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Der Mann mit der Wischmopp-Frisur
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| Donnerstag, 1. Juli 2004Otto Rehhagel stellt Fußball-Europa auf den Kopf (FR) – „Karel Poborsky dreht die Zeit zurück“ (FAZ) – Pavel Nedved, „der Mann mit der Wischmopp-Frisur“ (FTD) – Pierluigi Collina gibt heute seinen Abschied u.v.m.
Matti Lieske (taz 1.7.) gibt den Griechen Tipps, wie sie Sand in die tschechische Maschine werfen können: „Dreimal schaffte es Karel Brückners Team, einen Rückstand noch in einen Sieg zu verwandeln, erst beim 3:0 im Viertelfinale gegen Dänemark gelang es den Tschechen, selbst das erste Tor zu schießen. Besonders imposant war der 3:2-Sieg gegen die Niederlande nach 0:2-Rückstand, eine Leistung, die Johan Cruyff vor allem Karel Brückner zuschreibt: „Die Korrekturen, die er vorgenommen hat, waren entscheidend, damit hat er seine Qualität als Trainer unter Beweis gestellt.“ Cruyff ist beeindruckt von der Ballsicherheit, mit der die Tschechen blitzschnell das Mittelfeld überbrücken, sieht aber Probleme, wenn sie selbst das Spiel machen müssen – so wie gegen Lettland, als sie erst spät die beiden Tore zum 2:1-Erfolg erzielten. Genau hier liegt die Chance der Griechen, deren hochgewachsene Defensive klar besser ist als die der Letten und deren Konterspiel bislang hervorragend funktionierte. „Die Tschechen sind wie eine fein abgestimmte Maschine“, sagt der Däne René Henriksen, der bei Panathinaikos Athen spielt, meint aber auch: „Wenn die Griechen keine Angst haben und fest in der Abwehr stehen, können sie es schaffen.““
Unten ist oben in Portugal. Griechenland im Endspiel?
Wird Otto Rehhagel zum Idol, Ronald Reng (FR 1.7.)? „Die Welt steht nun schon seit Tagen Kopf, da macht Otto Rehhagel das Naheliegende. Er stellt sich selbst auf den Kopf. Die Spieler der griechischen Nationalelf stehen um ihren Trainer herum, Aufwärmen ist angesagt, Rehhagel leitet das noch immer selbst. Er ist 65, er macht jede Übung vor. Er schwingt sich zu einem astreinen Handstand auf. So hat er eine exzellente Sicht auf diese Europameisterschaft: Unten ist oben in Portugal. Griechenland im Endspiel? „Ich sage Dir, wir wissen, was wir können und was wir nicht können“, sagt Verteidiger Michalis Kapsis mit sanfter Stimme, „und wahrscheinlich haben die Tschechen viel mehr Qualität als wir. Aber ich glaube, sie spielen auch nur mit elf Mann, oder?“ Lauter kleine Rehhagels hört man in Falperra reden, oft benutzen seine Spieler exakt dieselben Sätze, die man von dem Fußballtrainer aus Essen schon seit 20 Jahren kennt. Diese Mannschaft ist ein Spiegelbild ihres Trainers. Und Otto Rehhagel ist in Zeiten, in denen über 50-Jährige scharenweise entlassen werden, weil ihre Fachkenntnis nicht mehr auf der Höhe der Zeit sei, ein Symbol, dass die Methoden von gestern auch heute noch erfolgreich sein können. Qualität ist nie aus der Mode. Der Handstand zum Beispiel. Die Fitnessgurus der anderen Teams hätten sich mit Grausen abgewandt und etwas von „altmodischen Übungen“ gemurmelt. Die Kritiker, die ihn lange kennen, hätten gegiftet, er mache das nur, um sich selbst zu inszenieren. Und vielleicht hätten sie alle ein bisschen Recht. Aber in Falperra ist der Effekt der Handstandübung sofort zu erkennen: Die Spieler applaudieren Rehhagel unter großem Gejohle, sie versuchen selbst einen Handstand, natürlich kriegt ihn keiner hin, mehr Gelächter – die gute Laune und das Gefühl, zusammenzugehören, sind wieder ein wenig gewachsen. Bevor Rehhagel vor drei Jahren kam, „war die Nationalelf ein Betriebsausflug“, erinnert sich Mittelfeldspieler Vassilios Tsiartas, das Quartier war voller Funktionäre und reicher Leute, die sich in der Nähe der Spieler sonnen wollten, „unter Rehhagel fühlen wir uns zum ersten Mal wie eine beschützte, verschworene Gruppe“. Von diesem Gefühl geleitet, folgen sie Rehhagels Weisungen treu, auch wenn sie ihnen manchmal antiquiert erscheinen mögen. Verteidiger, die sich an ihre Gegner wie Kletten hängen, immer wieder lange, diagonale Pässe auf die Stürmer – es sind einfache Methoden, derer sich Rehhagel bedient. Aber wer hat eigentlich die Regel aufgestellt, dass alles Gute raffiniert sein muss? Einfachheit ist noch immer der geradlinigste Weg zum Erfolg, wenn man die simplen Sachen einfach gut macht. (…) Die griechischen Fans werden auch in Porto wieder den Hit des Augenblicks singen, ein Lied, das die Hoffnung ausdrückt, Otto Rehhagel sei alles zuzutrauen: „Einai trelos, einai trelos o Germanos!“ Er ist verrückt, der Deutsche ist verrückt!“
Karel Poborsky dreht die Zeit zurück
Peter Heß (FAZ 1.7.) blickt neidisch nach Tschechien: „In der deutschen Nationalelf wäre Pavel Nedved der Leuchtturm. Die überragende Erscheinung in einem ansonsten ziemlich platten Land. So groß wie Kahn und Ballack übereinandergestellt. In Tschechien überragt Nedved nur knapp eine beeindruckende Skyline von Fußballgrößen (…) Nedved, der Finalist von 1996, macht ungern durch Worte von sich reden. Der „kompletteste Mittelfeldspieler Europas“, wie ihn viele Experten bezeichnen, gehört nicht zu den größten Rhetorikern. Die Komplexität seines Tuns auf dem Fußballfeld übersteigt seine Beschreibungsmöglichkeiten. Der tschechische Journalist Jan Palicka sieht ihn als „Arbeitspferd mit Scheuklappen“. Ein Arbeitspferd mit vielen Fähigkeiten. Nedved vereinigt die Stärken eines Lothar Matthäus und eines Wolfgang Overath in sich. Dynamik, Schußstärke, Zweikampfverhalten, Paßspiel und Torgefährlichkeit zeichnen Nedved gleichermaßen aus. Seit 1996 ist er einer der dominierenden Spieler in der italienischen Seria A für Lazio Rom und Juventus Turin. Sie nennen ihn „Furia Ceca“ – ein Wortspiel. Furia ist der Wilde, die Furie, Ceca bedeutet sowohl der Tscheche als auch der Blinde. Bei Nedved ist damit gemeint, daß er nur den Sieg und den Fußball sieht und nichts anderes.“
Um uns Karel Poborsky zu beschreiben, zieht Raphael Honigstein (FR 1.7.) Vergleiche an den Haaren herbei: „Patrick Poborsky war langweilig. Da hatte der Vater, ein gelernter Holzwerker und Modellbauer, eine Idee: Er bastelte dem Kind aus Sägespänen ein eineinhalb Meter langes Modell des untergegangen Luxuskreuzers Titanic zusammen, mit dem der Junior auf dem kleinen See vor dem Haus der Familie außerhalb Lissabons spielen konnte. Das Ding war tatsächlich seetüchtig, verletzt wurde niemand. Noch wundersamer als dieses Süßwasserabenteuer aus Karel Poborskys Zeit bei Benfica vor drei Jahren ist die Geschichte, die der Tscheche bei dieser Europameisterschaft schreibt. Man hat sich längst daran gewöhnt, dass solche Turniere alle zwei Jahre junge, unbekannte Spieler über Nacht in die Weltelite katapultieren; nur die Namen verändern sich. Aber dass einer der vergessenen Helden wie Poborsky, der vor acht Jahren bei der EM ‚96 mit seinen langen Haaren und einem sagenhaften Lupfer-Tor berühmt wurde und danach bald wieder in der Mittelmäßigkeit verschwand, mit seinen 32 Jahren noch einmal so beeindruckt? Allein Buchwalds legendäre Wandlung vom Guido zum „Diego“ in Italien 1990 hatte ein ähnlich großes Überraschungsmoment.“
Der Mann mit der Wischmopp-Frisur
Axel Kintzinger (FTD 1.7.) hofft, dass Pavel Nedved keine gelbe Karte kassiert: „Nun könnte sich der im Sozialismus aufgewachsene Nedved mit Karl Marx trösten und dessen Prognose, dass Geschichte sich nicht wiederhole. Aber zum einen lag Marx mit seinen Vorhersagen nicht immer richtig, und zum anderen fügte er ja noch einen Nachsatz hinzu: Falls sich Geschichte doch wiederhole, sagte Marx, dann als Farce. Nedved steht auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Und wohl auch vor dem Schlusspunkt. Der Mann mit der Wischmopp-Frisur – für deren Pflege er regelmäßig einen Barbier aus Rom einfliegen lässt – wird in wenigen Wochen 32 Jahre alt. Der Karriere-Herbst steht vor der Tür, und Nedveds Finalteilnahme am Sonntag könnte dafür sorgen, dass es ein goldener wird. Was also tun – ihn besser gar nicht erst aufstellen? „Ich denke nicht, dass er auf der Bank sitzt“, sagt Assistenztrainer Miroslav Beránek. Sich auf dem Platz zurückhalten? „Ich werde mich nicht drücken und auch nicht anders spielen“, sagt Nedved, „ich kann auf mein kampfbetontes Spiel nicht verzichten.“ Vielleicht hilft ja die Solidarität. Denn die gelbe Gefahr bedroht nicht nur den Kapitän. Auch Tschechiens Abwehrchef Tomas Ujfalusi und dessen Nebenmann Marek Jankulovski starten verwarnt ins Halbfinale. Ujfalusi, der sein Geld beim Hamburger SV verdient, will dennoch jedes Risiko wagen: „Es ist unmöglich, einem Zweikampf aus dem Weg zu gehen.““
Ralf Itzel (BLZ 1.7.) schaut Pierluigi Collina in die Augen: „Die guten Leistungen, die Glatze, der stechende Blick und die Körpersprache haben den Italiener Pierluigi Collina zum einzigen Star seiner Zunft gemacht. Viele Fußballer wären gerne so populär wie er. Schade, dass seine Laufbahn nun zu Ende geht. Das Halbfinale zwischen den Tschechen und den Griechen am Donnerstag ist sein letzter Auftritt auf der großen Bühne. Im Februar wird er 45 und erreicht die Altersgrenze des europäischen Fußballverbandes. 13 bis 14 Kilometer legt ein Unparteiischer pro Einsatz zurück, nicht viel weniger als ein Mittelfeldspieler, und trotz der Anstrengung muss er konzentriert bleiben und in Sekundenbruchteilen knifflige Urteile fällen. Das kann man nicht ewig machen. (…) Obwohl er so sicher wirkt, fühlt Collina sich oft einsam auf dem Rasen: „Ich habe niemanden, auf den ich mich stützen kann.“ Die Kraft holt er sich in Viareggio, wo er mit Frau und Töchtern in einer im asiatischen Stil eingerichteten Villa lebt, umgeben von Orangenbäumen. Eigentlich ist er Finanzberater einer Bank, aber der Fußball machte ihn reich und berühmt. Vor wenigen Monaten kam seine Biographie Le mie regole del gioco (Meine Spielregeln) auf den Markt, eine eigene Homepage hat er auch. Sogar für die Werbung ist er interessant. Vor ein paar Jahren ersetzte ein Schweizer Uhrmacher Fotomodell Laetitia Casta auf dem italienischen Markt durch ihn. Eine Studie unter Frauen hatte ergeben, dass Collina der Schiedsrichter mit dem meisten Sexappeal ist. Das muss an der Glatze liegen. Eine seltene Krankheit raubte ihm schon mit 24 alle Haare. „Heutzutage ist das Erscheinungsbild sehr wichtig“, sagt er, „aber die Verpackung ist nicht alles. Wenn das Produkt nicht zuverlässig ist, merken das die Leute. Ich fühle mich geschmeichelt, dass man mich schätzt, aber ich denke, dass ich dafür hart gearbeitet habe.“ Er ist immer gut vorbereitet, studiert die Taktik der Teams und die Positionen der Akteure. Sein tollstes Erlebnis war das Viertelfinale der Champions League 2003 zwischen Manchester United und Real Madrid (4:3), denn „beide Mannschaften dachten nur daran, Tore zu machen. Ein italienischer Trainer hätte einen Herzinfarkt erlitten“.“
Ich habe keine Geheimrezepte, außer für Kuchen
Karel Brückner ist manchmal seltsam, findet Christoph Biermann (SZ 1.7.): „Man spürt im Gespräch mit tschechischen Spielern schnell den Unterschied zur öffentlichen Wahrnehmung des Trainers. Bei dieser EM scheint Brückner mit dem Portugiesen Felipe Scolari um die Trophäe für den schratigsten Coach zu ringen. Wo der Brasilianer sich exzessiv blumig gibt, ist Brückner resolut wortkarg, auskunftsunwillig oder spricht in seltsamen Sentenzen. Witz hat das dennoch, wenn er etwa über die Aufholjagden in der Vorrunde sagte: „Othello erdrosselt Desdemona ja auch nicht schon im ersten Akt.“ Auf die Frage nach der kommenden WM-Qualifikation entgegnete Brückner: „Ich komme nicht aus der Sowjetunion und kann an fünf Maschinen gleichzeitig arbeiten.“ Tomas Ujfalusi vom HSV gesteht lachend, „dass wir ihn manchmal auch nicht verstehen“. (…) Mit Marek Heinz hat Brückner noch im Verein zusammengearbeitet. Bei Sigma Olomouc war das, dem kleinen mährischen Klub, wo Brückner, 64, die größten Teile seines Lebens verbrachte. Ein Vierteljahrhundert spielte er für Sigma und war vier Mal Trainer, insgesamt 17 Jahre lang. Gelegentlich erregte er dabei internationales Aufsehen, woran sich hierzulande die Fans des Hamburger SV noch mit Schrecken erinnern dürften. Im Viertelfinale des Uefa-Cups 1993 schied der HSV gegen eine Sigma-Mannschaft mit den späteren Bundesligaprofis Marek Heinz, Radoslav Latal und Pavel Hapal aus. Ansonsten tingelte Brückner zumeist durch die Provinz und trainierte kleine Klubs wie SK Prostejov, Zbrojovka Brno, SK Zilina und TJ Vitkovice. Brückner ist auch der Coach bei dieser EM mit dem luftigsten Trophäenschrank: der Gewinn des slowakischen Pokals 1995 mit Inter Bratislava ist sein einziger Titel. Einen ersten internationalen Erfolg verpasste Brückner 1986. Damals war er kurzzeitig schon mal Trainer des tschechischen U21-Nationalteams gewesen. Bei der EM im eigenen Land schied er jedoch im Viertelfinale unglücklich aus – durch ein Tor in letzter Minute gegen Griechenland. Nun, im Halbfinale dieser EM, ist sein Team der große Favorit, und wieder geht es gegen Griechenland. „Sie haben eine gute Verteidigung“, sagt Brückner, und viel mehr ist ihm über den Gegner nicht zu entlocken. Eine kuriose Figur ist dieser Schweiger trotzdem nicht, er hat nur am liebsten seine Ruhe und puzzelt sich Strategien für kommende Spiele zurecht. Nach dem Geheimnis seines Erfolgs gefragt, sagt Brückner: „Ich habe keine Geheimrezepte, außer für Kuchen.““