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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Ottmar Hitzfeld ante portas

Oliver Fritsch | Sonntag, 27. Juni 2004 Kommentare deaktiviert für Ottmar Hitzfeld ante portas

Es ist eine EM, in der der wahre Fußball ganz zu sich findet

Von dem Turnier ist Christian Eichler (FAS 27.6) begeistert, beim deutschen Fußball vermisst er etwas: „Was sah und sieht man für großen Fußball bei dieser EM, Tempo, Technik, Einsatz, Phantasie; tolle Tore wie die Außenrist-Pirouetten von Ibrahimovic und Owen; aufregende neue Gesichter; Gesamtkunstwerke wie Tschechien gegen Holland oder Portugal gegen England. Nur nicht, wenn Deutschland spielte. Wann war ein deutsches Team zum letzten Mal an einer solch grandiosen Partie beteiligt? 1996, im Halbfinale gegen England? Oder WM 1990, gegen Holland? Denn es gibt, wie die EM zeigt, Mannschaften, die fast immer für Unterhaltung garantieren wie England, und Holland, aber auch Portugal und Tschechien; Teams, die Spiele gut machen, die Spaß und Lust und Staunen machen – jawohl, so etwas gibt es im Fußball. Und es gibt auch eine Schnelligkeit im Denken, die das deutsche Aufbau- und Angriffsspiel wie eine einzige mentale Zeitlupe wirken läßt. Kurzum: Fußball, der den Namen verdient. Der Star ist das Spiel. Es ist eine EM, in der der wahre Fußball ganz zu sich findet – jenseits der Illusionswelt des scheinbar „galaktischen“ Fußballs Marke Real Madrid, dessen Stars bei der EM nur Mitläufer waren bis hin zu jenem letzten deutschen Fußballvergnügen, daß der Weltstar Zidane mit seinem lahmen Ensemble durch den Bundesliga-Rentner Rehhagel und den Bundesliga-Ersatzmann Charisteas hinausflog. Jenseits aber auch des erstarrten Mittelmaßes, wie es Deutschlands Team heute darstellt. So, wie er geworden ist, ängstlich, verklemmt, ziellos, lustlos, hat der deutsche Fußball in der zweiten EM-Hälfte nichts zu suchen. Abgesehen von den verklärten frühen Siebzigern, vielleicht noch dem WM-Höhenflug 1990, ist er immer mehr Ergebnis- als Erlebnisfußball gewesen, und dafür muß man sich nicht entschuldigen. Doch nun, da auch die Ergebnisse nicht mehr stimmen, wird deutlich, wie lange man schon die Erlebnisse vermißt.“

Deutschland ist auf seinen eigenen Stil reingefallen

Wolfram Eilenberger (TspaS 27.6.) empfiehlt der deutschen Elf einen Stilwechsel: „Die deutsche Nationalmannschaft trug zu diesem Fest nichts bei. Dabei hat das Team keinesfalls schwächer gespielt als bei der WM 2002, als Saudi-Arabien, Kamerun, Paraguay, die USA und Südkorea bezwungen werden konnten. Diese legendären Siege wurden mit einem Stil errungen, der zu Recht als „typisch deutsch“ identifiziert wurde. Die Eigenheiten dieses Stils sind uns allen vertraut. Manche schätzen ihn sogar. Natürlich kennt der Experte auch andere Nationalstile (den italienischen, englischen, den argentinischen …). Soweit es Europa und Südamerika betrifft, entwickelten sich diese Fußballstile schon nach dem Ersten Weltkrieg, verfestigten sich mit den ersten Weltmeisterschaften und blieben als Orientierungsgrundlage bis heute unverändert. Wenn, wie zu großen Turnieren üblich, die Stilrhetorik aktiviert wird, sprechen wir allerdings von einem Phänomen, dem seit mindestens 20 Jahren die Grundlage entzogen ist. Es gibt keinen nationalen Fußball mehr. Das macht die Rede vom Nationalstil aber nicht wirkungslos. Im Gegenteil. Sie wird sogar spielentscheidend. Denn wenn heutige Nationalmannschaften aus Spielern geformt werden, die in sämtlichen Ligen Europas einsatz- und erfolgsfähig sind, dann wird der Auftritt einer Nationalmannschaft dadurch geprägt, welche Verbindlichkeit den faktisch überkommenen Nationalbeschreibungen noch zugemessen wird. Deutschland hat sich hier klar entschieden. In jeder Pressekonferenz beschwor Rudi Völler deutsche Tugenden. Die Mannschaft hat ihn nicht enttäuscht. Wir haben gekämpft. Wir waren diszipliniert. Wir zeigten Mannschaftsgeist. Wir sind erbärmlich gegen ein tschechisches B-Team ausgeschieden. Deutschland ist auf seinen eigenen Stil reingefallen. Mag sein, dass Deutschland einfach keine konkurrenzfähigen Spieler hat, doch daran wird sich für die nächsten zwei Jahre nichts Entscheidendes ändern. Die erschütternde Unbeachtlichkeit unseres Ausscheidens legt jedenfalls die Einsicht nahe, dass der „deutsche Stil“ im internationalen Fußball keine Zukunft hat.“

Hitzfeld würde die bunte Fußballwelt dem kleinkrämerischen DFB ein wenig näherbringen

Elisabeth Schlammerl (FAS 27.6.) hält Ottmar Hitzfeld für geeignet: „Dem 55 Jahre alten Lörracher ist am ehesten zuzutrauen, daß er fortführen kann, was Völler auf den Weg gebracht hat in den vergangenen vier Jahren. Er ist mit 16 Titeln der erfolgreichste deutsche Trainer, zudem wäre er der erste Nationaltrainer, der zuvor bei einem großen Klub in der Bundesliga gearbeitet hat. Hitzfeld würde die bunte Fußballwelt dem kleinkrämerischen DFB ein wenig näherbringen. Er genießt zudem in der Öffentlichkeit viel Respekt und bei den Spielern Autorität, wenngleich ihm die Verantwortlichen des FC Bayern zuletzt zu große Nachsicht und Freundlichkeit im Umgang mit den Profis vorgeworfen hatten. Hitzfeld wird zwar keine besseren Spieler zur Verfügung haben als Völler, kann nicht wie zuvor bei Dortmund und dem FC Bayern auf der ganzen Welt nach geeigneten Spielern suchen lassen, sondern muß mit dem Personal arbeiten, das der deutsche Markt hergibt. Aber er hat in seiner Trainerkarriere bewiesen, daß es manchmal nur eine Frage der richtigen Mischung ist. Hitzfeld ist zudem ein Medienprofi. Öffentliche Ausbrüche wie der von Rudi Völler nach dem Island-Länderspiel im vergangenen September, der ihm zwar viel Beifall einbrachte, aber ihn angreifbar werden ließ, gäbe es wohl nicht. Ottmar Hitzfeld hätte zudem wohl mehr Mut als Völler, junge Spieler einzubauen. Der Teamchef hielt am Ende seiner Amtszeit zu sehr an den einst bewährten Kräften fest. Es bliebe ihm vor allem im Sturm gar nichts anders übrig, als auf die Jungen zu setzen. Aber Hitzfeld scheut sich nicht, sich von Spielern zu trennen, die ihren Zenit überschritten haben oder die ihm nicht mehr weiterhelfen. Das haben Michael Zorc, Thomas Helmer, Paulo Sergio und Giovane Elber zu spüren bekommen. Der ehemalige Stürmer des VfB Stuttgart hat der Jugend stets eine Chance gegeben, wenngleich es manchmal aus der Not heraus geschehen ist. Lars Ricken und Ibrahim Tanko tauchten in Dortmund einst aus dem Nichts auf, strahlten hell wie ein Stern – nach Hitzfelds Rückzug verglühten sie bald wieder. In München baute er Roque Santa Cruz behutsam auf, Owen Hargreaves und Bastian Schweinsteiger brachten es zu Stammspielern. Allerdings kritisierten die Bayern-Mächtigen auch, viele Profis hätten in ihrem Leistungsvermögen stagniert, anstatt sich zu entwickeln. Hitzfelds Job als Nationaltrainer wäre aber nicht, die Talente auszubilden, mit ihnen täglich zu arbeiten, das obliegt den Vereinen. Er müßte ihnen nur einen letzten internationalen Schliff verpassen.“

Die Besetzung des Bundestrainerpostens beeinflusst das Machtgefüge des deutschen Vereinsfußballs, meint Gregor Derichs (FAS 27.6.): “Ottmar Hitzfeld ante portas. Wenn der 55 Jahre alte Südbadener seinen ewigen Assistenten Michael Henke mitbringt, falls er zum Bundestrainer berufen wird, trifft sich bei der deutschen Nationalmannschaft ein altbekanntes Trainergespann. Denn Sepp Maier ist schon lange da, seit Ende der achtziger Jahre, als er den Job des Bundestorwarttrainers erfand. Hitzfeld, Henke, Maier – das ist ein eingespieltes Team. Beim FC Bayern sammelte das Trio unter der Führung des im letzten Jahrzehnt erfolgreichsten deutschen Vereinscoachs Titel um Titel. Bei der Nationalmannschaft ist auch der Münchner Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, der langjährige Bayern-Arzt, tätig. Die deutsche Nationalmannschaft – ist sie bald in fester Hand des FC Bayern? Es sieht danach aus, daß zumindest der Einfluß des bajuwarischen Rekordmeisters deutlich anwachsen könnte. Es ist noch nicht so lange her, da waren die Münchner unzufrieden wegen des starken Einwirkens von Bayer 04 Leverkusen auf den DFB im allgemeinen und auf die Nationalmannschaft im speziellen. Die Machtsphäre sei nicht angemessen, weil der Verein aus der Chemiestadt vor den Toren Kölns, gemessen am FC Bayern, doch nur ein Kleinklub sei, murrten sie in München. Doch die forschen Rheinländer nahmen die Nationalelf im Handstreich. (…) Die nun gelockerten Verknüpfungen der Leverkusener zum DFB haben eine gewisse Tradition. Der weltweit operierende Bayer-Konzern gab dem DFB bei der Bewerbungskampagne zur WM 2006 mehrmals wichtige Hilfestellungen. Unter anderem beim Confederations Cup 1999 in Mexiko, als mit Bayer-Hilfe die Fußball-Funktionäre bearbeitet wurden, ihre Stimmen ein Jahr später bei der WM-Vergabe Deutschland und nicht Südafrika oder England zu geben. Die Leverkusener Connections in die deutsche Machtzentrale des Fußballs in der Frankfurter Otto-Fleck-Schneise sind exzellent: Wolfgang Holzhäuser, inzwischen alleiniger Geschäftsführer der Bayer Fußball GmbH, war lange Jahre Ligasekretär beim DFB und galt bis vor drei Wochen als designierter Nachfolger von Wilfried Straub auf dem Chefsessel der DFL. Die Leitenden des FC Bayern, vom Multifunktionär Franz Beckenbauer abgesehen, machen indes oft um DFB- oder DFL-Gremien einen großen Bogen. Das führende Unternehmen der deutschen Fußball-Branche sieht sich nur ungenügend in der mittelständischen Vereinigung DFL vertreten.“

FAS-Interview (27.6.) mit Matthias Sammer über Gegenwart und Zukunft des deutschen Fußballs

FAS: Macht es Ihnen als deutscher Trainer noch Spaß, seit Jahren immer wieder über die Defizite des deutschen Fußballs reden zu müssen?
MS: Die Problematik ist die, daß unsere Ansprüche höher sind als die Realität. Sobald etwas funktioniert, glauben wir, wir könnten Welt- oder Europameister werden. Das ist unrealistisch. Wir sind in der Breite einfach zu dünn besetzt, müssen sehen, daß wir wieder breiter werden. Und da sehe ich meine Aufgabe, dies mit zu entwickeln.
FAS: Eigentlich müßte man jedem talentierten Jungprofi doch raten, ins Ausland zu gehen, dorthin, wo derzeit viel besserer Fußball gespielt wird als in der Bundesliga.
MS: Ein junger Spieler, der zu früh geht, das ist auch problematisch. Die Kunst besteht darin, den richtigen Zeitpunkt zu finden.
FAS: Diese übervorsichtige Sichtweise ist doch typisch deutsch. Andere Nationen – siehe Rooney oder Cristiano Ronaldo – gehen damit viel pragmatischer um. Warum fehlt uns der Mut?
MS: Es haben doch mit Lahm, Schweinsteiger, Friedrich, Kuranyi und am Ende noch Podolski einige Junge gespielt. Insgesamt ist diese Hysterie nach der Jugend doch übertrieben. Bei allem, was wir für die Jugend machen müssen, ist eines klar: Das Spiel begreifst du erst mit Mitte Zwanzig. Bis dahin bist du zwar unbekümmert, aber abhängig von den Leadern in der Mannschaft. Sie müssen dich führen, dich an die Mannschaft heranbringen. Dieses Wechselspiel funktioniert bei uns im Moment überhaupt nicht.
FAS: Und welche Erkenntnisse aus Ihrer ersten, sehr wechselvollen Trainerzeit in Dortmund werden Sie in der Arbeit mit dem Nachwuchs einbringen?
MS: Man muß eines wissen: Der Ruf, junge Spieler zu integrieren, interessiert doch niemanden im nachhinein. Wir haben in Dortmund versucht, junge Spieler zu integrieren, ich glaube, das gab es die letzten zwanzig, dreißig Jahre nicht beim BVB. Wenn wir da mit 15 Verletzten und den riesigen Problemen im Klub die Nerven verloren hätten, wären wir gegen die Wand gefahren. Aber plötzlich wurde ein Gambino Stammspieler, und ein Odonkor oder Senesie haben sich weiterentwickelt. Die Nation schreit nach der Jugend, und man versucht, ihr eine Chance zu geben. Bleibt aber das Ergebnis aus, heißt es, Trainer, auf Wiedersehen. Das ist doch Quatsch. Die Zeit, etwas zu entwickeln, wie es nötig wäre, gibt es nicht.

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