indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Vermischtes

Schaufenster der Vielfalt

Oliver Fritsch | Samstag, 26. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Schaufenster der Vielfalt

Horst Eckel (FAZ) im Wortlaut – die Bedeutung des Fußballs für die Identität Europas (FR) – besonders lesenswert: ein Gespräch zwischen Daniel Cohn-Bendit und Aimé Jacquet (Le Monde) – Robert Gernhardt im FAS-Gespräch u.v.m.

Woran liegt’s, dass die Großen ausscheiden, Felix Reidhaar (NZZaS 27.6.)? „Das hat es in 44 Jahren seit Einführung der einstigen Coupe des Nations nie gegeben: Nach zwei von drei Akten ist ein halbes Dutzend Nationalteams im Wettbewerb verblieben, deren (Kohäsions-)Länder – zur geographischen Veranschaulichung – flächenmässig zusammen nicht annähernd halb so gross sind wie jene der sogenannten „big five“. Gescheitert ist anderseits die führende Elite aus den Ländern der grossen Ligen, deren Klubs und Verbände mehr als 80 Prozent des Gesamtumsatzes aus den hoch einträglichen Fussballrechten generieren (rund 8 Mrd. Euro) und die das alleinige Paradies in einer Berufsspielerkarriere sind. Überraschungen gehören zu solchen Turnieren mit ihren eigenen Gesetzen. In dieser Kompaktheit war die Entwicklung aber nicht vorauszusehen. Zuletzt hatte es vor vier Jahren die Engländer und die Deutschen bereits in der Vorrunde getroffen. Deren Leistungsvermögen, spielerische Substanz und taktische Stupidität riefen damals Kopfschütteln hervor. Das verhält sich 2004 qualitativ etwas abgestuft zwar anders, weil weder Erikssons Team mit jenem seines Vorgängers Keegan noch Völlers Auswahl mit jener Ribbecks zu vergleichen ist, aber verabschiedet haben sich die Selektionen von Premier League und Bundesliga erneut. Interessanterweise stammen aus diesen Meisterschaften mehr als 100 von insgesamt 368 Professionals, welche in den 16 Kadern der Endrundenteilnehmer stehen. Nochmals knapp so viele sind in den spanischen, italienischen und französischen Ligen verpflichtet. Heisst das nun, dass den „Grossen Fünf“ der eigene Klubbetrieb zum Verhängnis geworden ist? Tatsächlich und logischerweise sind körperliche und mentale Ansprüche in diesen Ligen mit ihrem viel geringeren Leistungsgefälle und fast permanent drückenden Belastungen unvergleichlich höher als anderswo. Zwischen 50 und 60 Ernstkämpfe über eine Saison in mehreren Wettbewerben stellen vom medizinischen Standpunkt den Grenzwert, wenn nicht sogar das Maximum dar. “

Leidenschaftsfußball

Ein begeistertes Zwischenfazit von Stefan Hermanns (TspaS 27.6.): „Aus England ist in diesen Tagen die Nachricht gekommen, dass eine Frau nach 23 Jahren Ehe die Scheidung von ihrem Mann eingereicht hat. Seit Jahren ist sie mit ihm zu allen Heim- und Auswärtsspielen seines Lieblingsvereins West Ham United gereist, doch als er sich jetzt zwei Wochen Urlaub genommen hat, um die Begegnungen der Europameisterschaft mit einem Freund in einer Kneipe zu verfolgen, hatte sie endgültig genug. Wie herzlos muss diese Frau sein? Seit Jahrzehnten hat kein großes Fußballturnier die Menschen – unabhängig vom Abschneiden ihrer eigenen Nationalmannschaft – so sehr begeistert wie die EM in Portugal. Nur zwei Jahre nach der mäßigen WM in Japan und Südkorea, bei der es sogar die Deutschen bis ins Finale brachten, hat das spielerische und technische Niveau einen Aufschwung erlebt, den niemand erwarten konnte. Dem Defensiv- und dem Offensivfußball hat dieses Turnier eine dritte Kategorie hinzugefügt: den Leidenschaftsfußball. Es ist wohl kein Zufall, dass vor allem Gastgeber Portugal stilbildend wirkt. Getrieben von den Erwartungen des Landes und gepeinigt von der Vorstellung, wieder zu früh zu scheitern, spielen die Portugiesen einen Fußball, der sich in keinem Moment um ökonomische Erwägungen schert. Im entscheidenden Spiel gegen Spanien rannten die Portugiesen, als gäbe es kein Morgen, kein nächstes Spiel, als gäbe es nicht einmal eine zweite Hälfte. (…) Nicht von ungefähr haben die Mannschaften den schwächsten Eindruck hinterlassen, die den am wenigsten leidenschaftlichen Fußball gespielt haben: Spanien, Italien, Deutschland, Favorit Frankreich und zuweilen auch England. Spanien versuchte gegen Portugal, sich mit einem Unentschieden ins Viertelfinale zu mogeln und wurde bestraft. Italien verspielte mit Trapattonischer Ängstlichkeit den 1:0-Vorsprung gegen Schweden und damit den Einzug ins Viertelfinale. England ging in zwei entscheidenden Spielen früh in Führung, verteidigte den Vorsprung anschließend beide Male mit aller Macht – und kassierte sowohl gegen Frankreich als auch gegen Portugal kurz vor Schluss den Gegentreffer. Alle verhalten und kontrolliert spielenden Teams sind vorzeitig aus dem Turnier geschieden. Und anders als vor zwei Jahren bei der WM, als das frühe Aus der großen Fußballnationen Frankreich, Portugal, Argentinien und Italien auf die allgemeine Stimmung drückte und die WM zu einem Turnier zweiter Klasse degradierte, hat diesmal niemand das Gefühl, dass etwas Unrechtes geschehen ist. Vor allem die Deutschen nicht.“

Schaufenster der Vielfalt

Wolfgang Hettfleisch (FR 25.6.) erkennt die Bedeutung der EM für die Identität Europas: „Der Rückschluss, beim Fußball zwischen Länderauswahlen wie just bei der EM handle es sich um die kultivierte Austragung nationaler Rivalitäten, ist verlockend. Identitätsstiftend ist allemal, was sich auf dieser Spielwiese des Patriotismus ereignet. Für Länder wie Kroatien, die sich erst seit wenigen Jahren ihrer Unabhängigkeit erfreuen, ist das Abschneiden der eigenen Elf auch eine Frage der nationalen Ehre. Und auch in Deutschland hebt keiner verwundert die Augenbrauen, wenn eine seriöse Zeitung wie der Berliner Tagesspiegel den für Sport zuständigen Bundesinnenminister Otto Schily vor der EM gänzlich ironiefrei fragt: „Kann Fußball die Depressionen eines Landes heilen?“ Selbst die New York Times kam dieser Tage nicht umhin zu versuchen, sich einen Reim auf die merkwürdige Parallelität der politischen und sportlichen Manifestationen auf dem Alten Kontinent zu machen – hier eine Europawahl als „massenhafter Ausdruck von Gleichgültigkeit“ gegenüber dem großen Einigungsprojekt, dort ein „im Fußball sublimierter Krieg mittelalterlicher Nationalstaaten“, eine „Tjoste, gefeiert mit Schlagzeilen, Fahnen und brüllenden Menschenmengen“. Europa, folgert der Times-Autor mutig, habe sich nicht von seiner kriegerischen Vergangenheit gelöst. Und die Spiele der Nationalteams seien geeignet, eben jene Feindseligkeiten hervorzurufen, die Brüssel durch die Entwicklung einer europäischen Identität einzuhegen trachte, die wiederum weit davon entfernt sei, von den Bürgern akzeptiert zu werden. Das ist zuviel der Interpretationswut. Natürlich weiß Ex-Teamchef Rudi Völler um die Vergeblichkeit seines Hinweises nach dem Ausscheiden in der Vorrunde, es handle sich letztendlich doch „bloß um Fußball“. Das tat es nie. In Budapest kam es nach der Niederlage der Ungarn im WM-Endspiel von 1954 zu Ausschreitungen. Die politische Führung klagte Torwart Grosics wegen Landesverrats an und verbannte ihn in die Provinz. Bis heute steht die Niederlage der Wundermannschaft um Ferenc Puskás im Rang eines nationales Traumas. (…) Tatsächlich hatten die großen Fußball-Wettbewerbe für den europäischen Gedanken durchaus auch Vorbildfunktion. Das ist auch das Verdienst der 1955 gegründeten UEFA, die den Ball stramm über den Eisernen Vorhang kickte. Ihre Vorstellung von Europa reichen heute ausweislich der Mitgliedsverbände bis zum Kaukasus und lassen einem Armenhaus wie Moldawien dieselben familiären Rechte angedeihen wie England, Frankreich oder Deutschland. Und mit der 1960 erstmals ausgetragenen Europameisterschaft – die das Team aus der Sowjetunion gewann –, fand sich eine Plattform, auf der sich Ost und West auf Augenhöhe begegnen konnten; eine schöpferische Klammer für ein Europa, das es nicht gab. Dass die Herzen der Menschen in der Alten Welt nun im Takt des Fußballfestes in Portugal schlagen, statt den Tüftlern der EU-Verfassung zuzufliegen, ist wahrhaftig nicht beunruhigend. Schlimm wäre es andersherum. Die Fußball-EM fungiert als Schaufenster der Vielfalt, der nationalen Unterschiede und Leidenschaften. Der Konfektions-Europäer wäre ihr Ende.“

Petra Steinberger (SZ/Feuilleton 25.6.) verbittet sich Kritik aus Amerika: „Kinder, Rüpel, Raufbolde sind sie immer mal wieder, die Europäer. „Die Völker, die jetzt gezwungen werden, eine gemeinsame Währung mit sich herumzutragen, welche nachgeahmte europäische Sehenswürdigkeiten zeigen“, bedauerte gerade Amerikas Stimme in der weiten Welt, die New York Times, den fremden Kontinent, „diese Völker dürfen ihre Gesichter in verschiedenen Farben anmalen, dürfen sich gegenseitig anbrüllen und den Namen ihres Landes grölen.“ Einerseits, meint die Times, gingen die Europäer nicht zur Wahl, weil sie nur dadurch, dass sie die Politik selbst irrelevant machten, gegen ihre eigene Irrelevanz protestieren könnten. Und andererseits biete ihnen Fußball die Gelegenheit, einen mittelalterlichen Krieg der Nationalstaaten auszutragen – mitsamt altertümlicher Helden, die im Namen einer altertümlichen Idee dem lüsternen Fan vor dem Fernseher zeigen, wie man den ungeliebten Nachbarn eins reinwürgt, ihn anspuckt, in die Kniekehlen tritt, alles unter großem Beifallsgeschrei der jeweils total parteiischen Zuschauer. Von denen über die Hälfte nicht zur Wahl für das Europaparlament ging. Was in Amerika bei vergleichbaren Wahlen (Präsident, Kongress) natürlich nie vorkommt. Oder fast nie. Oder nicht allzu oft. Jedenfalls scheint es jenem amerikanischen Betrachter doch so, dass die Geschichte den europäischen Kontinent noch nicht ganz aus seiner kriegslüsternen Vergangenheit entlassen hat. Warum sonst wohl würde man sich so aufführen?“

Eckhard Fuhr (Welt/Feuilleton 25.6.) ha Sehnsucht nach Konflikt und Gegnerschaft: „Fußball scheint sich nationalpolitisch entspannt zu haben. Vor dem Spiel Tschechien gegen Deutschland saßen Schlachtenbummler beider Seiten friedlich beim Bier, EU-Bürger daheim in Europa. Die Tschechen hatten auf dem Spielfeld nichts zu fürchten, die Deutschen alles zu verlieren. Dass die Tschechen nicht mit ihrer besten Mannschaft antraten, hätte eigentlich am Selbstwertgefühl der Deutschen kratzen müssen. Doch das Kratzen scheint nicht so weit gegangen zu sein, dass die Deutschen nun, Wagners Walkürenritt im Ohr, einen Fußballblitzkrieg begonnen hätten, um den Tschechen ihre gönnerhaften Flausen auszutreiben. Selbst die spöttisch-aufmunternden Sprechchöre der tschechischen Fans brachten Völlers Mannen nicht in teutonische Raserei. Sie spielten zivil und entspannt und verloren. Die gute Nachricht aus Portugal lautet also: Europa hat das Gespenst des Nationalismus besiegt. EU-Bürger lassen sich nicht mehr zu fanatisierten Massen einschmelzen. Die schlechte lautet: Damit hat Europa dem Fußball den Garaus gemacht. Warum soll man sich das Gekicke eigentlich noch ansehen, zu dem sich bei Länderspielen EU-Fußballer, die sich vom europäischen Fußballmarkt untereinander alle kennen, als Nationalspieler verkleiden? Fußball, in dem nicht die blutige europäische Geschichte mit Klassenkämpfen und vaterländischen Kriegen nachhallt, ihn mit Erinnerung und Bedeutung auflädt und dem Match eine kathartische Wirkung zu geben vermag, ist wie alkoholfreies Bier: gut gemeint und ungenießbar. Hätten sich in Portugal nicht die Briten und die Kroaten „daneben benommen“, also ein Stück authentischer Fußballkultur bewahrt, wüsste man gar nicht mehr, was Fußball einmal war.“

Sehr lesenswert! Daniel Cohn-Bendit und Aimé Jacquet (Le Monde (10.6.) sprechen Fußball:

Aimé Jacquet und Daniel Cohn-Bendit sind die beiden Chronisten der Le Monde bei der Euro 2004. Jacquet schreibt ein bis zwei Mal pro Woche eine „technische Analyse“, Cohn-Bendit wird in einem wöchentlichen Format seine transeuropäische Vision des Fußballs darlegen. Was haben der einstige Wortführer der Studenten-Demonstrationen des Mai 1968 und der Trainer der französischen Weltmeister-Elf von 1998 gemeinsam? Welcher Zusammenhang soll hergestellt werden zwischen „Dany le Rouge“, Europa-Abgeordneter der deutschen Grünen und „Mémé“, seinerseits bei den Grünen vom AS Saint-Etienne, heute nationaler technischer Direktor (DTN) des französischen Fußballs? Nichts, außer einer grenzenlosen Leidenschaft für einen Sport, dem sie entstammen und dessen Wirkung nicht aufhört, sie zu bewegen. Jacquet und Cohn-Bendit haben sich bis zu diesem Nachmittag im April in Clairefontaine (Yvelines) niemals getroffen, wo sie, begünstigt durch unvorhergesehenes Einverständnis, zwei Stunden über die Equipe Frankreichs, die vergangene Weltmeisterschaft, die Euro und den Fußball im Allgemeinen diskutiert haben.

DCB: Ich frage mich: Was wird diese Euro bereit halten? Ich bin der Meinung, dass die WM 2002 eine der großen Schwäche war. Der beste Beweis hierfür ist, dass Deutschland das Finale erreicht hat…
AJ: Die Begründung ist ziemlich einfach: Seit vier oder fünf Jahren führt die Arbeitsüberlastung zur Einfältigkeit. Bestimmte Spieler bestreiten bis zu 70 Spiele pro Saison. Wie kann man dieses Arbeitstempo unterstützen? Die Spieler sind physisch in Gefahr, und diese Müdigkeit führt zu einem psychologischen Verschleiß. Wenn die Jungs nicht den Eindruck machen, Erfolg haben zu wollen, dann ist das insbesondere damit verbunden, dass sie nicht mehr die notwendige mentale Stärke haben.
DCB: Vor einigen Jahren habe ich mit einigen anderen die Idee aufgebracht, eine europäische Regelung zu erreichen, um die Zahl der Spiele für die Profis zu begrenzen. Es ist genauso wie bei Klima-Fragen: Wenn Europa sich auf ein Reglement einigen kann, damit klimatische Katastrophen vermieden werden können, ist ein Beispiel für den Rest der Welt. Im Sport, wird man ohne Begrenzungen zur Ausbeutung des Spielers zu keiner Lösung gelangen. Aber wenn man sieht, dass die FIFA ihrerseits durch die Schöpfung einer Club-Weltmeisterschaft den Terminkalender noch verschärft…
AJ: Das Hinzufügen weiterer Wettbewerbe ist ein schwerer Fehler. Ich hoffe, dass die zuständigen Verantwortlichen Einspruch dagegen einlegen werden. (…)
DCB: Es ist notwendig, die Spieler auf eine egalitäre Position zu stellen. Jeder soll zum Beispiel nicht mehr als vier oder fünf Matches pro Monat absolvieren dürfen. (…)
AJ: Sie haben sogar noch mehr Recht, da die Ausbildung der jungen Spieler bei uns gefährdet ist. Erlauben Sie mir einen kurzen historischen Abriss: In den 70er Jahren stapelte die französische Nationalelf Niederlage auf Niederlage. Man konnte so nicht fortfahren. Wir hatten das Glück, zwei außergewöhnliche Männer zu haben – Fernand Sastre und Georges Boulogne –, die den französischen Fußball auf zwei Fundamenten reorganisiert haben: die Ausbildung der Jungen und die Ausbildung der Führungskräfte. Diese Struktur ist extraordinär. Sie begleitet in kohärenter Weise das Kind in die Welt der Profis. Im Gegenzug muss sich der Spieler aufgrund der Ausbildungskosten für eine bestimmte Zahl an Jahren an den Club binden, der ihn ausgebildet hat. Aber all dies fällt wegen des Bosman-Urteils in sich zusammen. Mit 18 Jahren verweigern die Spieler die ihnen vorgelegten Verträge und gehen ins Ausland, ohne etwas an ihren Heimatverein zurückzugeben.
DCB: Mein Gefühl ist, dass alle Jugendlichen, die zu früh ins Ausland gegangen sind, nicht erfolgreich geworden sind. Wenn man bedenkt, was aus Anelka hätte werden können…
AJ: Aber Anelka verdient Geld! Es gibt so viele andere, die nichts verdienen und die zu uns in einem bedauernswerten physischen Zustand zurückkehren. Wir haben eine Generation, die im Eimer ist. Wir haben haufenweise Jugendliche verloren. Sie sind unter dem Einfluss von Agenten, die ihnen dazu raten, nicht zu unterzeichnen. Die Eltern lassen sich kaufen, da es sich oftmals um arbeitslose Familien handelt. Das Kind wird beinahe zu einem Wertgegenstand! Man lässt die Knaben in 800 Kilometer entfernten Vereinen leben, das ist dramatisch. Hätte ich einen Enkel, so würde ich ihm verbieten, wegzuziehen.
DCB: Es gibt nur die Europäische Union, die dies mit Hilfe einer Direktive regeln kann. Die Staaten können nichts machen. Es bedarf einer Einigung auf der darüber liegenden Ebene. Europa hat eine Direktive veranlasst, die es den LKW-Fahrern verbietet mehr als 50 Stunden pro Woche zu fahren. Man müsste gleiches mit dem Fußball machen, um die Zahl der Spiele zu reduzieren und um die Ausbildung der Spieler zu schützen. Aber auch um das Finanzgebaren der Vereine zu überwachen, da es viel Missbrauch gibt.
AJ: Der französische Fußball hat eine Zeit des Fortschritts erlebt. Unglücklicherweise gibt es viel Entmutigung bei uns. Als Mann der Politik, der Sie sind, möchte ich sagen, der Fußball ist fantastisch. Aufgrund unserer Organisation können wir einem benachteiligten Kind, das sich auf den Straßen herumtreibt, helfen, sich wieder in die Schule zu integrieren. Das sportliche Projekt kann die Jugendlichen wieder in die Schule bringen. Ist das nicht wundervoll?
DCB: Einer der Vorteile dieses Systems ist, dass es durch die Suche in den Städten den französischen Fußball von dem Reichtum der Immigration profitieren lässt. Das hat der deutsche Fußball nicht gekonnt. Es ist wahr, dass die Regelung der Staatsbürgerschaft und der Nationalität, basierend auf dem Recht des Bodens, dazu führt, dass jedes in Frankreich geborene Kind davon träumen kann, einmal in der französischen Equipe zu spielen. In Deutschland ist das Staatsbürgerschaftsrecht bis vor zwei Jahren auf dem Recht des Blutes aufgebaut gewesen: Jeder kleine Türke, der in Deutschland geboren worden ist, hat von einem Einsatz geträumt – für die Nationalelf der Türkei. Dies ist der Grund dafür, dass es an einer Generation von immigrierten Jugendlichen in der deutschen Elf fehlt, im Gegensatz zur schwarzen, weißen, arabischen (beur) französischen Elf von 1998. Das ist ein Grund für die Schwäche des deutschen Fußballs.
AJ: Ich glaube, dass oberhalb der Ebene der Ergebnisse es wichtig ist, den Kindern gesunde Lebensbedingungen zu geben. Der Trend des Fußballs beunruhigt mich. Nur die Politik kann uns retten. Wenn nicht wird er fallen.
DCB: Ich akzeptiere die Idee, dass die Politik regulierende Kraft entfalten muss. Aber um dort hinzugelangen ist es notwendig, dass die Instanzen des Fußballs sich mobilisieren, um die Frage an die Politik zu übergeben.
AJ: Es ist erstaunlich, dass es mehr und mehr Geld im Fußball gibt, aber dass immer mehr Geld fehlt. Die Umgebung um den Fußball ist dramatisch geworden. (…) Früher blieben 90 Prozent des Geldes im Umfeld des Fußballs. Jetzt gibt es die Agenten und Zwischenhändler. Wohin geht das Geld? Man weiß es nicht. Und woher kommt es? Das ist teilweise noch schlimmer.
DCB: Der Fußball ist eine öffentliche Sache, die man nicht vollständig privatisieren darf. Wenn ich sehe, wie sich die Champions League diese Saison entwickelt hat, mit Porto und Monaco im Finale, dann denke ich mir, dass Geld nicht alles bewirkt.
AJ: Und die Saison von Real Madrid zeigt uns, dass sich das individuelle Talent von Spielern nicht zwangsläufig in einer Mannschaft summieren lässt. Es sind nicht die individuellen Qualitäten, die einer Mannschaft zugute kommen, sondern das Gegenteil ist der Fall. Als Trainer weiß ich, was es heißt, eine Mannschaft zu bilden…
(…)
DCB: Aber hat man wirklich seine Lektion aus der Vorbereitung zur WM 2002 gezogen? Die Gelegenheit nach dem Scheitern war gut, um die französische Mannschaft radikal zu verändern.
AJ: Das hätte mich gewundert, wenn Jacques Santini, den ich kenne, nicht an Veränderungen gedacht hätte. Ich habe verfolgt, wie er sich entwickelt hat. Er und ich, wir sind vom gleichen Holz: von den Grünen aus Saint-Etienne. Die wahren Grünen.
CDB: Haben Sie das Plakat der Grünen für die Europawahl gesehen? Es zeigt einen Ball mit den verschiedenen Ländern, mit dem Slogan darüber: „Allez les Verts“.
AJ: Aber das ist ein Plagiat!
(…)
DCB: Ist Frankreich Ihrer Meinung nach gut auf die EM vorbereitet?
AJ: Ja. Sein Weg erlaubt es mir, Ihnen zu sagen, dass es eine große französische Mannschaft geben wird. Sie wird vielleicht nicht Europameister werden, aber Sie werden sehen.
DCB: Bei der Euro 1984 war ich Berater für Europe1. Nach dem von Frankreich gewonnenen Finale bin ich Michel Hidalgo begegnet, der mir sagte: „Das ist besser als 1968!“ Ich war überrascht ob des Vergleichs, aber warum nicht? Ich habe ihn gefragt: „Und Sie, wo waren Sie 1968?“ Ich möchte Ihnen die gleiche Frage stellen.
AJ: 1968? Ich hatte die Fabrik vier Jahre zuvor verlassen, um Profi bei Saint-Etienne zu werden. Ich erinnere mich, dass wir aufgrund der „Ereignisse“ in Denfert-Rochereau gezwungen waren, das Finale um den französischen Pokal in Colombes überstürzt zu verlassen. 1968 war mein bestes Jahr als Fußballspieler. Ich war zum besten Spieler der Saison geweiht worden, aber ich habe die Auszeichnung nie erhalten. Das ist Ihre Schuld!
(übersetzt von Jens Kroh)

taz-Interview mit Daniel Cohn-Bendit

taz: Wegen Ihrer These, dem deutschen Fußball fehlten 20 Jahre Einwanderung, und die Union sei schuld an der Misere der Nationalmannschaft …
DCB: … ja, tut mir leid, dass ich Recht habe.
taz: Sagen wir so: Es gibt fünf deutsche Stürmer, die nicht getroffen haben. Vier wurden nicht in Deutschland geboren, einer hat kroatische Vorfahren.
DCB: Meine These ist ja keine mathematische Formel. Es geht darum, dass Deutschland sich von der Möglichkeit abschneidet, das Reservoir an Spielern und vor allem an Spielkultur zu erweitern. Wenn man in die Jugendmannschaften überall in Deutschland schaut: Da spielen doch unglaublich viele Einwandererkinder, wenn ich nur an die vielen Türken denke oder an die Spieler aus dem ehemaligen Jugoslawien.
taz: Die Türkei qualifizierte sich gar nicht für die EM, Kroatien ist schon ausgeschieden.
DCB: Ich sage ja nicht, dass alle deutschen Spieler nicht gut wären und alle Einwandererkinder schon. Aber Kultur in Deutschland besteht aus dem und aus dem. Nehmen wir Fatih Akin. Ist doch gut, dass wir Filme von ihm haben und nicht nur „Good bye, Lenin“. Und was den Fußball angeht, ist das Reservoir der Spieler auch geringer, wenn die Energie der Einwanderung fehlt.
taz: Und jetzt sind wir raus aus der EM. Herzlichen Dank auch, Herr Kohl. Was machen wir nun den ganzen Tag?
DCB: EM schauen. Dass die Deutschen ausscheiden, ist doch egal. Ich bin ja sowieso für die Franzosen.
taz: Die werden Europameister?
DCB: Die haben halt den Zidane, obwohl man zweifeln kann, dass das reicht.
taz: Die Dynamik der Einwanderung.
DCB: Ganz genau. Das fehlt Deutschland einfach. Fußball ist ja ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Entwicklung: Wir sind nicht risikobereit genug. Das zeigt sich auch in der verheerenden Vereinspolitik. Podolski mag kein Rooney sein, aber warum nicht? Weil er nächstes Jahr in der zweiten Liga spielt. Das sagt doch alles. Warum kauft Bremen nicht den statt den Klose?
taz: Daran ist die Union aber nicht schuld, oder?
DCB: Ich bin nicht so eindimensional, der Union die Schuld an allem in die Schuhe zu schieben. Aber ich sage: Jugendarbeit und die fehlende Dynamik der Einwanderung, das sind die Probleme des deutschen Fußballs. Ein gelungenes Beispiel, was Integration bewirken kann, ist doch Ballack. Den haben wir aus der DDR.

Erik Eggers (FR/Feuilleton 25.6.) besucht eine Ausstellung: „Er wolle jetzt, da es die Zeit nun zulasse, seine Memoiren verfassen. Das verkündete Sepp Herberger, als er 1964 als Trainer der deutschen Fußballnationalmannschaft zurücktrat. Der Vater des „Wunders von Bern“ wollte sein Leben in ein adäquates schriftliches Zeugnis pressen. Material genug war ja da: Mehr als 350 vollgestopfte Aktenordner zierten sein Büro, Tausende von Briefen, Aufstellungen, taktischen Plänen und Programmheften schlummerten darin. Dazu kamen Regale voller Fachbücher, etwa die strategischen Abhandlungen des preußischen Generals Carl von Clausewitz, die Herberger als Grundlage vieler Schlachtpläne auf dem Rasen benutzt hatte. Doch der legendäre Trainer hinterließ, als er 1977 starb, keine Autobiographie, sondern lediglich Akte(n) der Verzweiflung, nämlich eine Vielzahl von Textfragmenten. Er hatte sich immer wieder verfranst, am Ende stand die Kapitulation. Der „Weise von Bern“ war ertrunken in diesem Meer an Unterlagen. Die Ausstellung „Am Ball der Zeit“, die jetzt im Historischen Museum in Speyer auf 2 000 Quadratmetern zu sehen ist und sich laut Untertitel vorgenommen hat, die Geschichte „Deutschlands und die Fußball-Weltmeisterschaften seit 1954″ zu erzählen, war ebenfalls mit dieser verhexten Ausgangslage konfrontiert: mit dieser nie versiegenden Kraft des Fußballs, Millionen von Gedächtnisschnipseln zu produzieren. Wohin mit all den an sich trivialen Dingen, die ein Fußballspiel hinterlässt? Wohin mit den alten Trikots, Wimpeln, Medaillen, Sammelbilderalben und Eintrittskarten? Wie so etwas ausstellen, ohne ins Anekdotische abzugleiten? Den Kuratoren ist es leider wie Herberger gegangen: Zwar präsentieren sie dem Besucher Äonen von großartigen Exponaten, und auch die Inszenierung gefällt. An einer übergeordneten Idee jedoch fehlt es. Und am selbst formulierten Anspruch, die „sportliche, gesellschaftliche und zeithistorische Entwicklung“ darstellend zu synchronisieren, scheitert diese Schau sowieso. Es ist ein Potpourri an Themen.“

Mit den sprachlichen Werkzeugen logistischer Effizienzsteigerung

Martin Hecht (FR/Medien 26.6.) vollzieht Sprachkritik – und das im FR-Jargon: „So wenig Rhetorik wie diesmal war selten. Torsten Frings zeigte sich regungslos auch bei kniffligen Journalistenfragen zum Bayern-Wechsel, vor der Presse verpackte Basti sein Schweigen milde lächelnd, fast schon so wie einst Boxer Norbert Grupe im ZDF-Sportstudio, nach Spielende wisperte Kevin Kuranyi kaum Vernehmbares ins Mikrophon, und selbst Kahn hielt diesmal seinen Dauer-Brass halbwegs flach und sich selbst an die eigene Devise: „Es wäre verkehrt, jetzt Amok zu laufen.“ Aber es scheint, je stiller unsere Kicker waren, desto geräuschvoller die Experten drumherum. Selten wurde bei einem Fußballturnier aus der zweiten Reihe so viel reingebabbelt wie bei dieser EM. Noch nie war die Fußballwelt so voll von großen Strategen wie in Portugal. So durften wir auch täglich Sportjournalisten im „DFB-Medienzentrum“ bei der Pressekonferenz beobachten, die nicht nachließen, Trainern und Spielern komplizierteste Fragen nach der geeigneten Spielanlage oder Taktik zu stellen, auch wenn nichts herauskam. Trotzdem sitzen sie noch immer beieinander und analysieren rauf und runter – ohne jeden Erkenntnisgewinn. Da gab Udo Lattek im DSF Sätze von sich wie: „Wenn Michael Ballack in der Lage ist, sein spielerisches Potenzial abzurufen, kann er für die Mannschaft eine echte Verstärkung sein.“ Tja, wenn. Und alle nickten. Grimme-Preisträger Günter Netzer, den viele so furchtbar geistreich finden, gibt nach den Spielen in einer erschreckend saft- und kraftlosen Sprache, in Worten, die sofort verfallen, nachdem sie ausgesprochen sind, exakt 1:1 das wieder, das wir während des Spieles soeben gesehen haben. Und so ahnen wir: Das Sprechen über Fußball hat offenbar keine konkret kommunikative Funktion. Hat es auch noch nie gehabt. Die wahre Funktion ist psychologischer Art. Wegen des Expertenwissens tut sich keiner auch nur eine Sekunde Delling und Poschmann, Netzer und Beckenbauer an. Wenn doch, dann nur, weil wir durch rhetorisches Vorgeplänkel in den nötigen Erregungszustand fürs Spiel gebracht werden wollen. Vor dem Spiel wird gequatscht, um uns alle ins Gruseln zu bringen, nach dem Spiel, um das Gruseln sanft abklingen zu lassen. Diesen Job könnten aber auch tausend andere erledigen. Fußballdeutsch beherrscht fast jeder. Aber selbst mit dem Gruseln ist es nicht mehr weit her. Da lässt sich bei dieser EM eine eigenartige Sprachverarmung beobachten. In der öffentlichen Kommunikation erscheint der Fußball immer mehr als Angelegenheit, die sich mit den sprachlichen Werkzeugen logistischer Effizienzsteigerung greifen lässt.“

Die FAZ (26.6.) zitiert Horst Eckel: „Und dann hat Ling endlich nach einem Einwurf der Ungarn abgepfiffen. Wir waren nur noch glücklich, durften aber, so hat es uns der Pädagoge Herberger beigebracht, nicht überschwenglich feiern. Als Deutsche sollten wir, der Zweite Weltkrieg war erst neun Jahre vorbei, nicht übermäßig jubeln, zumal die ganze Welt auf uns schaute. Es mit der Begeisterung ein wenig zu übertreiben war aber sowieso nicht die Mentalität unserer Mannschaft. Wir waren gut erzogen und fast ein bißchen demütig. Unsere gute Kameradschaft und unsere Kondition hat uns zum Titelgewinn verholfen. (…) Der Chef hat sich kurz bei uns bedankt, es schauten ein paar Gäste und Freunde vorbei, doch Champagner, wie das heute üblich ist, wurde keineswegs getrunken. Statt dessen Wasser. Vor dem Bankett gab es keinen Tropfen Alkohol für uns, während des Spiels im übrigen auf Anweisung von Herberger, der damit im Einklang mit den Ratschlägen der Mediziner zu jener Zeit war, nicht mal einen Tropfen Wasser. Unter der Dusche haben wir dann schon mal ein Lied angestimmt, „Hoch auf dem gelben Wagen“. Herberger hat uns gern singen gehört. Manchmal hat er im Bus den Text vorgelesen, und wir haben ihn dann nachgesungen. (…) Egal, wo man auf der Fahrt nach München hinkam: Man hat gemerkt, daß sich die Welt verändert hat. Die Menschen haben ja nicht gesagt, die elf Spieler und Herberger sind Weltmeister geworden. Sie haben immer wieder gesagt, wir sind Weltmeister geworden. Leider wurde immer nur über die elf Leute gesprochen, die gegen die Ungarn auf dem Platz gestanden haben. Aber es gab ja noch elf andere. Spieler, die genauso ihren Anteil am großen Erfolg hatten und unheimlich viel dazu beigetragen haben, daß wir am 4. Juli 1954 den Weltmeistertitel gewonnen haben.“

Es gibt noch mehr als elf Berner Helden, Peter Heß (FAZ 26.6.): “Die Weltmeistermannschaft des Finales gegen Ungarn bekommen fast alle Fußballfreunde noch zusammen, denen Discos zu laut und Skateboards unheimlich geworden sind. Die Walter-Brüder Fritz und Ottmar, Toni Turek, der Fußball-Gott im Tor, Helmut Rahn, der goldene Torschütze, die Abwehrrecken Werner Liebrich, Werner Kohlmeyer und Jupp Posipal, die Außenläufer Horst Eckel und Karl Mai, die Stürmer Max Morlock und Hans Schäfer. Na klar. Aber wer, jenseits der Augsburger Fußballregion, kennt Ulrich Biesinger? Wer außerhalb des Kasseler Einzugsgebiets hat schon einmal von Karl-Heinz Metzner gehört? Wer verbindet ein Gesicht, ein Fußball-Schicksal mit dem Namen Heinz Kubsch, wenn er nicht gerade in Katernberg oder Pirmasens aufgewachsen ist? Es gibt 22 Weltmeister von 1954, einige sind völlig in Vergessenheit geraten. Stürmer Biesinger durfte nicht eine Minute mittun. „Für mich war es schon das Größte, überhaupt dabeizusein“, sagt der heute 70 Jahre alte Rentner, der auf sieben Länderspiele zurückblicken kann. Wie er berichteten alle WM-Teilnehmer aus dem 22er Kader, daß es keine Kluft zwischen Stammkräften und Ergänzungsspielern gegeben habe. Obwohl die Regel, die eine Auswechslung während des Spiels untersagte, eine scharfe Trennung zwischen der Elf und dem Rest bedeutete. Aber die Ehre, Deutschland vertreten zu dürfen, und die Autorität Herbergers waren allgegenwärtig. (…) Der bekannteste deutsche Ersatzspieler von 1954 aber heißt Heinrich Kwiatkowski. Nur weil die nominelle Nummer 2, Heinz Kubsch, sich bei einer Kahnfahrt verletzt hatte, rückte der Dortmunder im Vorrundenspiel gegen Ungarn ins Tor. In diesem Moment empfand er es als Glück, nach dem Spiel bereute er es. Aus „Kwiat“ wurde der Sündenbock für das vermeintlich verheerende 3:8. „Nach dem sechsten Gegentor habe ich mir Kreidestriche an den Torpfosten gemacht, damit ich mit dem Zählen mitkam“, berichtet Kwiatkowski heute. Der Sinn für Selbstironie ist ihm eigen. Als der 78jährige vor ein paar Monaten vom Magazin „Stern“ gefragt wurde, ob er dieses Spiel verarbeitet habe, antwortete er gewitzt: „Ja, vor drei Monaten.“ Der zweite WM-Einsatz seiner Laufbahn, 1958 in Schweden, verlief fast so schlimm wie der erste. 3:6 verlor Deutschland das Spiel um Platz drei gegen Frankreich. „Danach habe ich Seppel Herberger gesagt: ,Bitte nominieren Sie mich nie wieder.‘“ Woran sich Herberger auch hielt.“

Sehr schön! FAS-Interview (27.6.) mit dem Schriftsteller Robert Gernhardt

FAS: Mit Ihren eigenen Gedichten, aber auch mit der Sammlung „555 komische Gedichte aus 5 Jahrhunderten“, die Sie herausgaben, halten Sie eine deutsche Tugend hoch: den Sprachwitz. Wo bleibt der Spielwitz?
RG: Der deutsche Sprachwitz war ja lange vor dem Fußball da, mit Lessing und Lichtenberg als ersten Sturmspitzen. Dann lief er lange parallel auf vergleichbarem Niveau. Mittlerweile muß man wohl sagen, daß der Sprachwitz den Spielwitz überholt hat. Allerdings konnte den deutschen Dichtern nie nachgesagt werden, daß sie gute Turnierdichter seien und mit Kampfgeist noch da punkten, wo die anderen aufgeben.
FAS: Ein Vers von Ihnen, „Dich will ich loben, Häßliches/Du hast so was Verläßliches“, klingt wie ein triste deutsche Fußballbilanz.
RG: Nein, das bezog sich nur auf Metzingen. (…) 1966 war ich in Nordfinnland, während in Wembley das WM-Endspiel lief. Wir saßen im Bus von Rovaniemi, auf dem Weg zu einer dreitägigen Tundrawanderung. Im Radio des Busses lief etwas, das man als Reportage vom WM-Finale identifizieren konnte, auf finnisch natürlich. Außer yksi und kaksi, eins und zwei, habe ich kein Wort verstanden. Dann gingen wir wandern und wußten immer noch nicht, wer Weltmeister war. Nach drei Tagen trafen wir Menschen, Deutsche. Das erste, was sie sagten, war: „Wer ist Weltmeister?“ Ich glaube, ich war der letzte auf der Welt, der es erfuhr.
FAS: Dafür vergißt man so was nicht mehr. Es heißt ja, der Fußball schaffe Momente, in denen jeder weiß, wo er gerade war, als ein bestimmtes Tor fiel.
RG: Ja, er verleiht der Erinnerung Struktur. Selbst wenn man wie ich den täglichen Fußball nicht so intensiv verfolgt, ist das so bei den besonderen Ereignissen wie Welt- und Europameisterschaften. Etwa 1970 das WM-Spiel in Mexiko gegen England. Als Seeler den Ausgleich zum 2:2 schaffte, bin ich zum einzigen Mal in meinem Leben von wildfremden Menschen abgeknutscht worden. Das war auf Norderney, in einer Kneipe, wo Bauarbeiter auf Urlaub den Sieg feierten. Oder 1973 Netzers Selbsteinwechslung im Pokalfinale. Sich selber einwechseln und dann mit der ersten Ballberührung das Siegtor schießen, das vergißt man nicht. Das ist ein wahrgewordener Bubentraum. Solche Fußballerinnerungen schaffen ein Generationengefühl oder gar ein Nationengefühl.

if-Leser Stephan Beckmann wendet sich ab von der Fußball-Berichterstattung und der deutschen Mannschaft (aber nicht vom freistoss): “Neben der Fußballkrise gibt es auch eine Krise der deutschen Fußballberichterstattung. Besonders deutlich zeigt sich diese natürlich in Gestalt der Herren Beckmann und Kerner bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Darüber weitere Ausführungen zu verlieren erübrigt sich wohl, jeder weiß was damit gemeint ist. Deutschland braucht wieder Heribert Fassbender im Duett mit dem Experten Kalle Rummenigge. Als diese noch kommentierten, war auch die deutsche Mannschaft besser. Dass Herr Rummenigge dabei heute einige juristische Fachbegriffe benutzen würde, die er selbst nicht versteht, würde das deutsche Publikum aller Wahrscheinlichkeit nach wohl verzeihen. Es wäre allemal besser als die Tratschgeschichten der jetzigen Moderatoren. Vor allem aber befinden sich die Sport-Redaktionen der von Ihnen so genannten Qualitätspresse in einer Krise: Diese hatten doch mehrere Wochen Zeit, um die deutsche Nationalmannschaft, deren Taktik, Spielsystem, Stärken und Schwächen zu analysieren. Dies alles ist unterblieben. Zu lesen waren Berichte über die menschlichen Probleme Michael Ballacks in München, Olliver Kahns Wandlung vom Partyhengst zum besonnenen Torwart und die fröhliche Natur Lukas Podolskis. Während der EM gab es nur eine Diskussion über Jungspieler, die von Völler/Skibbe verstärkt eingesetzt werden sollten. Man reagierte damit doch nur auf die Schlagzeilen der Bild-Zeitung. Was aber der Nutzen einer jungen Mannschaft (außer der vielzitierten jugendlichen Frische) ist, wird von keiner Zeitung ausgeführt. Warum auch? Es gibt ja keinen! Spanien, eine der jüngsten Mannschaften des Turniers ist in der Vorrunde ausgeschieden, die Leistungsträger Tschechiens und Schwedens sind knapp unter oder über 30. Nur in Deutschland meint man, dass jung gleich erfolgreich ist. Warum gibt es beispielsweise auch keine Diskussion um Oliver Kahn? Außer hohen Abschlägen kann er das Spiel nicht eröffnen. Auch das ist ein Grund des deutschen Ausscheidens. Darüber hinaus gibt es das Problem mit seinem linken Fuß. Muss er den Ball mit diesem spielen, folgt darauf zu 90 Prozent ein Einwurf für die gegnerische Mannschaft. Die deutschen Zeitungen loben Rudi Völler für seinen starken Abgang. Dies mag richtig sein, ich kann es nicht beurteilen. Aber: Warum werden seine taktischen Fehler in den letzten zwei Jahren ausgeblendet. Diese sind doch wohl offensichtlich, man hat sie auch bei dieser EM wieder gesehen. Trotzdem ist Rudi Völler der heute beliebteste Mitarbeiter des DFB. Die deutschen Qualitätszeitungen sollten sich dafür einsetzten, dass er den Posten eines „Teammanagers Nationalmannschaft“ bekleiden kann. Das Duo Hitzfeld/Völler verspricht ja quasi die Weltmeisterschaft 2006.”

Kommentare

Comments are closed.

  • Quellen

  • Blogroll

  • Kategorien

  • Ballschrank

112 queries. 0,558 seconds.