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Der 4. Juli 1954 – ein freistoss-Dossier
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| Samstag, 3. Juli 2004Neunzehnhundertvierundfünfzig
Das war der Anfang. Und so geht es weiter:
Von Deutschland und dem großen Geist von Spiez
nahm man zunächst nicht allzu viel Notiz.
Ungarn ist Meister. Deutschland Außenseiter.
Man werde diese Herrn in Bern schon klöpfen,
die Herrn aus Deutschland: Morlock, Schäfer, Rahn.
Die Ungarn sind unschlagbar momentan.
Das hörte man aus sehr geschätzten Köpfen.
Der Chef jedoch, um alles aufzuschreiben,
schickt seine Späher aus, geduckt und schnell,
nach Solothurn, hinein in das Hotel,
um dort zu sehen, was die Ungarn treiben.
Salami, Gulasch, mächtige Portionen,
Champagner knallend und gewaltig große
Zigarren, ach, ein Leben lax und lose,
in dem Hotel in dem die Ungarn wohnen.
Die Späher mit den falschen Hüten schleichen
davon, vermummt – dagegen unverblümt
sieht man die Ungarn, singend, weltberühmt,
die Korken ziehen und die Damen streichen.
Sepp Herberger hat alles eingetragen
in sein Notizbuch und darauf die Welt
an einem Tage auf den Kopf gestellt;
und das geschah nach seinen Unterlagen.
Die Ungarn greifen anfangs an, sie kommen
mit Puskas, Czibor, Hidegkuti, Toth.
Doch Toni Turek ist ein Fußballgott.
und hat das Leder aus der Luft genommen
Boß Rahn, im Fallen jubelnd, hat getroffen,
mit seinem linken Fuß, das sieht man gern,
an einem schiefergrauen Tag in Bern.
Für Deutschland ist der ganze Himmel offen.
Der Chef: man sieht, wie er in Bern verschmitzt
hoch auf den Schultern seiner Männer sitzt.
Aus: Ror Wolf: Das nächste Spiel ist immer das schwerste. Alte und neue Fußballspiele. Haffmans, Zürich 1990.
„Die Stimme bebte, ich bebte mit, ich schrie nicht auf, durfte während der Mittagsruhe den Torschrei nicht mit meiner Stimme verstärken, denn der Ofen war durch einen Schacht mit dem Kachelofen im Zimmer der Großeltern verbunden und übertrug jedes auffällige Geräusch direkt nach oben. Und wieder stürmt Deutschland … die leise laute Stimme hob mich, peitschte mich zu einer Regung auf, die mich gleichzeitig in einen stimmlosen Stillstand versetzte, ich fühlte den Sturm der Gefühle, den das zweite Tor in mir ausgelöst hatte, aber ich hatte kein Ventil dafür, durfte keins haben, also staute ich alles auf, sammelte, speicherte und hielt still … Kinder ist das eine Aufregung! Ich hatte noch nie eine Fußballreportage gehört, immer öfter fielen Wörter, die nichts mit Fußball zu tun hatten … Wunder! … Gott sei Dank! … So haben wir alle gehofft, gebetet! … und ich staunte, daß der Reporter das Wort glauben mit mehr Inbrunst als ein Pfarrer oder Religionslehrer aussprechen konnte. Beinah wieder ein Tor für Ungarn, beinah ein Tor für Deutschland, und wieder hielt Toni Turek einen unmöglichen Ball, wieder Gefahr, der Ball im Tor, nein … Turek, du bist ein Teufelskerl! Turek, du bist ein Fußballgott! Ich erschrak über diese Sätze und freute mich gleichzeitig, daß Turek gehalten hatte, aber der Schrecken saß tiefer, und im Abklingen des Echos dieser Rufe begann ich auf die schüchternste Weise zu ahnen, was für Schreie das waren: eine neue Form der Anbetung, ein lästerlicher, unerhörter Gottesdienst, eine heidnische Messe, in der einer gleichzeitig als Teufel und Gott angerufen wurde. Auch wenn es nicht wörtlich gemeint war, Phrasen des Jubels nur, ich drehte die Lautstärke noch ein wenig herunter, weil es mir peinlich gewesen wäre, wenn jemand mich beim Hören von Wörtern wie Fußballgott abgehört hätte. Ich sträubte mich gegen diese Lästerung und bot alle meine angelernten Argumente dagegen auf: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir, Du sollst den Namen des Herrn nicht unnützlich führen, und doch gefiel mir, noch immer gebannt vom Nachklang der drei Silben Fußballgott, daß dieser Gott sehr menschlich war, daß da Götter, statt blutend am Kreuz zu hängen, für mich im Tor standen oder Tore schossen, sich abrackerten im strömenden Regen und kämpften wie Liebrich, Liebrich, immer wieder Liebrich, und langsam ahnte ich, weshalb meine Eltern für den Fußball und für meine schüchterne Neigung zu diesem Sport nichts übrig hatten und hier vielleicht die Konkurrenz anderer, lebendigerer Götter fürchteten.“
Aus: Friedrich Christian Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde. Hamburg, Rowohlt 1994.
„Im Zuchthaus Brandenburg spielte sich am 4. Juli 1954 eine Begebenheit ab, die wie unter einer Lupe deutsche Biographien und jüngste deutsche Geschichte zusammenführte. Hermann Kreutzer, Jahrgang 1923, saß damals als politischer Häftling im Zuchthaus Brandenburg. Der Sozialdemokrat war 1949 wegen staatsfeindlicher Tätigkeit zu fünfzehn Jahren verurteilt worden, er hatte zusammen mit Freunden in Thüringen eine unabhängige SPD im Untergrund weitergeführt. Das Zuchthaus Brandenburg (an der Havel) war Anfang der dreißiger Jahre als Modell-Zuchthaus gebaut worden, diente den Nazis – auch als berüchtigte Hinrichtungsstätte –, nach dem Krieg den ostdeutschen Machthabern. Das Zuchthaus, heute JVA Brandenburg, war im Sommer 1954 überbelegt. Rund 3000 Häftlinge drängten sich in den Zellen zusammen. Kreutzer und andere Mithäftlinge berichten von Kriminellen, vermeintlichen und tatsächlichen NS-Tätern, alten SA- und SS-Männern und mehreren hundert SED-Regimegegnern, die die politische Entwicklung der Jahre nach 1945 in das Zuchthaus gespült hatte. Peter Moeller, Jahrgang 1931, saß wegen „Verschwörung und Anstiftung zu einem Angriffskrieg“, er hatte 1950 auf Plakaten freie Wahlen in der DDR gefordert. Am Tag des WM-Endspiels überraschte die Zuchthausleitung die Häftlinge der Abteilung 3. Wenn sie sich ruhig verhielten, ihre Zellen nicht verließen, würde man die Zellentüren am Nachmittag angelehnt lassen und sie dürften die Radio-Reportage aus Bern mithören. Kreutzer und Moeller, die sich nicht kennen, berichten übereinstimmend, daß von den Aufsehern dafür keine Begründung geliefert wurde. Auf den Zellen wären sich aber alle einig gewesen; die Gefängnisleitung wollte den Gefangenen die Überlegenheit des Sozialismus am Sieg der Ungarn gegen den westdeutschen Klassenfeind demonstrieren. Übertragen wurde über Lautsprecher auf den Fluren die DDR-Hörfunkreportage Wolfgang Hempels. „Es war mäuschenstill“ berichtet der pensionierte Gymnasiallehrer Moeller, keiner wollte dieses unverhoffte Privileg aufs Spiel setzen. Die Gefangenen kannten die deutschen Spieler kaum, vom Verlauf der WM hatten nur einige per Zufall aus alten Zeitungen erfahren, die im Zuchthaus rumgingen. Die Sympathien waren eindeutig. Wir hielten alle für Deutschland, sagt Kreutzer, schon wegen des Hasses auf das SED-Regime. Gegen neunzehn Uhr meldet der DDR-Reporter Hempel seinen Zuhörern im Zuchthaus den Sensationssieg der westdeutschen Mannschaft. Plötzlich, so erinnern sich Kreutzer und Moeller, fing ein Gefangener an zu singen: das Deutschlandlied, die erste Strophe. Und alle fielen ein, so wie wenig später die zwanzigtausend deutschen Zuschauer im Berner Wankdorfstadion bei der Siegerehrung. Im DDR-Zuchthaus Brandenburg stiftete der WM-Sieg einen Gefangenenchor, allerdings nur für zwei, drei Minuten. Die Wärter drehten durch, Türen knallten, Schlösser wurden verriegelt, und auf den Fluren wurde getobt – Ruhe! Die Gefängnisleitung verschwieg den für sie hochnotpeinlichen Vorfall.“
Oliver Merz, Redakteur des Südwestrundfunks, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 3. Juli 2004
„Schlußpfiff, Jubel, Tränen, hysterische Ausbrüche. Ist Sepp Herberger aufgesprungen, hat er gestikuliert, wem fiel er um den Hals? Keiner schien in diesem Augenblick auf den kleinen Mann an der Seitenlinie zu geachtet zu haben, der bis zum Schluß mit unbewegtem Gesicht im durchgeweichten Regenmantel am Spielfeldrand gesessen hatte. Er hatte – sagte er später – gar nicht mitgekriegt, daß es regnete. Und er wußte hinterher nicht mehr, wer ihm die Hand geschüttelt hatte. Der Ball ist rund? Hier hatte sich ein Leben gerundet. An diesem Sonntag, dem 4. Juli 1954, um 18.55 Uhr in Bern. Der kleine Seppl hatte es allen gezeigt. Dieser Sieg – das war mehr als alle Torschüsse seines Lebens und auch mehr als Prädikatsexamen und Orden und Titel. Mehr als Geld sowieso. Bis zum Ende seiner Tage würde Sepp Herberger in stillen Stunden immer wieder die Platte auflegen mit der überschnappenden Stimme von Herbert Zimmermann: „Aus! Aus! Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!“ Der größte Tag im deutschen Fußball, und er, der kleine Seppl, hatte es bewirkt. Hatten nicht alle an ihm gezweifelt? Hatte er nicht alle überrundet? Jetzt hatte er es ihnen gezeigt, allen. Denen, die schon tot waren, und denen, die noch lebten. Seine Spieler hoben ihn auf die Schulter, doch den Pokal wollte er nicht tragen: „Nein, nein – ihr, die Mannschaft habt ihn verdient.“ Als er in die Kabine gekommen war, wo alles durcheinanderredete, wußte er auch nicht mehr, wie viele Hände er gedruckt hätte. Er fand auch keine Worte. Langsam wurde es dann sehr ruhig im Umkleideraum, erinnerte sich Herberger. Mit hochroten Gesichtern und fast leeren Blicken nuckelten die Spieler an ihren Obstsäften. Und saßen auf den Bänken. Jetzt endlich übermannte Herberger Rührung und Freude, er konnte seine Bewegung nicht mehr verbergen: „Was soll ich sagen! Ich bin so glücklich und auf meine Mannschaft so stolz ..!“ (…) Dann gingen die Helden von Bern zum Omnibus. Der Weg, so erinnerte sich Herberger, führte durch ein Spalier sich ausstreckender und in Übermut und Freude zuschlagender Hände. „Ich bin sicher – und mit den Spielern darin einig –, daß es in allen Fällen Ausdruck der Verbundenheit und Dankbarkeit sein sollte. Aber Männer haben oft ihre eigene Art, ihren Gefühlen Ausdruck zu geben. Ich habe noch nach Tagen diese Beweise gespürt.“ Schon hier – in der Stunde des Triumphes – kriegten die neuen deutschen Idole zu spüren, wieviel Aggression in der Bewunderung liegt, wieviel Schmerz auch das Leben für den bereithält, der siegt. Sepp Herberger und die Helden von Bern waren – im wahrsten Sinne des Wortes – vom Glück geschlagen.“
Aus: Jürgen Leinemann: Sepp Herberger. Ein Leben, eine Legende. Rowohlt, Berlin 1997.
„Dann kam die Rede auf Herberger. Einer wollte wissen, daß er die Spieler mit dem Absingen von Liedern wie „Das Wandern ist des Müllers Lust“, „Jenseits des Tales“ oder dem Kanon „Mein Hut, der hat drei Ecken“ quälte. Als Sangesbrüder sollten sie zu jenem Freundeskreis werden, der den Erfolg verbürgt. „Reiner Masochismus!“ rief einer, der gerade mit einem halben Dutzend frisch abgefüllter Biergläser vorbeikam. „Na ja“, ergänzte der Glatzköpfige, „ein Psychologe ist ,der Chef‘ nun wirklich nicht“, und der Dicke, der schon drei Minuten geschwiegen hatte, mußte nun auch sein Urteil abgeben: „Wie kann er nur“, äußerte er geradezu aufgebracht, „den sensiblen Fritz (Walter) zu dem ruppigen Rahn aufs Zimmer sperren?!“ Herbergers größte Verrücktheit, sagte wieder der vom Nebentisch, sei es aber gewesen, im ersten Spiel gegen Ungarn sieben oder acht Ersatzleute aufzustellen. Das müsse die Spieler doch für das ganze Turnier deprimieren. Daher gehe die Sache diesmal 10:2 oder auch 12:1 aus. Und so immer weiter. (…) Zur Halbzeitpause kam ein Nachbar ins Lokal, um sich mit weiteren Getränken zu versorgen. „Was!“ rief er, „ihr hört den Bilderkommentar? Ich kombiniere Fernsehen mit dem Radiokommentar von Herbert Zimmermann. Großartig und verrückt wie immer! Müßt ihr auch machen!“ (…) Im Fernsehen hoben sie den Bundestrainer auf die Schultern, und der Pessimist mit der Stollenfee meinte, er habe es ja immer gesagt: Der Herberger sei ein großer Psychologe. Die „Ersatzmannschaft“ im ersten Ungarnspiel, wußte ein anderer, sei natürlich nur ein Trick gewesen, und die Pußtaleute hätten sich glatt reinlegen lassen. Und wie er den Fritz wild gemacht habe, der Sepp, sagte der Skeptiker vom Nebentisch: „Setzt dem Fritz einfach den ‚Boß‘ aufs Zimmer und gleichsam in den Nacken! Genial!““
Joachim Fest, Historiker und Zeitungsherausgeber, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 3. Juli 2004
„Heute vor 50 Jahren, flüstern Märchenerzähler, habe der eigentliche Gründungsakt der Bundesrepublik Deutschland stattgefunden. Mit dem Sieg der deutschen Elf im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft 1954 hätten die Deutschen den neuen Staat ein halbes Jahrzehnt seit seiner „nur“ formellen Gründung endlich angenommen und zu ihrem eigenen gemacht. Das „Wunder von Bern“ wird allenthalben als ein einziger großer Ruck beschrieben, der durch die Nation gegangen sei. Das geschickt inszenierte Bild von den Tugenden der Herberger-Mannschaft hat zwar nur bedingt mit der Wirklichkeit zu tun, doch das konnte dem Erfolg des Mythos keinen Abbruch tun. Wir alle – rechts und längst auch links – wollen uns an diesem imaginären Gründungsfeuer wärmen: mehr Aufbruch war nie. Auch Bundespräsident Horst Köhler hat in seiner Inauguraladresse an das deutsche Volk auf fast rührende Weise die Wankdorf-Legende bemüht. Bei der gegenwärtigen EM stamme das Know-how des offiziellen Fußballs aus Deutschland – „eine Spitzenleistung deutscher Materialforschung“, die dem Ball viel leichter mache als „sein bleischweres, vom Regen vollgesogenes Vorgängermodell beim Wunder von Bern“. Das Bild vom großen Nachkriegsaufbruch ist auch deswegen so beliebt, weil damit eine scharfe, viel zu eindeutige klare Trennungslinie zur Zeit davor gezogen ist. Tatsächlich aber gab es diesen Aufbruch vermutlich gar nicht: Was wir so nennen, bestand aus unzähligen tagtäglichen Gründungstaten. Man sollte die unheroische Geschichte der Bundesrepublik nicht rückwirkend heroisieren.“
Thomas Schmid, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 4. Juli 2004
„Angesichts der Ermüdungserscheinungen in der ungarischen Mannschaft, traf es sich gut, dass im Endspiel ‚nur’ die Deutschen warteten. Die beiden Hauptkonkurrenten hatte man ja schon selbst ausgeschaltet. „Was wir von den Deutschen gewusst haben, das war der Eindruck, den wir durch das 8:3 bekommen haben. Als wir nach dem Spiel gegen Brasilien gehört haben, dass wir im Endspiel noch mal auf die Deutschen treffen, da haben wir uns gefreut. Das war keine Geringschätzung den Deutschen gegenüber, aber wir dachten, wir wissen nun mal, wie die spielen“, erinnert sich Torwart Grosics. Der einzige aus der Mannschaft, der an einem Sieg zweifelte, war Gyula Lóránt. „Er hat drei Tage lang immer wiederholt: Wir haben uns nicht so vorbereitet, wie man das eigentlich für ein Endspiel machen müsste: Donnerstag kein Training, Freitag nichts, Samstag drehte sich alles nur um die Frage: Spielt Puskás oder spielt er nicht?“ Lóránts Gesprächspartner Szepesi ließ sich durch dessen Zweifel nur mäßig beeindrucken und tippte auf ein 5:1. Zum ersten Mal in seiner Reporterkarriere verzichtete er darauf, an der obligatorischen Mannschaftssitzung vor dem Spiel teilzunehmen. Bei so viel laissez-faire wurde selbst das Regime in Budapest lax in seinen Entscheidungen. „Man hat uns vorher in Aussicht gestellt: Nach dem Endspiel, dieser lästigen Sache, die ihr jetzt hinter euch bringen müsst, kommen eure Frauen und ihr dürft mit ihnen noch eine Woche in der Schweiz bleiben“, erzählt Grosics, und Buzánsky fügt an: „Es war ein riesiges Geschenk der Regierung, dass sie unsere Frauen hinausgelassen haben. Normalerweise haben sie Frauen und Männer nicht gleichzeitig fahren lassen, weil sie Angst hatten, dass wir abhauen.“ Gemeinsam hätten sie dann zum Empfang gehen sollen, zu dem die ungarische Gesandtschaft in Bern bereits 24 Stunden vor dem Endspiel 150 Einladungen verschickt hatte: „Die ungarische Gesandtschaft gibt sich die Ehre, Sie am Tage nach dem Finale der Weltmeisterschaft, am Montag den 5.7.1954, als ihren Gast zu begrüßen.“ Der zweite Platz sollte hier mit Sicherheit nicht gefeiert werden. „Ja, ja. Die haben selbst den lieben Gott geladen“, sagt Grosics. In Empfang genommen wurden die Spielerfrauen bei ihrer Ankunft zum Endspiel im Berner Stadion einstweilen vom Ersatzspieler Károly Sándor mit den Worten: „Regt euch nicht auf, Mädchen, das Spiel gewinnen wir mit geschlossenen Augen.“ Und dann das …“
Aus: Peter Kasza: 1954 – Fußball spielt Geschichte. Das Wunder von Bern. Bebra-Verlag, Berlin-Brandenburg 2004.
„Wie konnte es passieren, dass der Sieg einer Fußballmannschaft im Laufe der Jahrzehnte so verklärt wurde, dass er aufrückte in den Rang eines Mythos, zu einem Ereignis von staatstragender Bedeutung, das „Millionen Deutschen“, wie es Franz Josef Strauß zu Sepp Herbergers 80. Geburtstag formulierte, „das Gefühl gegeben hat, im Kreis der Nationen wieder anerkannt zu sein“? Mit der Bonner Republik konnten sich die Deutschen am Anfang nicht so recht identifizieren. Sie wollten den Kaiser wieder haben, lehnten die Verfassung ab und misstrauten dem versprochenen wirtschaftlichen Aufschwung. Die Bundesrepublik kam ihnen wie ein Provisorium vor, eine Erfindung des Rheinländers Konrad Adenauer, der sich aus ihrer Sicht den westlichen Siegermächten unterworfen und damit die Wiedervereinigung Deutschlands aufgegeben hatte. Mit dem Sieg von Bern wussten die Arbeiter des Wiederaufbaus mehr anzufangen. Alle, die Kriegsheimkehrer, die Flüchtlinge und Vertriebenen, auch die Deutschen im Osten, deren Volksaufstand gerade ein Jahr zurück lag, fühlten sich durch die Helden von Bern aufgewertet. Die errungene Weltmeisterschaft gab ihnen das Wir-sind-wieder-wer-Gefühl, bot die Gelegenheit, sich erstmals seit Kriegsende an einem quasi gemeinsam erwirtschafteten Erfolg zu berauschen. Jubelfeiern gerieten zu patriotischen Kundgebungen, schon im Stadion sangen Zehntausende die Nationalhymne – selbstverständlich die erste Strophe („Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt“), weil ihnen der Text der dritten Strophe, der offiziell verordneten, gar nicht geläufig war. Sportlich gesehen war das gerechtfertigt. Aber Sportereignissen fehlt die historische Dimension. Schüler werden auch künftig das Datum der Schlachten von Issos und Austerlitz auswendig lernen müssen. Der Sieg über die Ungarn wird in den Geschichtsbüchern nicht vorkommen. Und dennoch bleibt der 4. Juli 1954 für die Deutschen, das Volk, nicht für die Bundesrepublik Deutschland, den Staat, ein historischer Tag. An diesem Tag hat Deutschland zum ersten Mal nach dem Krieg wieder triumphiert. Sepp Herberger und Fritz Walter waren die ersten Deutschen nach Goebbels und Hitler, denen das Volk wieder zujubelte.“
Hans-Werner Kilz, Süddeutsche Zeitung v. 3. Juli 2004
„An einem Tag Ende der 60er Jahre öffnete sich die Tür zum Vereinslokal der Fußballvereinigung Mombach 03. Das Lokal war voll, in den Gläsern Limonade und Bier. Ein Mann trat ein, abgeschabt die Hose und das Hemd, der Bartschatten dunkel. Er war das erste Mal hier, und Richard Rosenbaum erinnert sich, dass der fremde Mann zu Boden blickte, ein Versuch, sich zu verstecken. Die Gäste schauten hin, sahen Geheimratsecken, eine gedrungene Statur, bald ahnten es einige, ein paar wussten es, einer sagte es: „Das ist der Kohli.“ Richard Rosenbaum war knapp über 20, sein Vater hatte die Kneipe gepachtet. Rosenbaum war Fußballer bei Mombach 03, nach dem Training tranken sie und redeten, auch über den Kohlmeyer. Werner Kohlmeyer aus Kaiserslautern, linker Verteidiger in der Mannschaft von 1954, die das Wunder von Bern vollbrachte – an diesem Sonntag ist das 50 Jahre her. Es ist ein Wunder, das nicht wahr geworden wäre ohne ihn, der gegen Jugoslawien auf der Linie rettete und gegen Ungarn auch. Manchmal ist der Spieler hinter dem Torwart der wichtigste. Jetzt, an diesem Tag Ende der 60er Jahre, stand er vor ihnen und wollte ein Bier. Ein Mann, der aussah wie einer, den man Kohli nennt. Alle wussten, dass es Werner Kohlmeyer nicht gut gegangen war seit dem Spiel. Was heutzutage RTL-Exclusiv versendet, das reichte man damals noch mündlich weiter. Von Kaiserslautern nach Mombach, Stadtteil von Mainz, ist es kein weiter Weg für Geschichten: Kohli, der getrunken hat und auf der Straße lebt. Kohli, der Weltmeister als Penner. Rosenbaums Vater, Pächter und Wirt, sagte also zu Kohlmeyer: „Bei mir kriegen Sie nur gespritzten Apfelsaft.“ Da setzte sich Kohlmeyer auf einen Stuhl und trank. Rosenbaum jr. weiß das heute noch genau. Er weiß auch, dass seine Mutter nach einem frischen Hemd kramte und dass sein Vater den Rasierapparat rausholte. Abends, glatt im Gesicht, sah Kohlmeyer schon besser aus. Heute sitzt Rosenbaum im Keller seiner Mainzer Wohnung. Es ist warm, er trägt kurze Hosen und Schlappen. Er spricht einen Dialekt, der schwer verständlich ist für jemanden, der nicht aus dieser Ecke stammt. Er spricht, wie Kohlmeyer sprach. Daran hat es vielleicht auch gelegen. Einer wie Fritz Walter spielte noch mit 60 in Prominentenmannschaften mit. Seine Interviews klangen routiniert. Aber Kohlmeyer? Rosenbaum sagt: „Viel geredet hat der nie.“ Später, da kannten sie sich schon besser, hat er ihm aber erzählt, wie das ist, wenn man Weltmeister war und dann nur noch König der Provinz ist. Werner, trink e mol. „Mit jedem Glas“, hat Kohlmeyer gesagt, „wirst du noch mal Weltmeister.“ Rosenbaum hat nicht gewusst, wie das gemeint war, bitter oder stolz. Mittlerweile glaubt er, es war eher bitter gemeint. Ja, Kohlmeyer habe Depressionen gehabt. Aber Depressionen kannte man damals doch noch gar nicht in Mombach. Bei Rosenbaums hatten sie für Kohlmeyer eine Therapie, die kein Arzt verschreibt. Sie ist gut gemeint, aber sie lindert nur. Wenn Kohlmeyer mit ihnen die Sportschau sah und einschlief, sind sie auf Zehenspitzen raus und haben durch den Türspalt geschaut. Einmal hat der Vater geflüstert: „Pssst – schau e mol, bei uns schläft der Weltmeister!“ (…) Werner Kohlmeyer, geboren 1924, Hobbies: Sport und Skat. Lohnbuchhalter in der Kammgarnspinnerei. Pfälzischer Fünfkampfmeister. Ein Körper wie ein Multifunktionsinstrument. Dann Fußballweltmeister und Held. Danach noch ein paar Jahre in Kaiserslautern. Streit mit dem Trainer. Wechsel nach Homburg. Nach Bexbach. Später Linienrichter in Gustavsburg. Was er verdiente, verspielte er. Wermutskohli. Scheidungskohli. Hilfsarbeiter auf dem Bau. Fotos in den Zeitungen: Kohlmeyer im Unterhemd, Steine schleppend. Die Weltmeister trafen sich zum Geburtstag des Trainers Herberger. Kohlmeyer erschien als einziger nicht, obwohl ihm die anderen eine Einladung geschickt hatten. Eine Fußballmannschaft wird zusammengehalten von einem Geflecht aus Disziplin und Taktik, von Viererketten, neuerdings von Mittelfeldrauten, aber immer schon: von Teamgeist. Die Mannschaft von 54, mit Kohlmeyer links hinten, schien sich selbst ein verlässliches Netz zu sein. Kann es ein stabileres Gerüst geben als eines aus Männern, die ein Wunder geschafft haben? Eine schöne Idee. Werner Kohlmeyer ist durchgerutscht. (…) Ein Länderspiel stand an im März 1974, Deutschland gegen Schottland, in Frankfurt. Er würde sich das Spiel gern mit Bekannten anschauen, hatte Kohlmeyer dem DFB geschrieben, ob sie ihm bitte ein paar Ehrenkarten schenken könnten. In der Antwort des DFB an Kohlmeyer stand: „Wir bitten Sie höflich, den Gesamtbetrag von DM 341,- in den nächsten Tagen auf eines unserer o.a. Konten zu überweisen.“ Er war ein Held von Bern. Und diese Antwort war eine Vernichtung. Am 26. März ist Werner Kohlmeyer gestorben. Das Herz. Er wurde 49 Jahre alt. Am 27. März war dann das Spiel gegen Schottland.“
Holger Gertz, Süddeutsche Zeitung v. 3. Juli 2004
„Fritz Walter: ‚Je leichter der Schuh, desto enger der Kontakt zum Ball. Und umso deutlicher der Unterschied zwischen Ball und Ball. Der Chef hatte ein besonders feines Gespür dafür. Er hörte schon am Klang eines aufspringenden Balles, ob er gut war oder schlecht. Klang es dumpf und hohl, dann schüttelte er den Kopf: der hat keine Seele, der ist leblos. – Wie recht er hatte, spürten wir später. Der Ball spielte nicht mit, er sang nicht, er ließ sich nicht streicheln, er war nicht Kamerad und Freund des Spielers, sondern ein Fremder.’“
Aus: Ror Wolf: Das nächste Spiel ist immer das Schwerste. Haffmans, Zürich 1990.
„Das sang- und klanglose Vorrunden-Aus der lahmen Völler-Truppe hätte nur dann auch ein Gutes, wenn es endlich die Grundfeste der ehernen Trutzburg DFB erfasste. Denn über Jahrzehnte wähnten die Fußballoberen sich und ihre Nationalmannschaft auf einem deutschen Sonderweg, der quer zu den aufgeregten Zeitläuften Titel und Triumphe verhieß und dem Team noch 2002 einen unverdienten Schleichpfad ins WM-Finale wies. Das Sonderwegsdenken im deutschen Fußball hat über Jahrzehnte eine eigentümliche Kontinuität entwickelt, auch wenn der DFB heute zweifellos ein modern organisiertes Großunternehmen darstellt. Von Bern 1954 bis Yokohama 2002 und von Walter-Herberger bis Mayer-Vorfelder galt das unverbrüchliche Turniervertrauen in die teutonischen Tugenden, die uns selbst bei schlechteren Jahrgängen noch immer vorn mitspielen ließen. „Bei den hohen Idealen, die wir vertreten, da hört die Demokratie auf.“ Dieser klassische Ausspruch stammt nicht von einem Adepten des frühen Thomas Mann, sondern vom ersten Präsidenten des DFBs, Peco Bauwens, der nach dem sensationellen Endspieltriumph in Bern 1954 die Siegermächte wild beschimpfte. Der Sieg habe gezeigt, dass es Schlacken auf dem Sport und dem deutschen Volk nicht mehr geben könne. Ein Grund mehr, weshalb das 3 : 2 von Bern für die nachfolgenden Generationen immer verdächtig nach Heldenlegenden aus Landserheftchen roch. Bis in die 60er Jahre wurde Fußball als letzte Bastion eines deutschen Heroismus gegen verderblichen Krämergeist, welsche Raffinesse und betrügerische Schiedsrichter ideologisch überhöht. Stattdessen wurde lange Zeit die Mär vom „sauberen“ Spiel und ehrlichen Amateurismus gepflegt gegen den plutokratischen Rest der Welt. Deutsche „Legionäre“, die im Süden Europas ihr Geld verdienten, wurden noch bis in die späten siebziger Jahre schräg angesehen und ungern berücksichtigt.“
Norbert Seitz, Frankfurter Rundschau v. 3. Juli 2004
„Nur zwei Experten rechnen fest mit einem deutschen Sieg: Der Nürnberger Sportverleger Gerhard Bahr, den Herbert Zimmermann schon seit den Olympischen Winterspielen seit 1948 kennt. Und der Schweizer Pressechef Schneider aus Basel. Beide tippen auf ein 3:2. Sie werden nicht ernst genommen. Zimmermann ist nervös vor seinem grandiosen Auftritt. Nie wieder, weiß er, werden ihm so viele Zuhörer ihre Aufmerksamkeit schenken. Aus Deutschland ist eine Begeisterung wie noch nie vor einem Sportereignis gemeldet worden. Viele Fußballfans amüsieren sich an diesem Tag über die Programmhinweise in den Funkzeitschriften. In der Hör zu steht: „Der NWDR gibt Ihnen die Möglichkeit, die zweite Halbzeit um 17.50 Uhr mitzuerleben.“ Längst aber haben die Sondersendungen aus der Schweiz das Programm umgeworfen. Es ist 16.55 Uhr, als die deutschen Sendungen zum Finale nach Bern schalten. Dort empfängt Teamchef Robert Lembke die Millionen Hörer aus Deutschland mit dem Ton eines Buchhalters: „Hier sind alle Sender in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin. Angeschlossen Radio Saarbrücken. Wir übertragen aus dem Wankdorf-Stadion in Bern das Endspiel um die Fußball-Weltmeisterschaft zwischen Deutschland und Ungarn. Reporter ist Herbert Zimmermann.“ Es ist der trockene Auftakt zu einer Reportage, die in die deutsche Geschichte eingehen wird. (…) Unvorstellbar heute, dass die angeschlossenen deutschen Funkhäuser ohne jede Vorlaufzeit zu einem WM-Endspiel schalten. Aber Fußball besitzt, obwohl er neun Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ein Millionenpublikum hinter die Rundfunkgeräte versammelt, in den Sendern in Hamburg, Köln, Frankfurt und Stuttgart immer noch keine Lobby. (…) Es dauert nach dem Wiederbeginn nur wenige Augenblicke, und Zimmermann lässt sich erneut hinreißen zu tonalen Ausreißern im Grenzbereich. Verantwortlich dafür sind die neuen Angriffswellen der Ungarn, die nun unbedingt die Entscheidung erzwingen wollen: „Freistoß der Ungarn aus der eigenen Hälfte heraus. Ist längst ausgeführt. Kommt zu dem aufgerückten Bozsik. Bozsik zu Hidegkuti. Hidegkuti, der zurückhängender Stürmer spielt, spielt ab zu Kocsis. Kocsis auf engstem Raum, schön abgespielt. Jetzt Gefahr! Schuss! Auf der Torlinie gerettet! Nachschuss müsste kommen! Noch mal auf der Torlinie gerettet! Das erste Mal Posipal, das zweite Mal Kohlmeyer. Aber die Ungarn bleiben in Ballbesitz! Bozsik müsste schießen, gibt zu Czibor, Czibor schießt! Abgewehrt! Liebrich rettet! Noch einmal Nachschuss! Koscis am linken Flügel! Rettet! Rettet! Rettet! Und – jetzt ist die Gefahr beseitigt. Durch Liebrich.“ Es gibt unzählige Szenen, in denen Zimmermann ähnlich Angstschreie von sich gibt, und erneut entschuldigt er sich zwischendurch für die Emphase seiner Reportage: „Kinder, ist das ein Aufregung.“ (…) Zimmermann läutet die entscheidende Spielsituation mit tiefer und getragener Stimme ein: „Sechs Minuten noch im Wankdorf-Stadion in Bern. Keiner wankt. Der Regen prasselt unaufhörlich hernieder. Es ist schwer, aber die Zuschauer, sie harren noch aus – wie könnten sie auch! Eine Fußball-Weltmeisterschaft ist alle vier Jahre, und wann sieht man ein solches Endspiel! So ausgeglichen! So packend! Jetzt Deutschland am linken Flügel, durch Schäfer. Schäfers Zuspiel zu Morlock wird von den Ungarn abgewehrt. Und Bozsik, immer wieder Bozsik, der rechte Läufer der Ungarn, am Ball. Er hat den Ball, verloren diesmal, gegen Schäfer. Schäfer nach innen geflankt. Kopfball! Abgewehrt! Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen. Rahn schießt! Tor! Tor! Tor! Tor! (kurze Pause) Tor für Deutschland! Linksschuss von Rahn, Schäfer hat die Flanke nach innen geschlagen. Schäfer hat sich nach innen durchgesetzt. 3:2 für Deutschland! Halten Sie mich für verrückt! Halten Sie mich für übergeschnappt!“ Er japst nach Luft, er kann es selbst kaum glauben. Und dennoch ist Zimmermann in diesen Momenten mit seinen Schilderungen spektakulär parallel zu der WM-entscheidenden Szene: Das von ihm geschriene „Tor“ verlässt seine Lippen, noch bevor der Jubel der Zuschauer durch die Leitung nach Deutschland dringt. Dieser Moment vor dem 3:2 ist nicht nur perfekt von Rahn gespielt, auch Zimmermann hat ihn perfekt nachvollzogen.“
Aus: Erik Eggers: Die Stimme von Bern. Das Leben von Herbert Zimmermann, Reporterlegende bei der WM 1954. Wißner-Verlag, Augsburg 2004.
„Die Volksweisheit behauptet, dass die Zeit Wunden zu heilen vermag. Bisher hat sie sie nicht geheilt. Falls das Endspiel von 1954 eine Wunde ist, ist sie bis heute eine offene Wunde, und schon die blosse Erwähnung ist Salz in diese Wunde. Meinerseits war ich jahrelang, jahrzehntelang nicht geneigt, über den Fall zu reden. Mehr noch, nicht einmal schweigen wollte ich darüber. Wenn in irgendeiner Gesellschaft über dieses Thema gesprochen wurde, stand ich jedes Mal auf und verliess das Zimmer. Wenn mich meine Frau unschuldig (oder die Unschuld mimend) fragte, ob es in Bern oder Basel gewesen sei (so viel Anstand besass sie durchaus, nicht auszusprechen, was in Bern oder Basel gewesen sei), begann ich krächzend zu brüllen, dass in Bern oder Basel nichts gewesen sei, nie war in Bern oder Basel etwas gewesen, in Bern oder Basel waren höchstens immer Bern und Basel. Konkret gesagt Bern in Bern und Basel in Basel, letztere Bemerkung behielt ich aber für mich. Und wenn mein Sohn wissen wollte, ob Rahn oder Puskás der grössere Fussballer gewesen sei, schwieg ich dunkel, und dabei kam mir alles in den Sinn, was sich durch die griechisch-jüdisch- christliche Kultur von Ödipus bis zum Vatermord angehäuft hatte. Mit all meiner Kraft versuchte ich, jene neunzig Minuten aus der Weltgeschichte zu streichen. Zu beweisen, dass jene neunzig Minuten einfach nicht vorhanden sind, dass sie im unendlichen Verlauf der Zeiten fehlen (und um die so verstörte Zeit auszugleichen, gibt es alle vier Jahre ein Schaltjahr). Nur zeigte dann die bittere Erfahrung, dass die Welt auf diesem Wege nicht mit mir ziehen wollte, obwohl das ein guter Weg gewesen wäre, sie hätte die Welt verbessert, hätte die geschichtlichen Ungerechtigkeiten beseitigt, das Gleichgewicht der Welt beinahe wiederhergestellt. Später versuchte ich das zumindest, was unverständlich war, verständlich zu machen. Ich suchte nach Erklärungen oder legte sie mir zurecht. Dass die Mannschaft falsch aufgestellt war, dass Liebrich Puskás absichtlich getreten hatte, der aber selbst so noch ein vorschriftsmässiges Tor zu schiessen vermochte, was man anhand von Originalfilmaufnahmen beweisen könnte!, und hätte Lantos vor dem Tor Rahns den Kopf eingezogen, wäre nichts passiert, einfach nichts, beziehungsweise haben die Deutschen den Kommunisten Traktoren geschickt, daher war es verboten, zu siegen, im Übrigen waren die Leute gedopt, und so weiter, endlos weiter … Und vor zehn Jahren hatte ich dem damals schon vereinigten deutschen Volk in pragmatischen Schriften die Wahrheit aufgetischt, indem ich mehrfach erklärte, dass in Bern damals die Ungarn die Deutschen bekanntlich mit 3:2 besiegt hätten, wenn auch mit beachtlicher Mühe. (Mit den Redaktionen gab es interessante Briefwechsel, da sie bei meinen Angaben einen Tippfehler vermuteten …) Unlängst traf ich bei den Fernsehaufnahmen zur Erinnerung an das Spiel England – Ungarn, 6:3, in Wimbledon, Gyula Grosics, den Torwart der Goldenen Mannschaft, den Schwarzen Panther. In einer der Aufnahmepausen unterhielten wir uns, und dieser junge alte Mann erzählte mir, dass es für ihn keinen Tag gebe, verstehst du, Péter, sagte er, keinen einzigen Tag, an dem er nicht an jenes Spiel denke, an den Schuss von Rahn, denn hätte er da einen Schritt nach rechts gewagt, hätte er den Ball gekriegt, doch dann hätte Rahn ihn natürlich nach links geschossen; der Mann sprach und sprach, und ich dachte plötzlich, dass doch alles egal sei, das Ergebnis sei egal, denn diese Männer waren damals die besten der Welt, basta, und so ist halt der Fussball, es siegen nicht immer die Besseren, aber das zählt nicht, das ist wirklich egal, denn die Schönheit, das Wissen und die Werte, die jene Mannschaft verkörperte, ist seitdem in der Welt vorhanden, und jenes Drama, die Demütigung, das Heroische, das Theater und die gemeine Dramaturgie, die sich in jenem Match verkörperten, ist seitdem in der Welt vorhanden. Und daher gehört sie zu uns. Somit erkläre ich mich einverstanden, dass nicht die Ungarn, sondern die Deutschen 3:2 gesiegt hatten, und grosszügig möchte ich an dieser Stelle nicht nur den Deutschen, sondern gleich dem gesamten Kern-Europa (Achtung, nicht vergessen – wir sind gleichberechtigt!) ein Unentschieden anbieten, ein ruhmreiches Unentschieden, womit die gemeinsame Einbeziehung einer gemeinsamen reichen Vergangenheit begründet wäre … So hätte ich die gebrechlichen Schultern Europas (einmal mehr) von einer Last befreit. Bitte, bitte, gern geschehen.“
Péter Esterházy, ungarischer Schriftsteller, Neue Zürcher Zeitung v. 3. Juli 2004
„Gewiß, die Ungarn hatten den weltbesten Sturm, in dem für Herberger die Stürmer Hidegkuti und Boszik noch wichtiger waren als Puskas, der nicht als Spielmacher sah, sondern nur als einen Helden in der Spielhälfte des Gegners. Auf der linken Seite, dort, wo Boszik immer nach vorne ging und Lücken und Gassen im Abwehrnetz der Ungarn ließ, da waren die Magyaren verletzbar. Herberger: „Die 3 Tore der Engländer beim 6:3 in London wurden durch Angriffe von links eingeleitet; im 3:8 verlorengegangenen Spiel in Basel konnte sich unsere linke Angriffsseite mit Alfred Pfaff und Richard Hermann überraschend gut in Szene setzen und schoß auch 2 von den 3 erzielten Toren.“ Das Finale bestätigte Herberger: Auch die beiden Tore in der ersten Halbzeit kamen von links, schließlich nahm sogar das entscheidende Tor, das dritte, seinen Ausgang auf der linken Angriffsseite. So war Herberger, der Feldherr. Er sah sich gern in dieser Rolle, ohne daß er seine Spieler in seine generalstabsmäßigen Planungen eingeweiht hätte. Er war es, der die strategische Lage im Auge hatte, die taktischen Entscheidungen traf er in Absprache mit seinem Mannschaftsführer Fritz Walter. Der Feldwebel Herberger strich abends durch das Hotel – „mit dem Ohr an den Schlüssellöchern der Zimmer“ und um zu schnuppern, wer noch rauchte. Er hatte jene Spieler, die Raucher waren, sowieso zusammengelegt – ohne daß er das begründete. „Sicherlich haben manche geahnt, daß ich um ihre Leidenschaft wußte. Denn nach dem Essen und der darauf folgenden Bettruhe habe ich bei meinen Rundgängen durch die einzelnen Zimmer auch einige Male vor verschlossenen Türen gestanden.“ Herberger legte Wert darauf, ein Verbot nie direkt auszusprechen. Die Spieler ließen ihrerseits aber keinen Zweifel daran, daß sie verstanden, wie seine unausgesprochenen Vorlieben und Wünsche aufzufassen waren: durchaus als klare Verbote und Gebote. Herberger schaltete und waltete nach eigenem Gutdünken. Er sah keinen Anlaß, die Autoritätsstrukturen, unter denen er seit Kaisers Zeiten gelebt und gesiegt hatte, in Frage zu stellen, nur weil in Bonn jetzt wieder Demokratie eingeübt wurde. (…) In der Schweiz schlug er die entscheidende Schlacht. Er begann sie außerordentlich gut vorbereitet. Und das sagte er auch selbst: „Als wir nach der Schweiz fuhren, war keiner der Teilnehmer aus allen Nationen, die zudem meistens Professionals waren, in besserer Kondition als unsere Spieler und keine Mannschaft und kein Spieler auf die bevorstehenden Aufgaben besser eingestellt als die unsrigen.“ Das galt in jeder Hinsicht. Herberger kümmerte sich um jedes Detail der Organisation. Er rief Meteorologen an wegen des Wetterberichtes, er kümmerte sich um die Stollen der Spieler, er ließ sich die Speisekarten zeigen, er suchte die Kabinen für seine Mannschaft aus, wegen des Aberglaubens. Er selbst wohnte in Zimmer 13. Vor dem Endspiel in Bern sicherte er sich für den Fall, daß es regnen sollte, zum Warmlaufen vor dem Spiel auch eine kleine Trainingshalle, die unter der Tribüne gelegen war. (…) Die Journalisten, die mit in die Schweiz gefahren waren – am Ende um die 150 –, kannte Herberger fast alle. Er wusste, womit er bei jedem zu rechnen hatte. In ihren Kreisen machte er sein typisches Herberger-Gesicht, das eine Auge fast zu, das andere, kritisch blinzelnd, auf Weitwinkel eingestellt. Er sah alles und alle. Er war auf das Schlimmste und das Dümmste gefaßt und dagegen gerüstet. Sollte sich ein Neuer in den Kreis der Pressemenschen verirren, dann wußte sich Herberger schnell von den Vertrauten Informationen über ihn zu beschaffen. Herberger verachtete im Grunde die meisten Journalisten, nicht zuletzt wegen ihres mangelnden Sachverstandes und, wie er fand, kurzen Gedächtnisses. Im übrigen hätten sie es ja auch leicht, pflegte er zu sagen. Sie konnten Vorschläge machen und Mannschaften aufstellen, für die sie nicht die Verantwortung trugen. „Ihr Spiel fing an, wenn unseres schon zu Ende war.“ Seine manipulativen Fähigkeiten hatte Herberger nicht nur im Umgang mit den Spielern erprobt, er konnte auch Journalisten einwickeln, zu Vertrauten und Komplizen – zu „Pressekameraden“ – machen oder durch Informationen zum Schweigen bringen.“
Aus: Jürgen Leinemann: Sepp Herberger. Ein Leben, eine Legende. Rowohlt, Berlin 1997.
Interview mit Hans Schäfer, Zeit v. 1. Juli 2004
Zeit: Herr Schäfer, Sie haben seit vielen Jahren öffentlich kein Wort mehr verloren über das Wunder von Bern. Warum nicht?
HS: Weil der Erfolg von 1954 mit einem Wunder gar nichts zu tun hat. Das ist für mich kein Wunder. Es war einfach eine großartige Leistung einer großartigen Mannschaft, die dabei auch viel Glück gehabt hat. Ich distanziere mich übrigens auch von dem Begriff Helden. Ich weiß nicht, was unser Sieg mit Heldentum zu tun hat. Helden sind für mich Jungs, die an die Front gehen, kämpfen und sich eventuell auch noch erschießen lassen müssen, um das Vaterland zu retten. Aber es ist doch kein Heldentum, wenn ich ein Spiel gewinne, und sei es eine Weltmeisterschaft.
Zeit: Sie hatten also nie das Gefühl, in der Nationalmannschaft eine besondere Aufgabe für Ihr Vaterland zu erledigen?
HS: Doch, das hatte ich. Ich war Vertreter für Deutschland – selbstverständlich. Wir waren, wenn Sie so wollen, als Sportgesandte in der Welt. Dementsprechend mussten wir uns ja auch benehmen, auftreten. Vor allem nach einem verlorenen Krieg, nach dem die ganze Welt erst mal gegen die Deutschen war. Wir konnten nicht erwarten, dass sie uns mit offenen Armen aufnehmen.
Zeit: Ihre Mannschaftskameraden von damals erzählen gerne über das Wunder und verdienen damit Geld.
HS: Ich habe gesagt, ich verkaufe mich nicht. Ich habe es nicht nötig. Und wenn die anderen das machen, ist das für mich traurig. Soll ich in meinem Alter noch für drei Mark fuffzich durch die Welt tingeln? Das mache ich nicht. Das ist mir zu billig.
Zeit: Haben Sie damals daran gedacht, dass sich der Titel für Sie auszahlen könnte?
HS: Wir haben in den 50 Jahren nach Bern nie etwas durch den Fußball verdient. Warum fangt ihr plötzlich nach 50 Jahren an und macht so ein Theater? Wer kannte denn den DFB, wer kannte die Firma adidas, wer kannte die Firma Puma? Die sind alle expandiert, haben hinterher Umsätze gemacht. Der Anfang war unser Sieg 1954. Alles hat sich plötzlich interessiert für den deutschen Fußball. Ich frage die Verantwortlichen beim DFB: Was habt ihr mit uns gemacht? Uns habt ihr alle paar Jahre zum Essen eingeladen, eine Erbsensuppe ohne Brötchen – und Ende. Aber die wirtschaftlichen Verhältnisse damals waren ja auch anders, und da hatte der DFB wohl keine Möglichkeit, uns etwas anderes zu bieten.
Zeit: Und heute?
HS: Heute sage ich: Wenn das so ein Wunder war und wenn das so wichtig für Deutschland und für den DFB war, dann habt ihr doch jetzt ’ne Chance, ein bisschen was gutzumachen und für die Jungs was zu tun. Ich weiß, was die brauchen: Die brauchen alle Geld. Man könnte einen Fonds bilden bei der Sepp-Herberger-Stiftung, in den der DFB einzahlt, die Firmen adidas und Puma und alle, die von unserem Sieg profitiert haben. Das habe ich jetzt auch dem Präsidenten Mayer-Vorfelder geschrieben.
Zeit: Sie sind verbittert.
HS: Ja. Von meiner Seite aus ist die Verbitterung da.
Zeit: Nur wegen des Geldes? Oder sind Sie auch menschlich enttäuscht?
HS: Ja, sehr. Vor vier Jahren bin ich mit meiner Frau zum 80. Geburtstag von Fritz Walter gefahren. Bei den Feierlichkeiten hat sich dann kein Mensch um uns gekümmert, da hat man meine Frau, mich und noch ein paar andere, zum Beispiel Alfred Pfaff oder die Frau von Jupp Posipal, einfach links liegen lassen.
Zeit: Die Mannschaftskameraden von früher…
HS: …ob die 54er da waren, war denen total egal. Nur mit Fritz’ Bruder Ottmar und mit Horst Eckel haben sie sich dann zu einer Feier aufgemacht, zu der die anderen nicht mitkommen konnten. Das ist wohl unglaublich. Ich habe dem Fritz noch gratuliert und bin dann sofort nach Hause gefahren, war bei der offiziellen Feier am nächsten Tag nicht dabei. Da war der DFB natürlich sauer, hat sich dann aber offiziell entschuldigt. Aber von anderen, vom Horst Eckel, vom Ottmar oder vom Fritz – nicht ein Ton. Auf die drei bleibe ich sauer. Mit Eckel habe ich seither kein Wort mehr gesprochen.
Zeit: Erinnern Sie sich noch genau an bestimmte Situationen aus dem Endspiel?
HS: Ja, an mehrere. Gucken Sie mal das erste Tor, wo der Max Morlock gerade noch mit der Spitze drankommt und das Ding reinschießt. Oder das zweite Tor: Eckball Fritz Walter, der Grosics steigt hoch …
Zeit: Beim letzten Tor haben Sie …
HS: Na, Moment, wollen wir doch erst mal das zweite Tor hören! Das zweite ist doch viel wichtiger. Ich springe hoch, nehme meine Ellenbogen raus. Der Grosics kommt nicht an den Ball durch mich. Da muss der Schiedsrichter Foul pfeifen. Da hätte es weiter 2:1 gestanden. Oder das Viertelfinale gegen Jugoslawien. Da haben wir 2:0 gewonnen, mussten aber 5:0 verlieren. Die haben Pfosten, Latte, rechts und links, Torwart, auf der Torlinie gerettet. Ich dachte, o lieber Gott! Und dann kommt eine unserer Flanken von rechts. Horwath, der jugoslawische Mittelläufer, will den Ball seinem Torwart in die Arme köpfen. Ich springe hoch, springe ihm ins Kreuz. Also schießt er mit dem Kopf gegen den Ball und – Selbsttor.
Zeit: Haben Sie den Film „Das Wunder von Bern“ gesehen?
HS: Ja. Mir gefällt er nicht.
„Die Sonnenschlacht von Basel“ (Bild) ging 3:8 verloren. Am 4. Juli aber meldete zuerst Maxl Morlock an Fritz Walter „Friedrich, es regnet!“ und dann Herbert Zimmermann an alle: „60000 im Berner Stadion; es regnet heftig, aber wir Deutschen glauben, daß heute Fritz-Walter-Wetter ist.“ – Ein französischer Kommentator sollte später über den „verdammten Regen“ von Bern schreiben. (…) „Deutschlands Aussichten auf einen Erfolg sind recht winzig. Schon ein ehrenvolles Resultat, eine Tordifferenz von etwa zwei Treffern wäre aller Achtung wert“, hatte die Süddeutsche Zeitung am Vortrag die untere Leistungsgrenze gezogen. Der ehrenwerte Abstand war nach nicht einmal zehn Minuten hergestellt, durch „zwei wie Hammerschläge kurz hintereinander fallende Tor“ (Coupe Jules Rimet) – 6. Minute: 0:1 Puskas; 8. Minute: 0:2 Czibor. „Eine unerhörte Nervenbelastung für unsere Mannschaft“ machte Herbert Zimmermann aus. Und für den DFB erwiesen sich jetzt die deutschen Tugenden: „Aufgerüttelt durch den 0:2-Rückstand, durchdrungen von dem Willen, nicht unterzugehen, wächst die deutsche Widerstandskraft.“ (Deutschland Weltmeister) Entschieden ziviler gab Spielführer Walter zu Protokoll: „Ja, jetzt mag kommen, was will, den Mut dürfen wir nicht verlieren.“ (3:2) Was kam, war die Doppelung des deutschen Weltmeisterschaftsweges in konzentrierter Form. 11. Minute: 1:2 Max Morlock. Während Zimmermann aufatmete („Gott sei Dank, es steht nicht mehr 2:0″), dachte der Kapitän bereits weiter: „Die Ungarn wechseln nach unserem Tor undefinierbare Blicke. Ihr 2:0 hat sie vielleicht zu früh in dem Gefühl bestärkt, daß sie mit dieser deutschen Mannschaft im Grunde nicht mehr Schwierigkeiten haben als mit der Elf, die ihnen in Basel gegenüberstand.“ 18. Minute: „Deutschlands ‚Geheimwaffe’: Fritz-Walter-Ecken“ (Kicker) kommt zur Anwendung und der Ball zu Rahn – Dropkick, 2:2. „Kinder, ist das eine Aufregung“, entfuhr es Zimmermann. Für Bild stand nach dem 2:2 fest: „Jetzt sind die Deutschen wieder da!“ Später sollte in Deutschland zu diesem Treffer Eigentümliches geschrieben werden: „Das ist mehr als ein gewöhnliches Ausgleichstor. Das ist nicht die Wiederherstellung des Gleichgewichts an Toren; das ist die Wiederherstellung des moralischen Gleichgewichts.“ (Coupe Jules Rimet) Danach lautete die Parole „Dranbleiben bis zum letzten!“, wurde das Herbergersche Spielsystem umgesetzt – „Das hat er immer erreichen wollen: Alle sollen verteidigen, wenn es etwas zu verteidigen gibt! Und alle sollen nach vorn drängen, wenn es etwas zu stürmen gibt.“ (3:2) –, strapazierte man eigens herbeigerufene Schutzengel, rief der Trainer dazu auf, auch in der zweiten Halbzeit „keinen Millimeter Boden“ preiszugeben, mobilisierte Herbert Zimmermann die radiogebannte Heimatfront: „Halten Sie nur die Daumen zu Hause – halten Sie sie, und wenn Sie sie vor Schmerz zerdrücken, es ist gleichgültig – drücken Sie!“ „Sechs Minuten noch im Wankdorf-Stadion in Bern. Keiner wankt.“ So begann im Radio die 84. Minute. Rahn nahm einen Abpraller auf, umkurvte erst zwei Ungarn, die einen Direktschuß erwartet hatten, hielt aufs Tor zu, und dann schoß er mit links flach ins äußerste linke Eck. „Na, und als ich Grosics fallen und nicht mehr ans Leder herankommen sah“, so der Schütze zum Kicker, „wusste ich alles.“ Das Tor. Drei zu zwei. „Halten Sie mich für verrückt – halten Sie mich für übergeschnappt“, überstammelte Herbert Zimmermann drohende Sprachlosigkeit.“
Aus: Arthur Heinrich: Tooor! Toor! Tor! 40 Jahre 3:2. Rotbuch, Hamburg 1994.
Interview mit Arthur Heinrich, Fußball-Historiker und Publizist, tageszeitung v. 3. Juli 2004
taz: Der Trainer Sepp Herberger als Führer, die Mannschaft als „verschworene Gemeinschaft“ – ein Begriff, den die Nazis verwendeten –, knüpften diese Bilder nicht an die autoritäre Kollektivideen vor 1945 an?
ArH: Jein. Natürlich gab es solche Kontinuitätslinien. Die Sprache in den Medien war stark von militärischen Metaphern geprägt. Aber der 4. Juli 1954 war vor allem Ausdruck eines Wir-Gefühls. Deshalb sagten die Bundesdeutschen damals nicht „Unsere Mannschaft ist Weltmeister“ oder „Deutschland ist Weltmeister“ sondern: „Wir sind Weltmeister.“ Das war so wichtig, weil im entstehenden Wirtschaftswunder die Leute ungeheuer viel gearbeitet haben. Es gab eine Art autistischen Rückzug ins Private, den dieses Ereignis für einen Moment überwand.
taz: Der Sieg von Bern war also kein Symbol eines rückwärts gewandten Nationalismus …
ArH: Eindeutig nein.
taz: … sondern das erste Symbol der Bundesrepublik?
ArH: … vielleicht nicht das erste – aber das 3:2 war ein Zeichen, dass sich die Bundesrepublik in Richtung Zivilgesellschaft entwickelte. Dieses „Wir“ meinte kein untergegangenes Großdeutschland, sondern die Bundesrepublik.
taz: Fußball war also ein Ersatzfeld für kollektive Identifikation – ein Terrain, auf dem es sonst nicht viel gab. Viele deutsche Traditionen waren ja durch die NS-Zeit infiziert.
ArH: Ja. Das wurde auch damals so gesehen. Der damalige christdemokratische Bundesinnenminister Gerhard Schröder hat beim Empfang der Mannschaft gesagt, dass die Republik nicht so viele Anlässe hat, um sich zu freuen. Der 4. Juli 1954 ist ein neuer Feiertag, der nichts mit Vergangenheit zu tun hat. Außerdem: Es war eine ausschließlich westdeutsche Mannschaft. Insofern war dies auch ein Zeichen, dass man – gegen die Wiedervereinigungsrhetorik – sich in der Bundesrepublik als westlichem Teilstaat einrichten und auch international eine Rolle spielen konnte. Und zwar auf einem durch und durch zivilen Feld.
taz: Aus der Distanz kann man also sagen, dass Bern ein Zeichen für die entschieden gegenwartsbezogene, „geschichtslose“ Bundesrepublik war?
ArH: Ja. Der konservative Historiker Hans Rothfels schrieb, dass die „Männer des 20. Juli 1944 die ,Ehre des Landes‘ wiederhergestellt haben und nicht Fußballsiege“. Das war der Versuch, Geschichte gegen Sport als identitätsstiftende Kraft zu setzen. Die Vorstellung eines Gemeinwesens, das sich weitgehend ohne Geschichte verstand und stattdessen Fußball vorzog, war für Konservative eine ziemliche Schreckensvorstellung.
„Mythos: Die deutsche Mannschaft wurde 1954 Weltmeister mit Kampf und Kraftfußball. Wahrheit: Herbergers Elf war spielerisch eine der besten, die Deutschland je hatte. Das 6:1 im Halbfinale gegen Österreich ist für viele Augenzeugen immer noch das spielerisch beste, das eine deutsche Nationalmannschaft je gezeigt hat. Im Finale gelang es dem Team um Fritz Walter, mit den plötzlich nervösen Supertechnikern aus Ungarn auch spielerisch mitzuhalten. Nur wird das überlagert vom Aspekt des Kampfes, des Aufbäumens, der Willenskraft, der die Zuschauer aus den verdichteten Wochenschau-Ausschnitten, den Bildern der durchnäßten, abgekämpften Helden und der pathetischen Radioreportage von Herbert Zimmermann einnimmt. Dabei war es eine Weltmeisterschaft, die für frischen Offensivfußball weltweit gelobt wurde, und da machte auch der Weltmeister keine Ausnahme. Er war weit davon weg, ein reines Kraftkollektiv zu sein. Die Rheinische Post schrieb: „Die WM 1954 brachte uns die Abkehr von einer Fehlentwicklung des Fußballs, mit einer Überbetonung von Wucht, Schnelligkeit und Zerstörung.““
Aus: Christian Eichler: Lexikon der Fußballmythen. Eichborn, Frankfurt am Main 2000.
Interview mit Jenö Buzansky und Gyula Grosics, Süddeutsche Zeitung v. 3. Juli 2004
SZ: Puskas’ Ausfall war ein schwerer Nachteil für Ihr Team.
JB: Natürlich. Dass wir ohne ihn die zwei Verlängerungen bestreiten mussten, hat die Ermüdungserscheinungen verstärkt, vor allem die im Kopf. Man hat das nach dem 2:0 gemerkt, da war der Kopf nicht mehr imstande, den Beinen die nötigen Befehle zu geben.
SZ: Man kann sich leicht vorstellen, wie ermüdend das war…
JB:…das war ja noch nicht alles. Weil das Halbfinale in Lausanne so lange gedauert hatte, haben wir den Zug nach Solothurn verpasst, wo unser Quartier war. Umständlich wurden erst private Pkw organisiert, und schließlich sind wir erst um vier, fünf Uhr todmüde ins Bett gesunken.
SZ: Das war in der Nacht von Donnerstag auf Freitag, zwei Tage vorm Finale.
JB: Das Finale war am Sonntag. In der Nacht davor passierte noch etwas: In Solothurn war Volksfest. Direkt vor unserem Hotel! Es haben Blaskapellen gespielt, Chöre sangen, und angeblich hat eine deutsche Brauerei Freibier spendiert. Unglücklicherweise war es noch sehr warm, so dass man die Fenster öffnen musste – bis in die Morgenstunden haben wir kein Auge zugemacht.
GG: Und dann der letzte Höhepunkt: Am Sonntag war auch noch Fritz-Walter-Wetter – Regen, Regen, Regen.
SZ: War Ihnen klar, dass der Regen zu Ihrem Nachteil wirken könnte?
JB: Ja, obwohl solche Bedingungen normalerweise für Techniker besser sind. Wir waren Techniker, die Deutschen waren Kämpfer.
SZ: Wussten Sie, dass die Deutschen einen weiteren gravierenden Vorteil hatten? Der für die Ausrüstung zuständige Adi Dassler hatte Schraubstollen entwickelt, die man je nach Wetter und Tiefe des Bodens auswechseln konnte.
JB: Nein, die wurden ja bei der WM erstmals verwendet.
SZ: Ihre Stimmung war vermutlich nicht die beste. Immerhin konnten Sie Puskas wieder einsetzen. Wie leistungsfähig war er nach seiner Verletzung?
JB: Er schoss zwei Tore – eines wurde nicht gegeben. Er war gesund.
SZ: Schon nach sechs Minuten schoss er das 1:0. Zwei Minuten später fiel das 2:0. Im Fußball wünscht man sich doch ein frühes Führungstor, Ihre Mannschaft schien davon eher gelähmt zu sein.
JB: Viel wichtiger war, dass die beiden Gegentore sehr, sehr unglücklich waren. Beim ersten rutschte Zakarias in den Ball hinein und hat ihn dabei zum Torschützen Morlock gelenkt. Und beim zweiten wurde Grosics behindert. Diese schnelle Antwort der Deutschen hat uns gezeigt, dass es diesmal nicht so einfach laufen würde. Zur Halbzeit in der Kabine habe ich in die Gesichter meiner Kameraden geschaut: Ich sah Müdigkeit und Leere. Da ist mir zum ersten Mal der furchtbare Gedanke gekommen: Heute ist der Tag, an dem wir verlieren können.
SZ: Was geschah in Ihrer Heimat nach dem Abpfiff?
GG: Mehrere hunderttausend Ungarn sind auf die Straße gegangen und haben protestiert. Ursprünglich aus Trauer über die Niederlage, aber dann ging es über in eine politische Demonstration gegen die kommunistische Diktatur. Erst da bekamen wir richtig mit, was wir unseren Landsleute bedeuteten.
Dieses Spiel hat ja in beiden Ländern eine enorme, aber vollkommen gegensätzliche politische Entwicklung ausgelöst. In Deutschland im positiven Sinn: Wir sind wieder wer, Wirtschaftswunder und so weiter. In Ungarn mündete das direkt in den Aufstand von 1956.
SZ: War das 2:3 Ihrer Meinung wirklich das Signal dafür?
JB: Ja, die Massenversammlung nach dem Spiel war das erste Mal, dass man in einer kommunistischen Diktatur auf die Straße gegangen ist und den Aufstand probte.
SZ: Nach Ihrer Rückkehr sind Sie vom damaligen Premierminister Rakosi, einem Vertrauten von Stalin, empfangen worden…
GG:…wir wurden erst gar nicht nach Budapest gebracht, sondern nach Tata, 60 Kilometer entfernt von der Hauptstadt, in unser Trainingslager.
SZ: Was hat Rakosi Ihnen gesagt?
Grosics: Er hat eine kleine Ansprache gehalten, etwa so: „Das war eine Niederlage, so etwas kann immer passieren. Bei der nächsten Weltmeisterschaft machen wir es besser. Bis dahin braucht niemand Angst zu haben.“ Von diesem Moment fing die ganze Mannschaft an, Angst zu haben. Das war eine nackte Drohung.
SZ: Wurden Sie verhört?
Grosics: Ich hatte ein Problem mit dem ungarischen Geheimdienst. Man hat mich der Spionage beschuldigt. Ich wurde 13 Monate lang beobachtet und musste mich immer bei den Behörden melden. Natürlich war die Angst da. 1950 war ein Auswahlspieler hingerichtet worden, nur weil er angeblich abhauen wollte.
„Ich stehe im Augenblick halblinks. Ottmar ist auf Linksaußen gewechselt, Hans Schäfer nach seiner Flanke in die Mitte geeilt, Max Morlock beobachtet in halbrechter Position, was passiert: Der Boß hat so gewaltig geschossen, daß er durch seinen eigenen Schwung zu Fall kommt, aber noch im Fallen sieht er, daß seine flache Bombe für Torhüter Grosits unerreichbar ist. Der Ball flitzt knapp am Pfosten vorbei in den Kasten und auf der rechten Seite schon wieder heraus, so unheimlich schnell ist seine Fahrt. Der Schiedsrichter pfeift. Grosits und ein paar Ungarn liegen am Boden. In Sekundenbruchteilen begreifen wir, was geschehen ist. Helmut Rahn hat unser Führungstor geschossen! 3:2! 3:2 für Deutschland! 3:2 in der 84. Spielminute! Wir führen Freudentänze auf, schreien wir verrückt, rennen auf den Boß zu und erschlagen ihn beinahe vor Begeisterung. Alle laufen wir zusammen bis auf Toni, der angewiesen ist, sein Tor unter keinen Umständen zu Gratulationscouren zu verlassen. Wenn alles aus dem Häuschen ist – er muß drin bleiben. Unbeschreiblich ist der Jubel im Viereck des Berner Wankdorf-Stadions. Über uns schlagen nie erlebte Beifallswogen zusammen. Die Sensation der Fußball-Weltmeisterschaft ist da. Langsam gehe ich rückwärts in Richtung Mittellinie. Ein kurzer Blick auf die große Stadionuhr. ‚Männer, nur sechs Minuten noch’, sage ich. ‚Jetzt darf nichts mehr passieren! Jeder im Sturm nochmals mit verteidigen! Die paar Minuten noch! Bis zum Umfallen!’ ‚Bis zum Umfallen, Fritz!’“
Aus: Fritz Walter: Spiele, die ich nie vergesse. Copress-Verlag, München 1955.
„Warum gerade jetzt diese Begeisterung, ja Hysterie um ein vor einem halben Jahrhundert gewonnenes Spiel? Was repräsentieren die elf zum Teil leicht untersetzten Herren und ihr Trainer, auf das sich unsere Erinnerung so gierig und unersättlich stürzt? Natürlich springt allein bei der runden Zahl 50 die Feierautomatik der Kulturindustrie an. Zudem werden die Zeitzeugen knapp; von denen, die auf dem Platz standen, leben nur noch drei. Aber es ist mehr als geschäftstüchtige Geburtstagsroutine; am 40. Jahrestag 1994 blickte kaum jemand sehnsüchtig zurück. Damals glaubte das Land noch an seines Kaisers Wort zur Wiedervereinigung: dass man nun auf Jahre hinaus unschlagbar sei – auffem Platz und im richtigen Leben. Heute muss sich Deutschland nicht nur im Fußball, sondern auch in Sachen Ökonomie, Bildung, Sozialstaat ans Verlieren, Absteigen, an eine neue Mittelmäßigkeit und Unsicherheit gewöhnen. Da erscheint der überraschende Erfolg über Ungarn als Sternstunde eines Goldenen Zeitalters, an dem man sich in der Krise orientiert. An das Wunder von Bern zu glauben heißt, dass man das Unmögliche schaffen kann. Der Bundeskanzler, so hört man, hat beim Anblick von Wortmanns Film geweint. Nach allen Regeln der kinematografischen und publizistischen Kunst wird ein nationaler Mythos mit aller Macht weiter ausgebaut, vielleicht der einzige, den dieses Land hat. Alle suchen Halt bei einer Zeit, in der einfache Rezepte noch geholfen haben. (…) Dass Herbergers Erfolg in der Tradition des deutschen Militarismus wurzelt, kommt im Mythos der pazifistischen Republik nur am Rande vor. Erst der gnadenlose Drill im Trainingslager machte die Feierabendkicker konkurrenzfähig; der Chef befahl, die Fußballer, von denen viele Soldaten oder Flakhelfer gewesen waren, gehorchten und rannten, bis sie kotzen mussten. „Wir kannten gar keinen anderen Umgangston“, erinnert sich Hans Schäfer, der Linksaußen der Mannschaft. Dieser Ton schwingt auch in der inzwischen kultisch verehrten Radioreportage von Herbert Zimmermann noch mit. Kein Wunder, der Ritterkreuzträger war seit 1937 bei der Wehrmacht. 1944 meldete der Kommandeur eines Panzerregiments sich freiwillig an die Ostfront und wurde einer der „Unbesiegten“ aus dem Kurlandkessel, wie Erik Eggers in seiner Biografie über Die Stimme von Bern detailliert beschreibt. Zimmermann, dessen großes Vorbild Rolf Wernicke, der Sprecher der Riefenstahl-Filme war, stehe „fest auf dem Boden der nationalsozialistischen Weltanschauung“, befanden seine Vorgesetzten. Der richtige Mann für das Audio-Schlachtengemälde von der Berner Walstatt, für das sich lange niemand interessierte, dessen Pathos im daniederliegenden Deutschland des Jahres 2004 aber auf offene Ohren stößt. Und was wird nicht noch alles an den Rand gedrängt, damit das Wunder ungestört unsere trübe Gegenwart erhellt?! Werner Kohlmeyers bitteres Ende in Suff und Elend. Der frühe Tod des Ersatzspielers Richard Hermann, der sich wie einige andere Spieler während der WM an dubiosen, in jedem Fall schmutzigen Spritzen mit Gelbsucht infizierte und später an Leberzirrhose starb. Helmut Rahns alkoholbefeuerte Eskapaden, nach denen er zu zwei Länderspielen sogar aus dem Knast anreisen musste. Die Ausschweifungen von Werner Liebrich, der nach einer Orgie jahrelang Alimente für einen Sohn zahlte, der dann doch nicht seiner war. Und sogar Fritz Walter, der brave Fritz, nahm es mit dem Wahlspruch „Elf Freunde sollt ihr sein“ nicht immer so genau. Er, der Einzige aus der Wunder-Elf, der es schon früh in die Bunte-Liga der Prominenten gebracht hat, ließ Mitspieler von einst für glamourösere Gesprächspartner von heute einfach stehen. Auf einmal erscheinen die vermeintlichen Tugendrecken seltsam modern, nicht so sehr Spiegelbilder Adenauers, sondern Vorläufer von Mario Basler und Stefan Effenberg. Vielleicht ist es diese überraschende Zeitgenossenschaft, die uns zusätzlich ans Wunder fesselt. Helmut Rahn war eben nicht eine tumbe, besonders „deutsche“ Dampfwalze, sondern ein unberechenbarer Individualist, weltweit einer der besten Stürmer seiner Zeit, der Wayne Rooney der Fünfziger. Das Parteimitglied Herberger war zugleich der erste moderne Fußballtrainer, der mit wissenschaftlicher Akribie jedes Detail des Spiels analysierte. Lange vor den Taktikmappen, mit denen die Trainer heute die Einwechselspieler noch vor dem Gang aufs Spielfeld traktieren, war er ein Stratege und Zettel-Sepp. Der Propagandist alter Werte war zudem reformfreudig: Er setzte auf die gerade von Adi Dassler entwickelten Schraubstollenschuhe, die auf dem tiefen Endspielboden einen entscheidenden Standortvorteil der Deutschen ausmachten. „Weltmeister dank innovativer Technik“ – von dieser Schlagzeile träumen nach dem verpatzten Sommer 2004 nicht nur die Fußballfans, sondern auch Regierung und Opposition. Anders als es in der gängigen Überlieferung scheint, stand der Fußball made in Germany 1954 übrigens nicht so sehr für Disziplin, Kampfkraft, Ausdauer und andere der vermeintlich deutschen Tugenden. Er galt vielmehr als Inbegriff der Modernität. Selbst beim Klassenfeind in der DDR wurde das neidlos anerkannt, wie der Historiker Franz-Josef Brüggemeier in seinem Buch Zurück auf dem Platz gerade gezeigt hat. Der deutsche Angriff spiele einen „Fußball modernster Prägung“, schrieb das Sportecho am Tag nach dem Endspiel. Kurze, schnelle Pässe, „schön und scharf, modern und erfolgreich, hart und sprühend vor spielerischem Witz“, wie es in einem anderen Blatt hieß. So etwas hat über Deutschland schon lange keiner mehr gesagt. Das ist der Wunsch, der sich an jenen 4. Juli vor 50 Jahren hängt: dass aus dem Blick zurück einer nach vorn werden möge.“
Christof Siemes, Zeit v. 1. Juli 2004
„Mitten im Kalten Krieg ist Europa von einem Eisernen Vorhang umgeben und politisch und ideologisch tief gespalten. Das prädestiniert die Schweiz als Austragungsland. Das Turnier wird zu einem Wendepunkt der Fussballgeschichte. Die Fifa feiert in Spiez ihren 50. Geburtstag, die Uefa wird in Basel als Kontinentalverband gegründet, erstmals ist das Fernsehen an einer Weltmeisterschaft dabei: mit nur drei Übertragungswagen und auch mit drei miteinander nicht kompatiblen Fernsehsystemen. Und nach fast 30 Jahren kündigt sich die Abkehr vom bisher gängigsten Spielsystem, WM genannt, an und wird Fussball wieder als Angriffs- und Offensivspiel interpretiert. Experten schreiben begeistert von einer Renaiss