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Zwei völlig unterschiedliche Auffassungen des Fussballspiels

Oliver Fritsch | Freitag, 2. Juli 2004 Kommentare deaktiviert für Zwei völlig unterschiedliche Auffassungen des Fussballspiels

Griechenland-Tschechien 1:0 n. V.

Zwei völlig unterschiedliche Auffassungen des Fussballspiels

Felix Reidhaar (NZZ 2.7.) abstrahiert das zweite Halbfinale und sieht Tschechiens Avantgarde gefangen im Dispositiv der Griechen: „Die Mehrheit neigte zur schweren Skepsis angesichts der hellenisch-deutschen Spiel- und Sicherheits-Interpretation und der erheblichen Gefahr, dass auch die offensiv-risikobereiten Tschechen davon hypnotisiert werden könnten. (…) Die aufreizende Geduld, mit der die Griechen verteidigten und den Ball zwischendurch monopolisierten, machte auch den Tschechen schwer zu schaffen. Das Vorgehen entsprach zwar nicht dem Gusto des Publikums, schon gar nicht jenem tschechischer Herkunft, das nur mehr ein paar Hundertschaften zählte, der Mehrheit war offensichtlich das Geld ausgegangen, doch war dies auch nicht bezweckt. Es diente der einzigen Essenz des Spiels: dem Resultat. (…) Kam hinzu, dass Signor Collina, angeblich die unantastbare Instanz seines Gewerbes, die italienische Herkunft nicht ganz verleugnen konnte. Er entschied verblüffend häufig oder meist gegen die tschechischen Angreifer (Stürmerfouls), was der Moral weder Kollers noch von Baros förderlich war, zumal ihnen die scharfe Manndeckung ohnehin die Spielfreude vergällte. (…) Allerdings gingen unter diesem Verlauf auch Tschechiens Avantgarde die Einfälle verloren. So wurden aus dem vergleichsweise weniger homogenen Mittelfeld stereotyp weite und hohe Bälle zum „Bestimmungsort“ Koller geschlagen, doch in Panik gerieten die kopfballstarken, sauber und präzis intervenierenden hellenischen Hünen in der Defensive darob nicht. (…) Im zweiten Halbfinal waren tatsächlich zwei völlig unterschiedliche Auffassungen des Fussballspiels aufeinander geprallt. Hier die aufgrund ihrer stilistischen Besonderheiten atypische Equipe dieses Turniers aus Griechenland, dort das tschechische Team, das mit starken Individualisten fast schon geschaffen ist für Angriffsfussball und deshalb hier die Schönheit repräsentiert. Ähnlichen Sex-Appeal konnte man den Hellenen dagegen nicht bescheiden, dafür traten sie zu nüchtern-deutsch, zu berechnend und deshalb unspektakulär auf.“

Portugal-Holland 2:1

Halb leer? Halb voll? Nein, das Fass ist übergelaufen!

Thomas Klemm (FAZ 2.7.) notiert die Reaktionen der Holländer auf das EM-Aus: „Nach dem schlechten Ende eines überraschend guten EM-Verlaufs wussten die meisten Niederländer nicht so recht, was sie von ihrer Portugal-Reise nun halten sollten. Für die einen war das Glas halb leer, schließlich hatten sie nach ihrem Titelgewinn 1988 den zweiten Einzug ins EM-Finale verpasst, was Starstürmer Ruud van Nistelrooy als „bittere Pille“ bezeichnete; für die anderen war das Glas halb voll, nachdem eine Gruppe von Individualisten zunehmend zu einer Mannschaft zusammengewachsen war. „Wir brauchen keine Ausreden suchen, Portugal war heute besser“, sagte Makaay. Nicht nur für die Fans indes war das Fass längst übergelaufen. Altmeister Johan Cruyff sprach von „einer verlorenen Generation“ und meinte damit die Spieler. Die meisten Niederländer sahen einen einfachen Grund, weshalb die Mannschaft scheiterte, und der hieß Advocaat, alles andere als Volkes Liebling.“

Obi Wan Kenobi gab sein Wissen an den jungen Luke Skywalker weiter

Zeitspiel!!! Christian Zaschke (SZ 2.7.): „Seit es den Fußball gibt, gibt es das Zeitspiel. Einst hatten es die Italiener zu früher Perfektion gebracht, als sie in Europokalspielen ein 1:0 verteidigten, indem sie den Ball 20 und wenn nötig 30 Mal zum Tormann zurückspielten. Damals durfte der Torwart den Rückpass aufnehmen, und die vielleicht einzige geglückte Regeländerung der vergangenen Jahre untersagt das Aufnehmen der Rückpässe. Dennoch entwickelte sich ein Torwart zum Nestor des modernen Zeitspiels. Wann immer die jeweilige Mannschaft von Vítor Baía knapp vor Schluss in Führung lag – knapp vor Schluss ist in Baías Welt ein dehnbarer Begriff, er kann auch bedeuten: 70 Minuten vor Schluss – wann immer also es galt, eine Führung zu verteidigen, verschwendete der portugiesische Torwart Zeit, als sei dies das eigentliche Ziel des Spiels. Als er mit dem FC Porto gegen Celtic Glasgow im Uefa-Pokal-Finale 2003 3:2 in Führung lag, übertraf er sich selbst (was niemand für möglich gehalten hatte). Wenn ihn ein Gegner leicht berührte, blieb Baía mehrere Minuten im Strafraum liegen. Bald darauf war er wieder topfit, kurz darauf lag er wieder. Die Schotten waren fassungslos, so etwas hatten sie noch nie erlebt. Sie verloren 3:2. Ein Aufschrei der Empörung ging durch Portugal, als Nationaltrainer Scolari nicht Baía für die EM nominierte, sondern den Torwart Ricardo. Seit Mittwoch ist jedoch klar, dass Ricardo wie alle portugiesischen Spieler ein Schüler des großen Baía ist. Man muss sich das vorstellen wie im Filmepos „Krieg der Sterne“, in welchem der weise Obi Wan Kenobi sein Wissen an den jungen Luke Skywalker weitergibt. In der Folge ist der Geist Kenobis ein treuer Begleiter des jungen Helden, so wie nun der Geist Baías das portugiesische Team begleitet.“

Barbara Klimke (BLZ 2.7.) wird warm ums Herz: „Gegen halb elf Uhr nachts streifte Trainer Luis Felipe Scolari seinen Ehering vom Finger und verheiratete sich neu. Die Fußball-Chefreporter der drei portugiesischen Sporttageszeitungen O Jogo, A Bola und Record rief er feierlich zu Treuzeugen auf. Dann wandte er sich an den nicht anwesenden Verbandschef Gilberto Madail und leistete sein Gelübde: „Der Präsident der portugiesischen Fußballassoziation hat mit mir ständig über unsere Heirat gesprochen. Hier ist der Ring. Ich sage Ja zu weiteren zwei Jahren.“ Es fehlten nur noch das Geläut der Kirchenglocken, aber draußen vor dem Stadion hatte schon das Hupkonzert begonnen.“

Blut, Schweiß und Tränen

Da soll noch mal einer sagen, Männer könnten nicht zu ihren Gefühlen stehen: Thilo Wagner (FR 2.7.) erzählt vom großen portugiesischen Männerbündnis: „Luís Figo stand minutenlang im Mittelkreis. Sein Kopf ruhte auf den Schultern seines langjährigen Weggefährten Rui Costa, der ihm immer wieder zärtlich über den Hinterkopf strich. Figo war emotional k. o. (…) Figo hatte nicht nur seine mit Abstand spielerisch beste Turnierleistung erbracht, sondern bis zur letzten Minute gekämpft, geschwitzt und Zeit geschunden, damit die Holländer nicht noch in letzter Minute den Ausgleich erzielen würden. „Ich war nach dem Schlusspfiff unheimlich müde,“ sagte Figo. „Dies ist eine fantastische Nacht für ganz Portugal. Ich habe seit 1991 auf dieses Ziel hingearbeitet. Es ist ein sehr intensives Gefühl, das ich nicht beschreiben kann. Ich würde alle meine Titel für dieses Gefühl hergeben.“ Der portugiesische Spielmacher ist nicht der einzige, der mit dem 30. Juni ein ganz besonderes Erlebnis verbindet. Portugals Nationalcoach Luiz Felipe Scolari hatte genau zwei Jahre zuvor bei der WM in Japan und Südkorea Brasilien zum fünften Weltmeistertitel geführt. Und obwohl Scolari diesen Erfolg nicht schmälern wollte, wusste er um die Bedeutung des jetzigen Finaleinzugs des EM-Gastgebers: „Das Erfolgsgefühl ist jetzt sogar noch intensiver als in Tokio. Denn ich weiß: Portugal ist bisher noch nie so weit gekommen.“ (…) „Als mir Deco den Ball zuspielte, gingen mir zwei Gedanken durch den Kopf: Entweder schießen oder flanken. Zum Glück habe ich dann einfach direkt draufgehalten,“ sagte Maniche, der auf dem Platz durch seine aggressive, aber faire Spielweise auffällt, privat jedoch ein zurückhaltender und schüchterner Mensch ist. Auf die Frage, ob er sein Tor für den schönsten EM-Treffer hielt, antwortete der 26-jährige: „Das Tor war schön. Schöner aber war unser Sieg.“ Und weil es in der Selecção schon zum guten Ton gehört, die Siege der Nationalelf dem Volk zu widmen, verwies Maniche auf die Tausende von Motorradfahrern, die den Mannschaftsbus der Portugiesen vom Trainingslager in Alcochete bis ins 50 Kilometer entfernte Stadium José Alvalade mit wehenden Fahnen begleitet hatten. (…) Noch in der Nacht zum Donnerstag verkündete Scolari, dass er Portugal für weitere zwei Jahre trainieren werde. „Ich nehme den Heiratsantrag an, den mir der portugiesische Verbandspräsident gemacht hat,“ sagte Scolari.“

Im Westen nichts Neues

In Jan Christian Müllers Ausführungen (FR 2.7.) zu Holland lassen sich interessante Parallelen zu deutschen Problemen und Diskussionen erkennen: „Advocaat sah elend aus, als er ging. Nach 55 Länderspielen und zwei Amtszeiten hat der 56-Jährige keine Kraft mehr, keinen Mut mehr und keine Lust mehr: „Es gibt ein Leben nach dem Fußball. Ich weiß, was ich tun werde.“ In der nächsten Woche, verkündete sodann der niederländische Presseoffizier mit Leichenbittermiene, werde es ein Presse-Communiqué geben. Der Inhalt ist kein Geheimnis mehr: Dick Advocaat, gebrochen von der anmaßenden, tief verletzenden Medienkritik, die in Morddrohungen gegen ihn und seine Familie mündete, wird seinen Rücktritt bekannt geben. Und kaum jemand wird darüber traurig sein. Nicht der Gedemütigte selbst, nicht seine Frau, und erst recht nicht die meisten Menschen in Holland. (…) Mit Advocaat gehen freiwillig: Jaap Stam, 32, 72 Länderspiele; Frank de Boer, 34, 112 Länderspiele; Paul Bosvelt, 34, 24 Länderspiele; Marc Overmars, 31, 86 Länderspiele; möglicherweise gegen ihren Willen gehen auch: Pierre van Hooijdonk, 34, 42 Länderspiele; Phillip Cocu, 33, 84 Länderspiele; Edwin van der Sar, 33, 89 Länderspiele. Michael Reiziger, 31, 72 Länderspiele, denkt noch nach. Allesamt sind das alternde Männer, die den niederländischen Fußball über ein ganzes Jahrzehnt geprägt haben. Sie sind mitverantwortlich dafür, dass eine individuell herausragend besetzte Mannschaft wiederum gescheitert ist. Trostloser denn je. (…) Niemand konnte erklären, weshalb die eigentlichen Stärken des niederländischen Fußballs, Präzision und Fantasie, im Sommer 2004 einem deutsch-typischen Bolzspiel gewichen sind.“

Figo ist wieder da, Sven Goldmann (Tsp 2.7.): „Luis Figo ist ein Ästhet, und deswegen schaut er ein wenig angewidert auf das blecherne Ungetüm in seinen Händen. Der Pokal für den „Man of the match“ eignet sich als Vase für einen hübschen Strauß Brennnesseln, und Figo lässt sie demonstrativ stehen, als er zurück in die Kabine schleicht. Er ist verschwitzt und müde und wirkt älter, als er mit seinen 31 Jahren ist. Es liegt ein hartes Stück Arbeit hinter Luis Figo, er hat an diesem Abend seine Mannschaft ins EM-Finale geführt und sich dabei auch noch versöhnt mit den portugiesischen Fußballfans, ja mit dem ganzen Land. Vergessen ist der Streit um seine Auswechslung im Viertelfinale und das trotzige Verweilen in der Kabine. (…) Ein fantastischer Morgen folgt. Acht überregionale Tageszeitungen gibt es in Portugal, vier von ihnen machen am Donnerstag ihre Titelseite mit einem Bild von Figo auf, nicht nur Revolverblätter wie „24 Horas“, sondern auch seriöse Blätter wie „Diario de Noticias“. Die Portugiesen sind sich einig: Luis Figo ist wieder einer von ihnen.“

Bumba-la-boi

Matti Lieske (taz 2.7.): „Einfach machen es die portugiesischen Fußballer ihren Fans nie. Ein zweites Tor schießen, dann gleich hinterher ein drittes, den Gegner ein bisschen kommen lassen, dann eiskalt Nummer vier nachlegen – so etwas kommt für das Team von Felipe Scolari nicht in Frage. Hundertmal kann man die Spieler der Gastgeber dieser EM allein auf den gegnerischen Keeper zulaufen lassen, niemals werden sie den Ball ins Tor bekommen. Und sollte der Torwart von seinem Trainer wie beim Eishockey auf die Bank beordert werden, um einem weiteren Stürmer Platz zu machen, dann würden sie an seinem leeren Gehäuse den Pfosten treffen oder sich gegenseitig anschießen. Dafür fällt ihnen auf der anderen Seite immer noch etwas ein, um die Sache richtig dramatisch werden zu lassen. Der blödsinnige Eckball im Viertelfinale zum Beispiel, durch den die Engländer kurz vor Ende der Verlängerung zum 2:2 ausgleichen konnten, oder gegen die Niederlande das Eigentor von Andrade kurz nach dem 2:0. (…) „Purrtugal oléeeee“, schallte die glückstrunkene Sinfonie des Triumphs übers Land, als hätte das Team die EM bereits gewonnen. So ähnlich sehen es die Portugiesen auch. Das Finale ist sozusagen die Zugabe, die „Kirsche auf dem Kuchen“, wie es Felipe Scolari nennt. Ihre eigentliche Mission hat die Mannschaft jedoch schon gegen Holland erfüllt. „Wir segeln in Gewässern, die bisher niemand befahren hat“, nannte der selten um große Worte verlegene brasilianische Coach die Tatsache, dass Portugals Fußballer erstmals das Finale eines großen Turniers erreicht haben. 1966 bei der WM im Halbfinale trotz eines unwiderstehlichen Eusebio an den englischen Gastgebern gescheitert – und am Schiedsrichter, wie auch objektive Beobachter einräumten; 1984 in einem der schönsten Matchs der EM-Geschichte im Halbfinale an Platinis Franzosen; vor vier Jahren im Halbfinale gegen Frankreich an der Pfeife des Schiedsrichters Nielsen, der ein vermeintliches Handspiel mit Elfmeter ahndete. Zweimal also gegen den Gastgeber, dreimal gegen den späteren Titelträger verloren. Nun sind sie selbst das Heimteam und langsam überzeugt, dass dies ihr Turnier ist. (…) Sehr höfliche Worte hatte er für die Holländer, die bis zum zweiten Tor der Portugiesen in der 58. Minute klar unterlegen waren und erst durch den Konzentrationsverlust, die einsetzende Panik, den Kräfteschwund und die verheerende Abschlussschwäche des Gegners die Oberhand bekamen. „Zwei völlig gleichwertige Mannschaften“ wollte hingegen Scolari gesehen haben, und den Spielverlauf charakterisierte er mit dem brasilianischen Terminus „bumba-la-boi“. Was laut Scolari bedeutet: „Eine Richtung, andere Richtung, eine Richtung, andere Richtung.“ Hollands Coach Dick Advocaat hatte von Bumba-la-boi allerdings wenig bemerkt. „Das klar bessere Team ist verdient ins Finale eingezogen“, sagte der niederländische Coach und legte den Finger zielsicher in die Wunde: „Wenn die Stürmer keine Bälle bekommen, sind nicht immer sie selbst schuld.“ Die Pässe, die Bewegungen, das Spiel in die Spitze habe nie funktioniert. Eine Menge Leute in Holland hätten ihm vorher sagen können, dass genau dieser Effekt eintreten würde, wenn er ein Mittelfeld mit Davids, Seedorf und Cocu, jedoch ohne Sneijders und van der Vaart aufstellt. Jetzt werden es alle sagen, und Advocaats Tage als Hollands Coach dürften gezählt sein. Felipe Scolari aber hat in Portugal verlängert und freut sich nach erfolgreich abgeschlossener EM auf die WM 2006. Und auf das kleine Nachspiel am Sonntag natürlich.“

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