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Deutsche Elf

Erste Revolte der DFB-Geschichte

Oliver Fritsch | Samstag, 3. Juli 2004 Kommentare deaktiviert für Erste Revolte der DFB-Geschichte

„die erste Revolte in der DFB-Geschichte steht an“ (SZ) / „die Entmachtung Gerhard Mayer-Vorfelders könnte Hitzfelds letzter Job im Auftrag des FC Bayern gewesen sein“ (Tsp) / „das inzestuöse Trainergewerbe im deutschen Profifußball bedarf dringend einer Blutauffrischung“ (FR) / was muss der neue Bundestrainer können und sein? „stressresistent und ideal-kompatibel in Werbung und Medien“ (Tsp) / wie wär’s mit Morten Olsen? „er will dem Publikum nicht nur einen Sieg schenken, sondern auch ein Spektakel“ (FAZ) u.v.m.

Der Ärger sitzt bei fast allen zu tief

„Die erste Revolte in der DFB-Geschichte steht an“, meldet Thomas Kistner in der Süddeutschen Zeitung (4.7.) auf Seite 1: „Beim DFB-Bundestag am 23. Oktober will sich MV zur Wiederwahl stellen, sogar über eine dritte Amtszeit bis 2010 hat der 71-Jährige öffentlich nachgedacht. Allmachtsphantasien eines entrückten Verbandschefs, schimpfen die elf Präsidiumskollegen, die sich erstmals in der DFB-Geschichte zu einer Personalrevolte verschworen haben. Für EM-Beobachter Heinrich Schmidhuber ist der Ausgang so klar wie für Vize-Präsident Engelbert Nelle. Auch der Vizepräsident der Amateure kündigte ein Veto gegen MV an und verwies auf 21 Landes- und fünf Regionalverbände, die er vertritt. Wie Nelle hat Schmidhuber den rheinischen Juristen Theo Zwanziger, 59, zur Kandidatur gedrängt: „Nach meiner Kenntnis hat er die volle Unterstützung der Landesverbände.“ Die allein genügt, um die Mehrheit der 255 Delegierten zu erobern, zwei Drittel entstammen ja den Landesverbänden.“

Die Entmachtung Mayer-Vorfelders könnte Hitzfelds letzter Job im Auftrag des FC Bayern gewesen sein

Was führt Ottmar Hitzfeld mit seiner Absage im Schilde, Andreas Rüttenauer & Thomas Winkler (taz 3.7.)? „War es überhaupt eine Bauchentscheidung? Mit seinem Verhalten hat Meistertrainer Hitzfeld den DFB-Präsidenten Gerhard Mayer-Vorfelder derart ins Straucheln gebracht, dass es schwer fällt zu glauben, was beide nicht müde werden zu versichern: „Wir haben ein freundschaftliches Verhältnis.“ Dieses Verhältnis war in der Vergangenheit mitnichten so freundschaftlich, wie die beiden nun glauben machen wollen. (…) Der Wunschtrainer aller Experten im Lande weiß mächtige Verbündete an seiner Seite. Noch nämlich ist Hitzfeld vertraglich an den FC Bayern gebunden, Franz Beckenbauers FC Bayern. Wer die Auftritte von Mayer-Vorfelder in den vergangenen Wochen verfolgt hat, der dürfte sehr wohl Verständnis für die Sorgen haben, die sich Beckenbauer machen muss, wenn er an die Weltmeisterschaft 2006 denkt. Es ist seine WM, die er im Alleingang nach Deutschland geholt hat, die WM, die den krönenden Abschluss eines Lebenswerks bilden soll. Da kann er einen nuschelnden Verbandspräsidenten, dessen Alkoholfahne jeder glaubt riechen zu können, der ihn nur im Fernsehen sieht, so gar nicht gebrauchen. Zudem kann niemand von einem Kaiser verlangen, dass er neben sich einen Sonnenkönig duldet, der sich nebst Gattin Margit und den Kindern Marc, Michael und Miriam im Mannschaftshotel des DFB einquartiert, um sich im Scheinwerferlicht all der Pressevertreter zu sonnen, die eigentlich gar nicht wegen ihm gekommen sind. Nachdem der Leverkusener Einfluss auf die Nationalmannschaft marginalisiert werden konnte, steht nur mehr der greise Schwabe einer bayerischen Komplettunterwanderung des DFB entgegen. Die Entmachtung Mayer-Vorfelders könnte in diesem Sinne Hitzfelds letzter Job im Auftrag des FC Bayern gewesen sein.“

Wolfgang Hettfleisch (FR 3.7.) wünscht sich ein neues Gesicht: „Das inzestuöse Trainergewerbe im deutschen Profifußball bedarf dringend einer Blutauffrischung. Leuten wie Jürgen Klopp, dem 37-jährigen Trainer des Bundesliga-Aufsteigers Mainz 05, oder dem 46-jährigen, aber ähnlich unverbrauchten Rudi Bommer, der bei Absteiger 1860 München das Kommando übernommen hat, ist Erfolg zu wünschen. Und Meistercoach Thomas Schaaf sollte den Clubs und der Branche insgesamt als Beispiel dafür dienen, dass es sich lohnt, einem Trainer-Eigengewächs langfristig das Vertrauen zu schenken. Es ist nicht zuletzt die Kurzatmigkeit der Branche, die dazu geführt hat, dass sich allzeit der gesuchte Feuerwehrmann finden lässt, aber kaum mehr ein Handwerker, der in der Lage ist, perspektivisch eine vernünftige Mannschaft zusammenzubauen. Sammer hat das in Dortmund probiert – nach der Meisterschaft im ersten Trainerjahr mit zugegebenermaßen mäßigem Erfolg. Was dabei gern vergessen wird: Es war seine erste Trainerstation. Und ein Weisweiler oder Happel fällt nicht vom Himmel. Andere Ex-Nationalspieler haben es noch wesentlich schwerer als der neue VfB-Coach. Stefan Kuntz stieg auf seiner ersten Trainerstation mit dem Karlsruher SC prompt in die Zweite Bundesliga auf, ehe der Erfolg ausblieb und seine weitere Entwicklung stagnierte. Natürlich muss ein guter Coach keinen Großclub trainiert haben. Dafür gibt es genügend Beispiele. Iñaki Sáez, der nach dem EM-Aus jüngst als spanischer Nationaltrainer zurücktrat, hat in der spanischen Provinz und mit Jugendauswahl-Mannschaften gearbeitet. In Portugal ließ er, wenn auch mit geringem Erfolg, modern, ansehnlich und offensiv spielen. Das Problem, vor dem nun der DFB steht, ist ein Problem des gesamten deutschen Fußballs. Die Bundesliga-Trainerbranche funktioniert als „closed shop“. Und das setzt sich in der Zweiten Liga und in Regional- und Oberligen fort. Aufs Karussell darf meist nur aufspringen, wer schon mitgefahren ist – am besten oft.“

Ich glaube nicht, dass man aus eigener Machtvollkommenheit jemanden berufen kann
Tsp-Interview (3.7.) mit Henrik Balinier, Partner im Berliner Büro der Personalberatung Heidrick & Struggles, beschäftigt sich mit der Suche nach Führungskräften

Tsp: Wie finden Sie die Bundestrainersuche des DFBs?
HB: Dilettantisch. Beckenbauer, Rummenigge, Mayer-Vorfelder, jeder diskutiert sein Wunschprofil öffentlich. Der gesamte Prozess wird von niemandem moderiert. Es wirkt hilflos.
Tsp: Was empfehlen Sie dem Verband?
HB: Man sollte ein Recruiting Committee bilden. Vier, fünf Leute, deren Aufgabe es ist, den neuen Bundestrainer zu suchen.
Tsp: Das Präsidium will sich ja am Montag zusammensetzen. Was müssen die Verantwortlichen als Erstes tun?
HB: Sie müssen das Stellenprofil besprechen: Was brauchen wir, welche Probleme wollen wir lösen, wer ist geeignet? Wichtig ist, dass sich die Protagonisten dann einigen und die Informationen vertraulich behandelt werden. Sonst gerät man in die Gefahr, dass jeder einzelne Kandidat in der Öffentlichkeit so diskutiert wird, dass er nicht mehr in Frage kommt. Wenn dann eine Entscheidung getroffen ist, hören auch die Diskussionen auf.
Tsp: Welchen Sinn hat es, dass ein Einzelner das Verfahren an sich reißt, wie es DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder zuletzt getan hat?
HB: Überhaupt keinen, das habe ich auch in der Industrie noch nie erlebt. In der Regel werden Spitzenkräfte durch ein eingespieltes Team aus Personalleitern, Aufsichtsräten und Vorständen gesucht. Ich glaube nicht, dass man aus eigener Machtvollkommenheit jemanden berufen kann.
Tsp: Warum funktioniert die Kandidatensuche im Fußball nicht professioneller?
HB: Ich habe mir 1995 schon Gedanken gemacht, als Otto Rehhagel Trainer von Bayern München geworden ist. Da hat man hinterher gesagt: Uns war gar nicht klar, wie unmodern der ist. Das ist doch eine klassische Frage: Hätte man nicht vorher diskutieren können, was will Bayern München, wie modern muss die Mannschaft sein? Wenn man dann erst einen Trainer gesucht hätte, wäre Otto Rehhagel von Anfang an rausgefallen. So wie nicht jeder Trainer zu jeder Mannschaft passt, passt nicht jeder Manager zu jedem Unternehmen.
Tsp: Würden Sie dem DFB einen Headhunter empfehlen?
HB: Auf jeden Fall. Vielleicht sogar einen ausländischen Headhunter. Es muss jemand sein, der diese Sache unbefangen angeht.

Stressresistent und ideal-kompatibel in Werbung und Medien

Michael Rosentritt (Tsp 3.7.) blickt zurück und skizziert das Anforderungsprofil des Bundestrainers: „Der DFB muss aufpassen, dass die Suche nach einem neuen Bundestrainer nicht wieder zur Posse gerät. Nach dem EM-Aus 1984 musste Jupp Derwall gehen. Der damalige DFB-Präsident Neuberger war sich schon vor dem Turnier mit Stuttgarts Meistertrainer Benthaus einig, nur verbrachte der seinen Urlaub in Kanada, wo ihn niemand erreichen konnte. Die „Bild“-Zeitung titelte damals: „Franz: Ich bin bereit“. Nur Franz Beckenbauer wusste nichts davon – sein Manager Robert Schwan hatte die Schlagzeile platziert. Als größter Irrtum in der deutschen Trainergeschichte erwies sich 1998 die Ernennung Erich Ribbecks, nachdem Vogts vom Boulevard zum Rücktritt gezwungen worden war. Nach der desaströsen EM 2000 sollte Christoph Daum auf Ribbeck folgen. Da der nicht sofort eine Freigabe seines Vereins Bayer Leverkusen erhielt, wurde nach einer Übergangslösung gesucht. Rein zufällig wohnte Völler, der seinen Italienurlaub geplant hatte, einer Herrenrunde in einer Villa nahe Köln bei. Plötzlich blickten die anwesenden Entscheidungsträger des deutschen Fußballs auf Völler. So wurde er Teamchef. Einen natürlichen Übergang vom Assistenz- zum Cheftrainer kann es nicht mehr geben. So waren einst Schön, Derwall und Vogts ins Amt gerutscht. Das waren keine gestandenen Bundesligatrainer, sondern Eigengewächse des DFB. Mit dieser harmonischen Tradition brachen 1984 die Medien, die Beckenbauer ins Amt hievten. Er war ein Idol ohne Trainer-Lizenz. Eine solche Ausnahme war auch Völler. (…) Heute reicht es nicht mehr, Erfahrung und Autorität zu besitzen, als anerkannter Fachmann zu gelten und im Auftreten tadellos zu sein. Der neue Bundestrainer muss im höchsten Maß stressresistent und ideal-kompatibel in Sachen Werbung und Medien sein. Dieser Trainer muss die Denkweise der jetzigen Fußball-Generation verstehen. Der DFB aber muss bereit sein, dem neuen Trainer sämtliche Machtbefugnisse einzuräumen.“

Matti Lieske (taz 3.7.) warnt vor Rehhagel und nennt Alternativen: “Für die deutsche Nationalmannschaft wäre Rehhagels Inthronisation fatal. Ein Defensivsystem, wie er es praktiziert, kann kurzfristig bei einem Turnier funktionieren, wenn sich die Mannschaft in eine Art Rausch spielt. Auf Dauer ist es kaum konkurrenzfähig. Zudem braucht man genau die richtigen Spieler. Im EM-Finale stehen ja keine Gurken, die ein genialer Rehhagel in eine Wundermannschaft verzaubert hat, sondern die Griechen sind in der Breite deutlich besser besetzt, als es etwa das DFB-Team in Portugal war. Was dieses braucht, ist jemand, der Rudi Völlers Weg fortsetzt, die Mannschaft zügig weiter verjüngt, vor allem in der Abwehr, und ihre behäbige Spielweise durch modernen Tempofußball ersetzt, wie ihn die Portugiesen vorführen – hoffentlich auch morgen im Finale, das dann eine klare Angelegenheit sein sollte. Den Bundestrainerjob soll Peter Neururer machen, Wolfgang Wolf, Bernd Schuster, Hans Meyer, Jürgen Klopp, Gernot Rohr, Jürgen Klinsmann, Thomas Schaaf. Aber um Gottes willen nicht Otto Rehhagel.“

Absolutistische Methoden

Peter Heß (FAZ 3.7.) ergänzt: “Sollten wir auch dem deutschen Fußball Otto Rehhagel wünschen? Die Antwort kann nur: Jeinjaneinvielleicht heißen. Wer Griechenland ins EM-Endspiel führt, scheint prädestiniert dafür zu sein, mit Deutschland bei der WM im eigenen Land zumindest bis ins Halbfinale vorzudringen. Wieder muß der Fußballehrer mit einem Außenseiter unmöglich Scheinendes bewältigen. Der Erfolg wird jedoch nur schwer übertragbar sein. In Griechenland warteten sie auf Rehhagel wie auf einen Messias. Als der große Außergriechische konnte er alles durchsetzen, was er meinte, verändern zu müssen. In seiner Heimat wird er seit Jahren durchschaut, Stärken und Schwächen sind transparent. In Deutschland braucht es provinzielle Strukturen wie in Bremen und Kaiserslautern, um Rehhagels System der demokratischen Diktatur, wie er es selbst nennt, zu entfalten und aufrechtzuerhalten. Im grellen Scheinwerferlicht, in das eines der wichtigsten Ämter der Bundesrepublik getaucht ist, wirken seine absolutistischen Methoden weniger geheimnisvoll und charmant-verschroben als wunderlich und altmodisch.“

Rehhagel hat sich eine Mannschaft aus der eigenen Rippe erschaffen

Josef Kelnberger (SZ 3.7.) fügt hinzu: „Man kann auch Rehhagels Notwehr-Fußball amüsant finden. Er führt uns zurück in die Vergangenheit des deutschen Fußballs und wirkt erträglich, weil er in griechischen Farben daher kommt. Zumindest aus der Ferne betrachtet erkennen wir in Otto Rehhagel ein Relikt aus alten Bundesligazeiten. Das ändert allerdings nichts daran, dass die Zukunft des Fußballs im portugiesischen Gewand steckt. Damit ist auch schon die Frage beantwortet, ob der deutsche Fußball zwei Jahre vor der Heim-WM Zuflucht beim Modell Rehakles suchen sollte. Rehhagels Erfolg mit den Griechen spricht stark dagegen. Rehhagel hat sich eine Mannschaft aus der eigenen Rippe erschaffen“.

Sven Goldmann (Tsp 3.7.) wirft ein: „Bisher galt als gesichert, dass ein Bundestrainer Otto Rehhagel am Widerstand des FC Bayern scheitern würde. Bei dem ist Rehhagel nach seinem desaströsen Abstecher in die Münchner Fußball-Schickeria vor acht Jahren unten durch. Inzwischen aber ringt sich sogar Rehhagels einstiger Oberkritiker Franz Beckenbauer zu einem Kompliment durch: „Die Griechen sind die Sensation des Turniers. Auch wenn ihr Stil nicht unbedingt attraktiv ist, haben sie es verdient, im Finale zu stehen.““

Olsen will dem Publikum nicht nur einen Sieg schenken, sondern auch ein Spektakel

Wer sonst könnte es machen, Michael Horeni (FAZ 3.7.)? “Morten Olsen, einst für den 1. FC Köln, Ajax Amsterdam und seitdem für die dänische Nationalmannschaft zuständig (bis 2006 unter Vertrag), ist nichts weniger als das fußballfachliche Gegenteil Rehhagels. „In Deutschland wird Fußball gelaufen“, sagt Olsen schon seit Jahren. Der 54 Jahre alte Däne dagegen interpretiert den Fußball auf eine Weise, wie ihn bei dieser EM viele Mannschaften hochattraktiv betrieben haben. Olsen will dem Publikum nicht nur einen Sieg schenken, sondern auch ein Spektakel. Offensiv soll das Spiel ausgerichtet sein, meistens sollen seine Mannschaften im Ballbesitz und in der Hälfte des Gegners sein. Olsen fordert in Deutschland den Mut zum Risiko schon bei der Jugendausbildung – nicht erst heute, sondern seit fast zehn Jahren.“

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