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Symbolische Zugehörigkeit Griechenlands zu Europa bestärkt

Oliver Fritsch | Freitag, 9. Juli 2004 Kommentare deaktiviert für Symbolische Zugehörigkeit Griechenlands zu Europa bestärkt

Medienkritik im Spiegel: „Selbst die FAZ wird zum Kampagnenblatt“ (FAZ) – Bekenntnis einer griechischen Schriftstellerin: „dieser Sieg hat die symbolische Zugehörigkeit Griechenlands zu Europa bestärkt“ (FAZ) u.a.

Selbst die FAZ wird zum Kampagnenblatt

Ein EM-Fazit und Medienkritik von Klaus Brinkbäumer (Spiegel 5.7.): „Cristiano Ronaldo war 18, als Manchester United ihn kaufte. Er war die auffälligste Figur dieser 23 Tage von Portugal, aber er steht für alle: für Rooney, für Ibrahimovic, für Baros und Robben, sogar für Schweinsteiger, dessen Namen die Times diesmal noch ins Englische übersetzte: „Pig climber“. Dass mit dem Turnier von Portugal eine Ära der jungen Individualisten zu beginnen scheint, das ist das schönste Resultat dieser drei Wochen. Neue Strategien gibt es nicht mehr: Alle Mannschaften beherrschen das direkte Spiel, sie schaffen Überzahl, wo der Ball ist, das Spielfeld wird eng dadurch. Ob man mit Dreier- oder Viererkette spielt, mit einem Angreifer oder mit mehreren, ist nicht das Entscheidende. Typen wie Ronaldo machten den Unterschied aus, sie knackten die Systeme. Rudi Völler sagte vor dem Turnier, dass „Kleinigkeiten“ die Spiele entscheiden würden, und meistens stimmte das, aber manchmal waren es nur noch Zufälle. Man kann ja vieles erklären, hinterher. Italien schied angeblich aus, weil Trainer Trapattoni zu vorsichtig war; „vercoacht“, das ist eines dieser neuen Fußballworte, es meint die Fehler eines Trainers. Aber war es wirklich so? Italien spielte gegen Schweden eine dieser berauschenden Partien, die weniger Wettstreit als Gesamtkunstwerk waren; Italien wäre ein würdiger Europameister, aber es schied in der Vorrunde mit fünf Punkten aus – Griechenland hatte vier Punkte und kam weiter und dann ins Finale. Es war Pech oder Glück, es war ein Fehler, ein Geniestreich, mehr nicht. Denn dieser neue Fußball ist nicht mehr Rasenschach, er ist Roulette. Ballack schießt gegen Tschechien an den Pfosten – und alle müssen weg, Spieler, Funktionäre, fort mit ihnen! Fordert Bild, fordert Udo Lattek, selbst die FAZ wird nach einem Schuss an den Pfosten zum Kampagnenblatt. Griechenland dagegen bekommt einen Eckball in der 105. Minute, und der Libero bekommt den Ball an den Kopf, 1:0, Schlusspfiff, und dadurch wird Rehhagel, 65, wieder zum Über-Trainer. Natürlich, die Trainer können einen zweiten Stürmer einwechseln, die Viererkette auflösen, aber ist das Kontrolle? Dann spielt Deco oder sonst wer einen schlauen Pass, und alles ist anders. Denn der Fußballer von 2004 geht zwar mit einer Strategie auf den Platz, aber er hat vor allem die Aufgabe, immer wieder aus diesem Schema auszubrechen, um mit einem Spielzug alles zu drehen. Der Fußballer von 2004 bewegt sich wie ein Basketballer der Detroit Pistons, er ist entweder in Bestform oder chancenlos, und er ist wendig: Es geht nicht nur um schnelle Beine, sondern längst auch um eine „Schnellkraft des Denkens“ (SZ). Dieser Fußball ist ständiges Risiko und darum ein Abenteuer.“

Evi Simeoni (FAZ 10.7.) sorgt sich um die Fußball-Identität Deutschlands: „Müssen wir jetzt wirklich rundum zu Griechen werden, als Rückkoppelungseffekt, weil umgekehrt die Griechen sich urplötzlich in Deutsche verwandelt haben? Müssen wir jetzt unsere alten Udo-Lindenberg-Kassetten wegwerfen und künftig im Auto Bouzouki-Musik hören? Siga, siga, sagt der Grieche in einem solchen Fall. Nun mal ganz langsam. (Was uns im übrigen in Reiseführern immer noch irrtümlich als Ausdruck der griechischen Lebenseinstellung verkauft wird, aber in Wirklichkeit wahrscheinlich längst im Handbuch für deutsche Abwehrspieler steht.) Wäre es denn so schlecht, ein Nachfahre von Achilles und Aristoteles zu sein? Wer so denkt, hat aber das Problem nicht verstanden. Es geht ja hier schließlich um Fußball. Und darum, daß die griechische Mannschaft Fußball-Europameister geworden ist in einer Art und Weise, als wären elf schwarzhaarige Deutsche auf den Platz gelaufen, aber nicht etwa elf schwarzhaarige Deutsche von heute, sondern aus der Antike des deutschen Fußballs. Und wenn die griechische Mannschaft nun Fußball spielt wie einst wir: Wie spielen dann wir? Wie Griechen? Lassen wir das lieber, die Europameisterschaft ist schließlich so oder so vorbei. Den Honoratioren vom DFB in ihrem Bundestrainer- und Präsidentenchaos sei zur Orientierung Sokrates zitiert, der einen weisen Satz sagte über seine Heirat mit der als marktschreierisch bekannten Xanthippe, den man aber genausogut auf die Bild-Zeitung anwenden könnte: „Tu, was du willst, so oder so wirst du es bereuen.“ Sokrates‘ Gattin im übrigen wurde hauptsächlich deshalb so zänkisch, weil der alte Brummbär zu Hause nie ein Wort mit ihr sprach. Doch in diesem Punkt haben sich die Zeiten geändert: Der Nenn-Grieche Otto Rehhagel jedenfalls will erst einmal seine Frau fragen, ob er den Sirenengesängen des Herrn Zwanziger aus Deutschland erliegen soll, sofern der verwegene Schatzmeister noch einen Fuffziger drauflegt. Ähnliches wäre Odysseus nicht passiert, seine Frau wartete wie einst Ev Herberger zu Hause darauf, daß ihr Held von seinen Taten heimkehrte.“

Dieser Sieg hat die symbolische Zugehörigkeit Griechenlands zu Europa bestärkt

Fußball begeistert – bekennt die griechische Schriftstellerin Rhea Galanaki (FAZ/Feuilleton 10.7.) nach einem Literatentreffen: „Das Zusammenfallen unseres Treffens mit dem EM-Endspiel warf auf unsere Erfahrung als Autoren ihr eigenes, magisches Licht. Die schriftstellerische Einsamkeit wurde aufgehoben, und alle von uns, Griechen und Gäste, öffneten sich einem Mannschaftsgeist, in dem sich das Zittern um den Sieg und das Delirium nach dem Erfolg in einer Befreiung des Körpers und vor allem der Sprache äußerten – in den voll sexueller Anspielungen steckenden Liedern jener Tage, aber auch in den Umarmungen, den Küssen, den Jubelschreien, dem Hochreißen der Arme, den Körperbewegungen. (…) Dieser Sieg hat auch, weit über die Einführung des Euro hinaus, die symbolische Zugehörigkeit Griechenlands zu Europa bestärkt – weit mehr als der Export der griechischen Literatur in irgendeine Sprache und zu irgendeinem Literaturfestival. Das setzt mein Land nicht herab, ganz im Gegenteil. Ich verstehe nicht viel von Fußball, aber was ich sofort verstehe, ist: Es handelt sich – im Gegensatz zur abgeschotteten und schwer zu übertragenden griechischen Literatur – beim Sport um eine „internationale Sprache“, mit ihren eigenen, für alle geltenden Regeln. (…) Ich tat zum ersten Mal in meinem Leben etwas, das allen, die mich kennen, unverständlich erscheinen muß. Ich wühlte in einer Truhe nach der schönen griechischen Flagge meines Schwiegervaters, der General war. Ich hatte sie noch nie hervorgeholt, und daher rächte sie sich vielleicht dadurch an mir, daß sie nicht an ihrem Platz lag. Allein und unerkannt trat ich auf den Vassilissis-Sofias-Boulevard, ebenfalls zum ersten Mal in meinem Leben aus solch einem Anlaß. Von einer Zigeunerin kaufte ich eine Plastikfahne und schloß mich Tausenden von Menschen an, die fast alle griechische Flaggen trugen. Nahezu zwei Stunden warteten wir, da keine Macht der Welt die Leute, die vor Freude außer sich waren, davon abhalten konnte, den vorbeifahrenden Bus zu berühren – in einem archaisch anmutenden Ritual, durch das die Menschen zu den Siegern Kontakt aufnehmen und ihre Anerkennung ausdrücken konnten – den glänzenden Siegern, die uns hinter den dunklen Scheiben zuwinkten.“

Christoph Keil (SZ/Medien 10.7.) schaut, mit Gewinn, fern: „Natürlich gab es zu dem, was als Das Wunder von Bern in diesen Tagen wortreich beschrieben worden ist, eine ungarische Entsprechung. Die Wunde von Bern heißt der Film, den Hennig Rütten für die ARD gedreht hat. Im Mittelpunkt steht Gyula Grosics, der ungarische Torwart, dem die Schuld am 2:3 gegen die deutsche Elf im WM-Endspiel 1954 gegeben wurde. Dass sich die Menschen in Ungarn der Niederlage wegen erregten, war bekannt. Inzwischen gelten die Protestmärsche nach dem Finale als erste politische Äußerung gegen das Regime von Matyas Rakosi, den fürchterlichen Staatsherrscher. Rakosi ließ den Zug, mit dem das ungarische Team auf dem Rückweg war, 50 Kilometer vor Budapest stoppen und versicherte, nichts Schlimmes werde geschehen. Tatsächlich wurde Grosics sechs Wochen später unter Spionage-Anklage und Hausarrest gestellt. Er wurde ein Jahr lang verhört, dann freigelassen, musste aber den großen Verein Honved Budapest verlassen. Rakosi hatte persönlich verfügt, dass Grosics nur noch in der Provinz kicken dürfe, in Tatabánya.“

Die Wunde von Bern, ARD, Sonntag, 14.30 Uhr

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