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Otto Rehhagels ganz spezielle Betonmischung
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| Samstag, 3. Juli 2004Griechenland siegt mit „Otto Rehhagels ganz spezieller Betonmischung“ (FAZ) / doch die Griechen verfügen durchaus über „Temperament, Beweglichkeit und Balltechnik“ (NZZ)
Griechenland-Tschechien 1:0 n. V.
Ronald Reng (BLZ 3.7.) definiert die Strategie Griechenlands: “Wie damals Deutschland wissen die Griechen, wo ihre Grenzen liegen, und versuchen gar nicht erst Sachen, die ihnen misslingen könnten. Sie haben keine Hemmungen, Methoden wie die Manndeckung anzuwenden, die im modernen Fußball verschrien sind. „Zu gewinnen – das ist moderner Fußball“, kontert Charisteas, und man ahnt, wo er den Spruch herhat. Ihren Trainer Otto Rehhagel hört man nur solche Sachen sagen. Dieses Team ist eine Erinnerung, wie Fußball einmal war. Michalis Kapsis und Georgios Seitaridis nahmen Tschechiens Stürmer in Einzelhaft, als ob die Raumdeckung nicht erfunden sei. Weit hinter ihnen gab Traianos Dellas den Libero mit majestätischem Laisser-faire. Einmal schritt er gegen Tschechien nach vorne und verwandelte einen Eckball mit dem Kopf ins Tor des Abends. Dieses Team ist aber vor allem eine Erinnerung, wie alle – Trainer, Experten, Zuschauer – neue taktische Moden zu schnell als Heilsbringung ansehen. Der Libero sei ein Kropf, heißt es, ein verschwendeter Mann, der im Mittelfeld fehle. Der Libero Dellas liefert etwas, was als modern gilt: Pässe zum Spielaufbau. Der klassische Manndecker sei ein Holzhacker, den der Stürmer leicht auf die Flügel locken und so Raum für Mittelfeldspieler öffnen könne? Tschechiens Jan Koller verkroch sich in der zweiten Halbzeit in der eigenen Spielhälfte: Er wollte weg von Manndecker Kapsis. Acht Spieler der Griechen arbeiten im Ausland; außer Panagiotis Fyssas bei Benfica Lissabon ist keiner über eine Statistenrolle hinausgekommen. Wie können sie jetzt so gut sein? Traianos Dellas hat verstanden, dass sie nicht über die Unmöglichkeit ihres Erfolgs nachdenken dürfen. So lange sie per Autopilot weitersteuern durch ihren Traum, werden sie auch im Finale eine Chance haben.“
Otto Rehhagels ganz spezielle Betonmischung
Peter Heß (FAZ 3.7.) ergänzt: “Spielverderber können sich auch anders als diebisch freuen. Als Schiedsrichter Pierluigi Collina das Halbfinale zwischen Tschechien und Griechenland mit einem energischen Pfiff beendete, brach um die elf Spieler in den blauen Trikots ein Jubelsturm los, wie ihn bisher nur die Portugiesen entfachten. Schreien, Singen, Tanzen, Umarmen – das ganze Programm brachten die heißblütigen Griechen ihrem nach Tausenden zählenden Anhang dar. Erst später präsentierten sich Abwehrchef Dellas und Mittelfeldspieler Giannakopoulos dann als zärtliche Väter. Sie hoben ihre Kinder über die Tribünenumrandung und teilten still ihre Freude mit ihnen. Wessen Herz nicht griechisch schlug, hatte seine Schwierigkeiten, den Feierlichkeiten zum historischen 1:0-Triumph zu folgen. Ein Kopfballtor von Dellas hatte die Entscheidung zugunsten der Mannschaft gebracht, deren Beitrag zu diesem Spiel vor allem darin bestand, es zu zerstören. Glaubte man bis zur Vorrunde dieses Turniers, dazu bedürfe es elf Deutscher, weiß man nun, es reicht schon einer. Auf Otto Rehhagels ganz spezieller Betonmischung bauten die Griechen ihre Brücke, die bis ins Finale in Lissabon gegen Portugal trägt. (…) Die Griechen ließen sich nicht vorschreiben, wie sie zu gewinnen hatten.“
Temperament, Beweglichkeit und Balltechnik
Felix Reidhaar (NZZ 3.7.) findet die griechische Spielweise gar nicht so destruktiv: „Man täte dieser Gruppe etwa zur Hälfte im eigenen Land und in ausländischen Klubs engagierter Professionals allerdings Unrecht, würde man angesichts der stark polarisierenden Figur Rehhagel das griechische Element ausser acht lassen. Temperament, Beweglichkeit und Balltechnik sind wichtige Grundlagen auch für eine funktionierende Abwehrorganisation, wie sie griechischen Vereinen nicht unbedingt eigen ist. Was mancherorts abschätzig als defensives Betongemisch bezeichnet wird, ist in Tat und Wahrheit mit einem fein gewebten Spinnennetz besser umschrieben. Dafür ist Fleiss unerlässlich, Disziplin auch und Intelligenz. Kommt dazu, und dieser Eindruck verfestigte sich über den ganzen Donnerstag hinweg, dass die Hellenen mit viel Zuversicht in diesen Match gingen, der sie für neutrale Beobachter als Aussenseiter sah. Für die Anhänger, die sich gegenüber tschechischen Besuchern in der überwältigenden Mehrheit befanden, hatte der Favorit nur einen Namen: Griechenland. So präsentierten sich auch die Spieler: hohes Selbstverständnis, Geduld und anscheinend von gar nichts aus der Ruhe zu bringen – auch nicht vom anfänglichen Druck und Tempo der Tschechen mit dem frühen Lattentreffer Rosickys. Damit bewahrheitete sich, was man bis zu einem recht hohen Grad befürchtet hatte. Karel Brückner, die Antithese zu seinem deutschen Gegenüber, stand ab und zu an diesem Abend achselzuckend bis verzweifelt an der Seitenlinie. Er sah Ansätze eines Spiels, das seinen Vorstellungen entspricht, registrierte aber früh schon individuelle Fehler, die aus dem übertriebenen Hang zum direkten Kombinationsspiel entstanden. Und er musste auch tatenlos zusehen, wie sich seine Aufbauer und offensiven Verteidiger zunehmend im geometrisch angeordneten Dispositiv verfingen und häufig genug Gefahr liefen, dass die schnell ausschwärmenden griechischen Spinnen ihre Sisyphusarbeit bis zum Tor ausweiteten. Das geschah zwar erst in der 105. Minute ausgerechnet durch den hintersten Mann der Hellenen (Dellas von der AS Roma), aber das Unheil für die tollste Mannschaft dieser Endrunde trat quasi auf Ankündigung ein. (…) Nicht zum ersten Mal hat an einem solchen Anlass der nüchterne Realismus über den Idealismus triumphiert. Ein Rückschlag für den attraktiven EM-Fussball, doch was stört das die Griechen.“
Philipp Selldorf (SZ 3.7.) leidet mit Pavel Nedved: „Der erste, der auf dem Platz Tränen verlor, war der Kapitän Pavel Nedved. Nach 35 Minuten war er im griechischen Strafraum mit seinem buchstäblich ständigen Gegenspieler Katsouranis kollidiert. Schiedsrichter Collina rief sofort die Betreuer herbei, es sah ernst aus. Nedved wurde hinter dem Tor behandelt und begab sich bald wieder an die Seitenlinie, um aufs Spielfeld zurückzukehren. Doch es war schnell klar, dass er nicht würde weiterspielen können. Er probierte zu laufen, aber seine Schritte waren schwer, er knickte ein im Knie; ein hoher Ball kam, Nedved wollte köpfen, doch er kam keinen Zentimeter vom Boden weg. Hilflos, irritiert, fast panisch versuchte er Tritt zu fassen, bis er zur Auswechslung winkte. Jeder Mensch im Stadion wusste, dass dieser Moment ein Drama des Fußballs bedeutete, weil er einen der bewegendsten Darsteller des Turniers zur tragischen Figur stempelte. Im vergangenen Jahr, als Nedved wegen seiner fantastischen Spiele für Juventus Turin zu Europas Fußballer des Jahres gewählt wurde, hatte er das Champions League-Endspiel verpasst, weil er in der vorletzten Minute des Halbfinales gegen Real Madrid ein sinnloses Foul begangen hatte und sich dafür eine Sperre einhandelte. Jetzt würde er wieder kurz vor dem großen Ziel scheitern. Er weinte, als er sich auf die Ersatzbank setzte.“