischen Fußballprofis hätte nichts anderes als ihr Geschick und ihre Improvisationskunst zur Verfügung gestanden. Nein. Es war nicht nur die Darstellung eines epischen Kampfes um den Ball. Die beiden Teams boten ganz real ein mitreißendes Fußballspiel. Bei skandinavischen Wetterverhältnissen – 17 Grad und Sprühregen.“

Selbst beim Weltuntergang würde ein Luigi oder ein Pietro hinter uns stehen und schreien: zwei zu zwei

Nach dem Spiel gab es nur ein Thema! Wolfgang Hettfleisch (FR 24.6.): „“Das ist doch lächerlich. Jeder hat gesehen, dass dies ein ehrliches Spiel war“, ärgerte sich der dänische Coach Morten Olsen nach einer über weite Strecken überlegen geführten Partie seiner Elf über die Verschwörungstheorien aus dem italienischen Lager. Und Lars Lagerbäck, die schmalere Hälfte des für gewöhnlich ziemlich entspannten schwedischen Trainer-Doppel-Whoppers, keilte entrüstet zurück: „Die Italiener haben sich selbst blamiert. Wenn jemand behauptet, dass es hier nicht fair zugegangen wäre, hat er keine Ahnung vom Fußball.“ Tatsächlich ließ die Dramaturgie des unterhaltsamen Spiels in Porto keinen Raum für Spekulationen. „Die Absprache wäre einmalig raffiniert mit Pfostenschüssen, Traumparaden und viel Zufallsdramatik in Szene gesetzt worden“, mokierte sich tags darauf Svenska Dagbladet über die unhaltbaren Vorwürfe. „Es ist unmöglich, so ein Ergebnis zu arrangieren. Das könnte nicht einmal Steven Spielberg“, befand Schwedens Torjäger Henrik Larsson. Und doch ahnte das schwedische Massenblatt Aftonbladet bei allem Frohlocken über die „verrückte Nacht“ von Porto: „Selbst wenn die Ewigkeit uns noch eine Eiszeit bringt, und aus dieser Eiszeit entsteht eine neue Welt, und diese Welt brennt dann wieder ab – selbst dann würde ein Luigi oder ein Pietro hinter uns stehen und schreien: zwei zu zwei.“ Mag sein. Jedenfalls wird kein Offizieller der Uefa hinter einem schwedischen Offiziellen aus dem Boden wachsen, um ihm vorwurfsvoll dieses Ergebnis ins Ohr zu flüstern, das sich die Fans zu beiden Seiten der Öresund-Brücke vorher gewünscht hatten. Die Uefa sieht keinen Grund, die Partie genauer unter die Lupe zu nehmen. „Es gibt keinen Anlass, um eine Untersuchung einzuleiten. Es sind keine Proteste bei uns eingetroffen“, sagte Julien Sieveking, Mitglied der Uefa-Disziplinar-Kommission.“

Italien-Bulgarien 2:1

Mamma, butta la pasta

Birgit Schönau (SZ 24.6.) winkt den Italienern zum Abschied: „Als Antonio Cassano in der 94. Minute den Siegtreffer erzielte, ein nunmehr sinnloses 2:1, als er sich freute wie ein Kind und die Arme hochriss, im Glauben, seiner Mannschaft die Qualifikation fürs Viertelfinale beschert zu haben – da hatte ein Witzbold auf der Tribüne schon sein Spruchband herausgehängt. „Mamma, butta la pasta“, stand darauf, Mamma, wirf die Nudeln ins Wasser. Was man so sagt, als Italiener, wenn man auf dem Weg nach Hause ist und Hunger hat wie ein Wolf nach einer Menge Abenteuern in einer feindlichen Welt. Mamma, gib“ die Pasta herein, in zehn Minuten sind die Nudeln al dente, und ich stehe in der Haustür. Es war ein versöhnliches Schlusswort nach dem ziemlich unwürdigen Zirkus der italienischen Nationalmannschaft, die sich immer knapp am eigentlichen Gegner vorbei auf internationale Verschwörungen, übel wollende Schiedsrichter und zynische Journalisten eingeschossen hatte. Nur Cassano, der heulte Rotz und Wasser, nachdem sie es ihm gesagt hatten. Der zweite Torwart Francesco Toldo war von der Bank aufgestanden, Trauer im Blick. Zweizuzwei im Wikinger-Derby, Antonio. Fasse dich. Wir gehen nach Hause. Unaufhörlich war der Regen auf das Estádio Afonso Enriques in Guimarães niedergegangen und hatte unerbittlich die Träume der Azzurri vom Viertelfinale weggespült. Sich in letzter Minute, allen Umständen zum Trotz, eine Runde weiterzumogeln, das hatten sie gehofft. Mit zwei Toren Abstand zu den Bulgaren und einem Fuß in Dänemark-Schweden, die alles, alles hätten spielen dürfen. Nur nicht zweizuzwei. Es war dann ein melancholischer Abend, der letzte sehr wahrscheinlich für Giovanni Trapattoni in der Rolle seines Lebens, als Nationaltrainer. Hochnervös waren die Italiener in der ersten Halbzeit, fahrig und unsicher, während die Bulgaren langsame, präzise Bälle setzten und ihre Abseitsfalle dreißig Meter vor dem Tor zuschnappen ließen. Es gab ein paar Torchancen für die Azzurri, die sie mit Regelmäßigkeit nicht zu nutzen wussten. Unterdessen wurden die Bulgaren kühner.“

Mit Brüdern ist das so eine Sache. Da ist Rivalität, Neid, und üble Nachrede

Gerhard Fischer (SZ 24.6.) räumt mit den Verschwörungsphantasien auf: „Nein, es war nichts faul im Staate Dänemark, und schon gar nicht bei den politisch korrekten Schweden. Die Bereitschaft für eine Klüngel-Kombination dürfte geringer sein, als sie europaweit erwartet wurde. Zum einen, weil beide einen relativ fairen Volkscharakter besitzen. Zum anderen, weil Schweden und Dänen zwar irgendwie Wikinger und damit Brüder sind, aber mit Brüdern ist das ja so eine Sache. Da ist Rivalität, Neid, und üble Nachrede: Die Dänen sagen über die Schweden, diese seien langweilig, harmoniesüchtig, gleichmacherisch, feige. Die Schweden sagen über die Dänen, jene seien egoistisch, hedonistisch, unzuverlässig, stur; kurz: die Italiener Nordeuropas. Außerdem ist da noch die Geschichte der beiden Staaten. Dass Dänen vor vielen hundert Jahren über Schweden herrschten – geschenkt. Aber eine Sache haben die Schweden bis heute nicht vergessen, sie ereignete sich im Jahre 1520. Damals stand der dänische König Christian II. mit seinen Truppen vor Stockholm. Die Schweden waren hoffnungslos verloren, aber um ihre Stadt zu retten, öffneten die Bürger Stockholms die Tore. Christian versprach, die Menschen zu schonen, gab ein großes Fest – und ließ 82 schwedische Adelige köpfen. Das „Stockholmer Blutbad“ auf dem „Stortorget“ (Großer Platz) im Herzen Stockholms traf die Schweden im Innersten der Seele. Es löste einen Volksaufstand aus, an dessen Spitze ein gewisser Gutsav Wasa stand, nach dem später unter anderem ein berühmter Skilanglauf in der Provinz Dalarna, im Herzen Schwedens, benannt werden sollte. Aber das ist eine andere Geschichte. Wichtig für den Fußball und die Gegenwart ist, dass manche Schweden den Dänen nicht ganz trauen. Um kein falsches Bild zu zeichnen: Natürlich mögen sie sich, die Brüder, Blut ist schließlich dicker als Wasser, und mit der Weinerlichkeit der Italiener haben die Leute in Skandinavien ohnehin nichts am Hut.“

Ausgerechnet die Italiener fühlen sich von einer Wikinger-Mafia verschaukelt

Wie war das noch mit dem Glashaus und den Steinen, Dirk Schümer (FAZ 24.6.)?: „Schon die Weltmeisterschaften in Fernost, als Italien durch eine indiskutable Schiedsrichterleistung des Ecuadorianers Moreno ausgeschieden war, hatte bei den Tifosi die Vermutung genährt, dunkle Mächte arbeiteten gegen ihre seit 1982 erfolglose Nationalmannschaft. Nun richtete sich der Verdacht zuerst gegen den schwachen russischen Schiedsrichter Iwanow, der den Italienern mindestens zwei eindeutige Elfmeter verweigerte, den Bulgaren aber einen zweifelhaften Strafstoß zusprach. Eine Intrige der slawischen Brudervölker? Alte Ostblock-Kumpanei? Die weit unter ihren Möglichkeiten spielenden Italiener räumten die kyrillische Hürde mühsam aus dem Weg, als Antonio Cassano – einziger Lichtblick im Team – in der Nachspielzeit das Siegtor erzielte. Doch dann trat die nordische Verschwörung in Kraft, vor der die Italiener die meiste Angst gehabt hatten: Ein maßgerechtes Unentschieden in Porto, und der jubelnde Cassano verwandelte sich in Sekundenschnelle in ein heulendes Häufchen Elend. „Hat man schon je“, so der zynische Kommentar, „einen Straßenjungen aus Bari gesehen, dem Schweden die Tasche geklaut haben?“ Das Vertrauen in die unbestechliche Moral Skandinaviens, wo man sich an die Verkehrsregeln hält und klaglos lachhafte Steuersätze zahlt, ist seitdem in Italien perdu. „Wir glauben nicht mehr an den Weihnachtsmann“, beschrieb Italiens führender Fußballanalytiker Giorgio Tossati den ethischen Öresund, in den eine ganze Nation gestürzt ist. Ausgerechnet die Italiener fühlen sich von einer Wikinger-Mafia verschaukelt, seit der dänische Torhüter Sörensen den entscheidenden Ball verdächtig locker abtropfen ließ. Bei solchen Anklagen gerät in Vergessenheit, daß nicht in Skandinavien, sondern in Italien derzeit zwei mächtige Fußballpräsidenten hinter Gittern sitzen, daß hier die Staatsanwaltschaft wegen Wettbetrugs und Absprachen gegen diverse Spieler der Profiligen ermittelt, daß seit Jahren ernsthafte Vorwürfe des Dopings und der Schiedsrichterbestechung in der Serie A die Runde machen und daß gleich mehrere Großklubs durch desaströses Finanzgebaren am Rande des Bankrotts stehen. (…) Del Piero, seit Monaten außer Form, versiebte ebenso wie Vieri, ein Kopfballungeheuer von gestern, eine Großchance nach der anderen. Solche Unstimmigkeiten liefern den Stoff für Italiens derzeitigen Lieblingssport: Hat Trapattoni die teuren Weltstars nur auf Druck der Großklubs und der Sponsoren eingesetzt? Diktierte der mächtige Verband dem alternden Trainer gar die Aufstellung?“

Das unwürdige Schauspiel der Berlusconier

Thomas Kistner (SZ 24.6.) kann die ganze Aufregung schwer verstehen: „Nun, da das befürchtete 2:2-Ergebnis vorliegt, schreit halb Italien Zeter und Mordio. Halb Berlusconien, könte man sagen, weil es interessanterweise regiert wird von einem schillernden Fußballzar und Medienmogul, über dessen Erfahrungsschatz mit dem skandinavischen Wesen nur so viel bekannt ist, dass er sich des öfteren dagegen hat wehren müssen, hinter schwedische Gardinen zu wandern. Am Ende ließ er sogar die Gesetze ändern. Da ist womöglich nicht auszuschließen, dass der von italienischen Medien und Fußballfunktionären gezielt in ganz Europa verstreute Korruptionsverdacht nichts weiter ist als Ausfluss einer Macht der Gewohnheit. Man könnte auf das aggressive, offensive Spiel der Dänen und Schweden hinweisen, das jederzeit mehr Tore hätte hergeben können. Welcher Defizite an Kampf- und Laufbereitschaft es hingegen bedarf, um ein Turnierspiel wirklich risikofrei für die profitierenden Parteien über die Bühne zu schaukeln, haben einst bei der WM 1982 Deutsche und Österreicher vorgemacht: Der Nichtangriffspakt von Gijon bleibt insofern ein größerer Schandfleck als das unwürdige Schauspiel der Berlusconier.“

Hat Trap den Babyboom übersehen?

Peter Hartmann (NZZ 24.6.) blättert in italienischen Zeitungen: „Der Meinungsmacher Giorgio Tosatti (und er ist längst nicht der Einzige) strickt auf der Frontseite des „Corriere della Sera“ zynisch am 2:2-Remis-Komplott der Dänen und Schweden weiter: „Die wollten sich die Freude machen, Italien rauszuwerfen, dessen Fussball überquillt von Geld und Aufgeblasenheit und ihnen seit Jahrzehnten die besten Spieler wegnimmt.“ Der Wildwuchs der Komplott-Theorien und des „Vittimismo“ (der Einbildung, sich immer als Opfer zu sehen) ist kein Wunder in diesem Land, dessen Ministerpräsident Berlusconi gerade in diesen Tagen behauptet hat, dass er die Europawahlen auch deshalb verloren habe, weil in den Wahllokalen linke Helfer Hunderttausende von Zetteln seiner Forza Italia zum Verschwinden gebracht hätten. Die 2:2-Dolchstosslegende vom 22. Juni wird weiterleben, weil es im Calcio fast nur schlechte Verlierer gibt. Doch der „Corriere“, der momentan selber von einem undurchsichtigen Handwechsel im Besitzerkreis erschüttert wird, lässt auch einen originellen Kronzeugen für die Lauterkeit des Wikinger-Derbys auftreten: Giuseppe Narducci, den Untersuchungsrichter, der sich mit dem neuesten Wettskandal im Calcio befasst. Dottore Narducci schreibt: „Ich muss gestehen, dass ich keinen Grund gesehen hätte, zu diesem Spiel eine Akte anzulegen. Eine Untersuchung würde nicht sehr weit gedeihen. Schweden und Dänemark haben ihre Sache mit gutem Willen gemacht, vielleicht auch deshalb, weil es ihnen leicht fiel, das Spiel so ausgehen zu lassen. (. . .) Den Beweis für ein perfektes Unentschieden gibt es ebenso wenig wie das perfekte Verbrechen.“ Der „an den Haaren herbeigezogene Sieg“ („Corriere della Sera“) durch „Cassanos Siegestor zum Weinen“ in der 94. Minute ändert aber auch für den medialen Scharfrichter Tosatti nichts daran, dass Trapattoni an dieser EM die Gegner unterschätzt habe (. . .), dass keine richtigen Trainings und keine ernsthaften Testspiele stattgefunden hätten. Es sei nutzlos, jetzt noch mit diesem Commissario zu streiten, der von sieben Turnierspielen an der WM 2002 und der Euro 2004 nur zwei gewonnen hat, gegen Ecuador und gegen Bulgarien. Und Gianni Mura diagnostiziert in „La Repubblica“ die nationale Fussballkrankheit der Selbstüberschätzung: „Vielleicht haben wir uns in der Serie A und in der Champions League überdimensionierte Monumente konstruiert . . .“ (…) Francesco Tottis Problem ist sein Nervenkostüm: Er wurde gegen die Dänen fünfmal gefoult, viermal teilte er selber aus, zuletzt mit einer knochenbrecherischen Attacke, die den Ausschluss verdient hätte. Er trug neue, unerprobte Schuhe, ein absolut unverzeihlicher Leichtsinn für einen Profi (und auch den Trainer), und musste sie am Spielfeldrand mit einem Paar alten Schlarpen vertauschen. Der Film des spuckenden Totti ruinierte dann nicht nur Trapattonis Pläne, sondern auch Tottis Image. Für den gesperrten Star brach eine Kunstwelt zusammen. Immerhin war der Coach nun gezwungen, gegen Schweden den genialen 22-jährigen Cassano zu lancieren – doch er holte ihn beim Stand von 1:0 vom Feld, weil er „zu jung“ sei für 90 Minuten. Der alte, unverbesserliche „Trap“: Hat er den Babyboom übersehen, den 18-jährigen Rooney, Cristiano Ronaldo, Robben?“

Jemand sollte sich schämen

Die Italiener sind schlechte Verlierer. Raphael Honigstein (FR 24.6.): „Auf dem Feld hatte die Squadra zum Abschluss eines durchwachsenen Turniers noch einmal Eleganz und Elan verbinden können und sich einigermaßen ehrenvoll aus Portugal verabschiedet. Auf dem Weg zum Mannschaftsbus machten die Spieler den guten Eindruck dann gleich wieder kaputt. Bis auf den noch vom Vortag eingeschnappten Christian Vieri und den untröstlichen Cassano blieben sie gerne stehen. Jeder hatte einen bösen Kommentar zum angeblichen Komplott der Skandinavier parat. „Jemand sollte sich schämen“, sagte Gianluigi Buffon mit einem giftigen Lächeln im Gesicht, „aber nicht wir. Ich bin sehr verbittert, ich hätte nicht geglaubt, dass das passieren könnte. Wer da noch über Fairplay und sportliche Werte redet, sollte seine Augen öffnen.“ Stefano Fiore sprach von „einem sehr seltenen Resultat“, Massimo Oddo hatte „einen schlechten Geschmack im Mund“. Für Alessandro Nesta stand die Ungerechtigkeit des Ausgangs völlig außer Frage: „Es ist bitter, wenn man Dritter hinter zwei Teams wird, die schlechter sind als wir. Es tut weh, unbesiegt und mit fünf Punkten nach Hause fahren zu müssen.“ Und Verbandspräsident Franco Carraro, der schon im Vorfeld mit seinen peinlichen Unterstellungen für Irritationen gesorgt hatte, ließ sich zu der Aussage hinreißen, die Art, wie das Spiel in Porto gelaufen sei, habe gezeigt, dass Dänen und Schweden auf das Unentschieden aus gewesen seien. „Leider finden sich dafür nur sehr schwierig Beweise“, fügte der 65-Jährige an. Vielleicht hat ja eine der 25 von der italienischen Fernsehanstalt RAI platzierten Kameras den geheimen Handschlag der Kapitäne aus Skandinavien einfangen können.“

Wenn jetzt ein Däne oder ein Schwede im Studio säße, würde ich auch drei Spielsperren riskieren

Oliver Meiler (BLZ 24.6.) ergänzt: „Einer hat noch versucht, sich patriotischer zu geben als die Italiener selbst. Zbigniew Boniek, Pole, einst ein exzellenter Offensivspieler, hängengeblieben in seiner Wahlheimat und Kommentator im italienischen Staatsfernsehen, meinte: „Wenn jetzt ein Däne oder ein Schwede im Studio säße, würde ich auch drei Spielsperren riskieren.“ Nicht eben subtil. Boniek stand ziemlich allein da mit seiner Strategie. Freilich, das 2:2 mutete kurios an. Ein Remis nach Drehbuch, sagen die Italiener. „Das ist ein Weltskandal“, meckerte Torhüter Gianluigi Buffon. „Ich glaube, sie wollten Unentschieden spielen, auch wenn sich eine Abmachung nur schwer beweisen lässt“, behauptete auch Franco Carraro, der Präsident des italienischen Fußball-Verbandes. Doch nicht alle beklagen sich. Der Corriere della Sera hat einen Untersuchungsrichter, der sich mit Sportbetrug beschäftigt, gebeten, sich das Spiel der Skandinavier anzusehen. Er schreibt mit feiner Ironie: „Das war ein perfektes Unentschieden, doch für eine Ermittlung reicht es nicht.“ Ohnehin, so tönt es von vielen Seiten: „Es gibt kein Alibi.“ Dafür Selbstkritik. Das Spiel war gerade vorüber, die Tränen des Angreifers Antonio Cassano noch feucht, da begann die Abrechnung.“

Barbara Klimke (BLZ 24.6.) lästert: „Es war alles zu protzig bei den Italienern, Anspruch wie Außendarstellung: Mit goldenen Rückennummern betraten die Spieler das Feld, die Haare kunstvoll drapiert. Es fehlte noch der güldene Pompon in der Hand, und man hätte sie für ihre eigenen Cheerleader gehalten. Es passt ins Bild, dass von den Italienern nicht ein Tor in Erinnerung bleiben wird, sondern der Fakt, dass Francesco Totti einen Gegenspieler bespuckte. Ausreden über Hitze, falsche Schuhe und grobe Socken erhöhten den Unterhaltungswert, nicht aber die Akzeptanz.“

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