Strafstoss
Strafstoß #11 – Reine Nervensache 2 – Die Pfeifeprüfung
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| Donnerstag, 24. Juni 2004von Herrn Mertens und Herrn Bieber
Mathias Mertens: Wenn Sie ein Schiedsrichterpfiff wären, Herr Bieber, welcher würden Sie denn sein?
Christoph Bieber: Ist das ihr Ernst, Sie Pfeife?
MM: Ts, ts! Aber ich verstehe, worauf Sie mit diesem (naheliegenden) Wortspiel hinauswollen: Sie wollen der Pfiff sein, mit dem der Schiedsrichter aufgrund eines verbalen Angriffs gegen seine Autorität das Spiel unterbricht, um den betreffenden Spieler dann zu verwarnen. Sie wollen also eine gelbe Karte sein.
CB: Ich verbitte mir derartige Kurzschlüsse, Sie, Sie… Eugen Strigel des investigativen Interviews! Auch hier muss man doch zunächst wieder über eine Typologie der Schiedsrichterpfiffe nachdenken – und über die Frage, ob sich trennscharf zwischen Pfiff und Pfeifer unterscheiden lässt. Was meinen Sie, inwiefern beeinflusst hier das „Medium“ die „Nachricht“?
MM: Hm, also wenn ich meinen McLuhan richtig gelesen habe, dann wollte er mit seinem Sinnspruch „Das Medium ist die Botschaft“ sagen, dass die persönlichen und sozialen Auswirkungen jedes Mediums – das heißt jeder Ausweitung der eigenen Person – sich aus dem neuen Maßstab ergeben, der durch jede Ausweitung unserer eigenen Person oder durch jede neue Technik eingeführt wird. Übertragen auf den Schiedsrichter und den Pfiff hieße das wohl, dass der Schiedsrichter durch die Pfeife, die ja wohl das Medium darstellt, einen anderen akustischen Aktionsradius bekommen hat. Er kann gewissermaßen in die Ferne wirken, wird zum Fernpfeifer und fühlt sich plötzlich befähigt, alles zu stoppen, was er noch irgendwie sehen oder hören kann. Die Botschaft oder die Nachricht ist dann: Egal wo Du bist, egal was Du tust, egal was Du sagst, ich kann die Zeit anhalten, mich zu Dir bewegen, das Spiel so zurechtlegen, wie es sein sollte, und dann weiterlaufen lassen. Eine Typologie der Schiedsrichterpfiffe müßte also ihren Grad an Reorganisation des Geschehens berücksichtigen.
CB: Ich glaube, da muss ich jetzt passen (bin noch geplättet vom Ausgang der C-Gruppenspiele).
MM: O.K., da gingen jetzt die medienwissenschaftlichen Pferde mit mir durch. Eigentlich wollte ich nur sagen: Schiedsrichterpfiff ist dann, wenn der Schiedsrichter pfeift. Wobei ich mir gerade überlege, dass wenn die Pfeife das Medium ist und ich die Pfeife – wie Sie so schön bemerkten – ich ja das Medium und damit die Botschaft bin.
CB: Gut, gut, Sie berauben mich also auch noch dieser Pointe. Also wo waren wir stehen geblieben – die Typologie der Schiedsrichterpfiffe. Ob mir da vielleicht die Schiedsrichter Zeitung weiter helfen kann? Nach erstem Durchsehen würde ich sagen – eher nicht. Aber: Lehrarbeit mit Eugen Strigel (dem echten), Regelfragen mit Peter Gabor, das klingt interessant. Gastbeiträge von Pierluigi Collina scheint es jedoch nicht zu geben. Doch ich schweife ab, ein Pfiff also… ist alles erlaubt oder scheiden die Standards wie An- oder Abpiff, Eckball oder Auswechslung von vornherein aus?
MM: Wie könnte beim Thema Schiedsrichter alles erlaubt sein?
CB: Na, sie sind mir eine große Hilfe. Ich denke, ich würde ein historischer Pfiff sein wollen, denn in den FIFA-Statuten heißt es: „Seine Entscheidungen über Tatsachen, die mit dem Spiel zusammen hängen, sind endgültig.“ Das wäre doch schon mal was, eine bleibende Entscheidung mit Endgültigkeitsanspruch.
MM: Sind Sie sich sicher, dass Sie im Bücherregal nicht versehentlich neben den FIFA-Statuten-Band gegriffen und das Alte Testament erwischt haben?
CB: Herr Mertens, Sie kennen doch die Ordnungspolitik in meiner kleinen Heim-Bibliothek – nie könnten FIFA-Statuten und Altes Testament nebeneinander stehen!
MM: Stimmt, bei Ihrer alphabetischen Ordnung könnten Sie bestenfalls das Grundgesetz erwischt haben. Und da steht ja, dass alle Deutschen das Recht haben, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Das trifft ja auf unsere Nationalmannschaft schon mal zu, denn wirkliche Kanonen haben wir ja nicht dabei gehabt. Interessant dann aber der Zusatz, dass Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden kann. Womit wir wieder beim Fußballplatz und dem Schiedsrichter wären. Aber ich spüre Ihre Ungeduld, weil ich schon wieder abschweife. Sie wollen also ein historischer Pfiff sein. Der Anpfiff der Verlängerung des Spiels Italien – Deutschland 1970 vielleicht?
CB: Politische Versammlungen – da erwischen Sie mich ausnahmsweise auf dem richtigen Fuß. Beim Spiel der deutschen Mannschaft könnte man im übrigen noch zwischen einer „stehenden“ und einer „bewegten“ Versammlungen differenzieren. Ersparen Sie mir bitte eine detaillierte Ausführung. Aber zurück zum Thema: ihr historischer Pfiff von 1970 wurde zwar in einem fürwahr merk-würdigen Spiel getätigt, aber er selbst hatte doch kaum eine Funktion, er war lediglich eine Art Intermezzo oder Pausenzeichen, der reguläre und Extra-Zeit voneinander trennte. Halten Sie das bereits für einen „entscheidenden“ Pfiff?
MM: Herr Bieber, der vierte Offizielle signalisiert mir gerade, dass die reguläre Spielzeit vorbei ist. Aber es sind noch 3 Minuten Extra-Zeit angezeigt. Wenn Sie noch scoren wollen, dann jetzt.
CB: Nachspielzeit? Schade, dann muss ich auf meinen Exkurs zur „bewegten Versammlung“ verzichten, die man selbstverständlich auch als „Demonstration“ bezeichnen könnte. Und demonstriert haben die Deutschen in Portugal ja relativ wenig, wie Sie wissen. Also will ich keine Zeit verlieren und in bester Goalgetter-Manier aus kurzer Distanz einnetzen: Ich wäre gerne der legendäre 1966er-Pfiff nach dem so genannten „Wembley-Tor“ – denn damit bleibt man doch für lange Zeit in aller Munde.
MM: Nach langem Lavieren im Mittelfeld dann doch ein beherztes Verwandeln. Und jetzt sage ich Ihnen, welcher Pfiff ich gerne bin: Der Schlusspfiff dieses Gesprächs.
CB: Herr Mertens, wie soll ich das verstehen?? Da ein möglicherweise unsportliches Nachtreten auch nach dem Schlusspfiff noch geahndet werden würde, verzichte ich auf eine Replik und verbleibe mit Sepp Herberger: „Das nächste Interview ist immer das schwerste“. Zumal ich dann die Fragen stellen werde.