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Antiquar des Fußballs

Oliver Fritsch | Samstag, 3. Juli 2004 Kommentare deaktiviert für Antiquar des Fußballs

höchst lesenswert! Holger Gertz (SZ) porträtiert Otto Rehhagel, den „Antiquar des Fußballs“ – Trainaos Dallas, „eine bessere Führungspersönlichkeit kann sich kein Trainer wünschen“ (FAZ) – Portugals Star ist Trainer Felipe Scolari (FAZ) u.v.m

Antiquar des Fußballs

Höchst lesenswert! Holger Gertz (SZ/Seite 3 3.7.) porträtiert den Starrkopf Otto Rehhagel: „Das Spiel dauert neunzig Minuten. Manchmal dauert es auch 105, Ecke für Griechenland, der in der Tat auffällig runde Ball fliegt scharf vors Tor, nicht schlecht geschossen, der Abwehrmann Traianos Dellas steht bereit und drückt ihn über die Linie. Natürlich ist der, der das Tor macht, ein Abwehrmann mit der Berufsbezeichnung Ausputzer. Eine Position, die es im modernen, in Ketten und Diamanten organisierten Fußballspiel nicht mehr gibt. Natürlich ist es ein silver goal, das erste der Geschichte und in einem Augenblick erzielt, als die Tschechen keine Zeit mehr haben, selbst eins zu schießen. Und natürlich ist es ein Augenblick, der eine Botschaft birgt, an alle daheim, die schlimmere Befürchtungen gehabt haben: Es kann Entwarnung gegeben werden. Der deutsche Fußball ist gar nicht tot, er trägt jetzt nur ein blau-weißes Trikot. Oder einen blau-weißen Trainingsanzug, wie Otto Rehhagel. „Mit Leidenschaft und Einsatzfreude haben meine Spieler den Sieg an sich gerissen“, sagte er nachher, ein Satz, der nach Sepp Herberger klingt, wie aus fremder Zeit in den Saal gerufen. Otto Rehhagel, den mit modernem Fußball eigentlich nur die Zahnlücke verbindet, über die auch der brasilianische Stürmer Ronaldo verfügt – er steht mit der griechischen Mannschaft im Endspiel. So hingeschrieben sieht das irgendwie verstörend aus. Um einigermaßen zu verstehen, was das alles bedeutet, muss man sich noch mal klarmachen, welche Art Fußball bei dieser Europameisterschaft gespielt worden ist: Es war neuer Fußball. Mittelfeldtrapeze entfächern sich im richtigen Moment, Trainer wie der Holländer Advocaat oder der Spanier Saez werden für eine ergebnissichernde Auswechslung oder eine zu vorsichtig gespielte Halbzeit bitter bestraft, alles wird vorgetragen mit rasantem Tempo und dem Ziel, das Spiel nicht zu verschleppen, sondern es seiner Erfüllung entgegenzutreiben: dem Tor. Die Teilnehmer des Endspiels hätten keine geeigneteren sein können als die Portugiesen, die noch nie etwas gewonnen haben, und die Tschechen – nach Meinung aller, die sich auskennen, das beste Team des Turniers. Spielplatz am Sonntag: das Estadio da Luz in Lissabon, das Stadion des Lichts, das – wenn man es nuschlig ausspricht – leicht zum Stadium des Lichts wird: genau dort schien der Fußball angekommen zu sein. Eine Meisterschaft wie ein Champagnerbad – aber dann kommt einer und wirft eine Brausetablette in die Wanne. Eine schwer eisenhaltige. Otto Rehhagel hat schon immer einen anderen Fußball spielen lassen, deutschen Fußball, erst mal hinten dicht machen und dann vorne sehen, was passiert. Zu einer Zeit, als das noch nicht so negativ auffiel, gewann er mit Werder Bremen Pokal, Meisterschaft und Europapokal. Rehhagel wurde später Meister mit dem Aufsteiger Kaiserslautern und wies, in aller Bescheidenheit, darauf hin, das sei eine einmalige Leistung. Otto Rehhagel setzt bisweilen ein großes Ausrufezeichen hinter seine Tat, eine eher unangenehme Eigenschaft. Nach dem Spiel in Porto also sagte Otto Rehhagel, er habe seinen Männern in der Kabine erzählt: „Das Märchen geht weiter.“ Rehhagel spricht von Männern, wenn er Fußballspieler meint und von Märchen, wenn die Taktik aufgeht. Andere Trainer wie Arsène Wenger oder José Mourinho, auch Ottmar Hitzfeld, wählen Vokabeln, die weniger verschwurbelt klingen und den Fußball nicht als Wunderwelt beschreiben, sondern als Business. Wann hat Hitzfeld je von Männern gesprochen? Er sagt Profis, früher auch Proffis, aber das hat er sich abtrainiert. Otto Rehhagel trainiert sich nichts ab und vermutlich wohl auch so schnell nichts an. (…) Es gibt diese alten Geschichten: wie er in München, wo es viele Zeitungen gibt und viele Reporter, von denen die wenigsten an Märchen und Märchenkönige glauben, wie er also in München einem Journalisten die Frage stellt: „Sie wollen Kinder in die Welt setzen?“ Und die Antwort gleich selber gibt: „Wie furchtbar“. Oder wie er in Kaiserslautern zu einem Radiomann sagt: „Knie nieder, dann spreche ich in dein Mikrophon.“ Das war zwar nur ein Witz, aber welche Witze man macht – ein bisschen sagen die auch immer über einen selbst. Natürlich haben sich die Journalisten gerächt an ihm. Als er in einer Pressekonferenz einmal sagte, er werde fortan ausschließlich Fachfragen beantworten, meldete sich einer und stellte seine Fachfrage: „Ich muss morgen das Kinderzimmer meiner Tochter neu streichen. Welche Dispersions-Farbe würden Sie mir empfehlen?“ Otto Rehhagel hat Anstreicher gelernt. So ging das hin und her, bis er ausgewandert ist.“

Provinzfürst

Jan Christian Müller (FR/Seite 3 3.7.) gratuliert: “Nie zuvor hat ein Nationaltrainer seine Mission derart übererfüllt wie Rehhagel, der nach seiner Trennung vom 1. FC Kaiserslautern im Herbst 2000 als „letzter Mohikaner“ belächelt wurde, sich vertrieben fühlte und in der Heimat nicht mehr als vermittelbar galt. Der sich im September 2001 bei den Griechen mit einem 1:5 in Finnland und bald darauf mit zwei Niederlagen in der EM-Qualifikation einführte, die halbe Mannschaft und die Mehrzahl der Funktionäre und Einflüsterer vor die Tür setzte und dann lesen musste: „Auf Wiedersehen, du Supertrainer“. Er ist geblieben. In den griechischen Restaurants und Wohnstuben rennen die Menschen jetzt zu den Bildschirmen und küssen sein Konterfei. Es würde schwierig, aus dem Vertrag mit dem griechischen Verband zu kommen, um Deutschlands darbenden Fußball zu retten. Wenn nicht das Machtzentrum des deutschen Fußballs, Franz Beckenbauer und Bild, ohnehin noch den Finger senkt. Denn Rehhagel verlangt Macht. Viel Macht. er erst als Bundestrainer wäre der alte Fahrensmann, „von Herzen Deutscher“ und glühender Verehrer des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer, am Ziel. Denn spätestens seit der schmerzhaften Demission beim FC Bayern im Frühjahr 1996 galt der selbst ernannte „demokratische Diktator“ als ungeeignet für die ganz große Welt des Fußballs. In Bremen und der Pfalz, wo die Presse ihm entweder brav sekundierte oder brüsk von ihm geschnitten wurde, heftete man ihm das Image des Provinzfürsten an. Rehhagel, begnadeter Taktiker, hervorragender Menschenkenner, ein Mann, der gerne redet, jedoch keine Fremdsprache beherrscht, wollte zeigen, dass er ein Kosmopolit sein kann. Er sagt jetzt ständig „Step by Step“, „Zirkulation“, „Teamwork“ und rühmt Diagonalpässe als „Zentra-Shoot-Bälle“. Aber er mag dunkel ahnen, dass er doch wieder nur ein Provinzfürst ist.“

Kasernenhofton

Matti Lieske (taz 3.7.) kontert: “Wie in jedem handfesten Märchen waren in den Tagen vor dem Halbfinale auch bei den Griechen schon die ersten kleineren Kalamitäten aufgetaucht. Streit um die Prämien soll es gegeben haben, was kein Wunder ist bei einer Mannschaft, für die das Überstehen der Vorrunde ursprünglich ein utopisches Ziel war. Spieler sollen sich über den gelegentlichen Kasernenhofton Rehhagels beschwert haben und über seine Angewohnheit, Erfolge allein sich selbst zuzuschreiben, auch wenn sein Mund anders spricht. Und die internationale Presse wundert sich über die Art, in der Rehhagel die meisten Fragen unbeantwortet und oft brüsk vom Tisch wischt, dafür Tag für Tag dieselben Floskeln von sich gibt. In Deutschland ist man das seit vielen Jahren gewohnt, anderswo stößt es auf ungläubiges Entsetzen. Nach dem Match gegen die Tschechen waren jedoch alle Unstimmigkeiten vergessen, die Griechen wieder ein Herz und eine Seele.“

Ein weiteres Portrait Rehhagels von Michael Horeni (FAZ/Zeitgeschehen 3.7.)

Eine bessere Führungspersönlichkeit kann sich kein Trainer wünschen

Peter Heß (FAZ 3.7.) beschreibt Traianos Dellas, Griechenlands Libero und Torschütze: “Der Verteidigungsstratege spielt einen klassischen Libero antiker Prägung. Wie schon gegen Portugal, Spanien und Frankreich leistete sich Dellas auf seiner Position hinter der Abwehrlinie gegen die stürmischen Tschechen keinen einzigen Fehler. Mit der Gelassenheit und Ruhe eines Riesen erledigte er alle seine Aufgaben und besiegelte dann als Extra noch den Triumph mit seinem Tor. Im Anschluß daran ergänzte Dellas seine erinnerungswürdige Vorstellung noch mit einigen göttlichen Sprüchen: „Es war das Tor eines großen Landes“, sagte der Fußballprofi mit dem Gestus und im Tonfall eines Staatsmanns. Als wäre er die Taktfolge zwischen seinen Ausführungen und deren Übersetzungen von Hunderten Sitzungen des europäischen Parlaments gewohnt, lieferte der Fußballer zeitlich gut abgestimmt eine druckreife Sentenz nach der anderen: „Wir haben das Spiel der Tschechen eingefroren.“ Und weiter: „Portugal wird im Finale stärker sein als im Eröffnungsspiel. Aber es trifft auf ein Griechenland mit einer großen Seele.“ Und da er die gesammelte Aufmerksamkeit der Sportpresse schon einmal hatte, sandte Dellas noch eine Botschaft aus seiner Heimat in die Welt: „Wie sie vielleicht wissen, tragen wir in diesem Sommer die Olympischen Spiele aus. Ich versichere Ihnen, wir werden rechtzeitig mit den Vorbereitungen fertig sein. Und es werden die besten Spiele, die jemals stattfanden.“ Eine bessere Führungspersönlichkeit als Dellas kann sich kein Trainer wünschen. Denkt man. Aber viele haben den Hünen verkannt. Erst Otto Rehhagel entdeckte dessen ganze Größe. „Otto sagte sofort, der muß spielen, als er ihn sah“, berichtet Co-Trainer Ioannis Topalidis.“

Der Star ist der Trainer

Thomas Klemm (FAZ 3.7.) lobt Felipe Scolari: „Die Mannschaft das Gastgebers hat von Spiel zu Spiel viele Helden hervorgebracht (…) Doch der Star ist der Trainer, der allen eine Chance gibt, der den Mut hatte, seine Mannschaft nach dem 1:2 gegen Griechenland umzukrempeln. Mit seinen Einwechslungen hat er immer ein glückliches Händchen bewiesen, oder? „Ja, es war Glück, keine Arbeit. Mit diesem Glück habe ich 16 Titel gewonnen“, sagt Luiz Felipe Scolari und lächelt dabei grimmig. Erfolg und Vertrauen hat sich der Fünfundfünfzigjährige langsam erarbeitet. Nach seiner Verpflichtung als Ausländer kritisch beäugt, hat Scolari drei Dutzend Spieler getestet, seit er vor eineinhalb Jahren die Nationalmannschaft übernahm. Als seine Startformation gegen die Griechen rundum enttäuschte, folgte auf die Evolution eine Revolution: Er veränderte die Selecção auf vier Positionen, vertraute einer Mittelfeldachse vom FC Porto und jungen Kräften statt alten Recken. (…) Scolari vertraut auf zwei Frauen. Zum einen inspiriere ihn ein Talisman der Heiligen Jungfrau von Caravaggio, zum anderen eine Fachkraft aus seiner Heimat. Zwischen den EM-Begegnungen telefoniert der Trainer bis zu viermal am Tag mit Regina Brandão, einer Psychologin aus São Paulo, die alle Spielerpersönlichkeiten kennt. Scolari fragt, wie er mit den Stars umgehen solle, die er auf der Bank sitzen lasse, wie er den Wettkampfgeist seiner Mannschaft aufrechterhalten könne, wie er die Spieler am besten motiviere. Die Psychologin antwortet: Laß sie ihre Siege feiern und sich vergnügen, aber fordere sie am nächsten Tag zu konzentrierter Arbeit. In Scolaris Duktus heißt es dann: Brust raus und beide Beine auf dem Boden.“

Ich habe noch für 72 Mark ein Bundesligaspiel gepfiffen

Christian Eichler (FAZ 3.7.) freut sich mit Markus Merk: „Die Pfeife hätte er schon weggelegt, „wäre da nicht die WM 2006 im eigenen Land.“ Um Geld geht es ihm nicht. „Ich habe noch für 72 Mark ein Bundesligaspiel gepfiffen.“ Heute sind es über 3000 Euro pro Partie. Immer noch ist es nur ein Bruchteil dessen, was die Spieler verdienen. Dabei werden Schiedsrichter für angebliche Fehler viel heftiger attackiert als die Jungmillionäre am Ball. Bei der EM erlebte das der Schweizer Urs Meier, dessen private Kontaktdaten vom Boulevardblatt „Sun“ veröffentlicht wurden, weil er im Viertelfinale ein englisches Tor nicht anerkannt hatte. Nach Morddrohungen steht er unter Polizeischutz. Auch Merk fand sich schon oft als Buhmann wieder, zum Beispiel im Bundesligafinale 2001, als er Bayern München einen Freistoß gab, der Schalke in letzter Sekunde den Meistertitel kostete. Als einziger im Stadion, der „seine Subjektivität auszuschalten vermag“, kennt der Schiedsrichter die Grenzen seiner Macht im subjektiven Spektakel Fußball: Selbst wenn er seine Sache noch so gut macht, könnte Markus Merk am Sonntag das Feindbild einer ganzen Nation sein.“

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