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Bundesliga

Krise? Welche Krise?

Oliver Fritsch | Dienstag, 3. August 2004 Kommentare deaktiviert für Krise? Welche Krise?

Schalke 04 will und muss Erfolg haben (SpOn) – FSV Mainz, „eine gute Zweitligamannschaft“ (FAS) u.v.m.

Cordt Schnibben (Spiegel Online) freut sich auf die neue Saison: „Für viele der 40 Millionen deutschen Fußballfans ist in dieser Woche, vor dem ersten Spieltag der Bundesliga, dem Tag der Wahrheit, die Welt noch in Ordnung, ihre Mannschaft wird Meister werden oder auf keinen Fall absteigen, und wer aus ihren Prognosen eine Tabelle zusammenstellt, wird fünf Deutsche Meister und zwölf Mannschaften auf den ersten fünf Tabellenplätzen wiederfinden. Die neue Saison, da sind sich alle einig, wird dramatisch, denn in allen Spitzenmannschaften der Liga gibt es große Veränderungen: Bei Bayern München und dem VfB Stuttgart wirken neue Trainer. Bayer Leverkusen hat den Manager Reiner Calmund und die Leistungsträger Lucio und Yildiray Bastürk verloren. Meister Werder Bremen muss seinen Torschützenkönig Ailton und den Innenverteidiger Mladen Krstajic ersetzen. Die spielen jetzt bei Schalke 04, wo sie zusammen mit anderen Neueinkäufen Titelträume wahr werden lassen sollen. Der HSV hat über zehn Millionen Euro für neue Spieler ausgegeben, Borussia Mönchengladbach hat sieben Neue geholt, der 1. FC Kaiserslautern und der 1. FC Nürnberg je neun. 65 Millionen Euro Ablösegeld haben die 18 Bundesliga-Vereine gezahlt, 8 Millionen mehr als im Vorjahr. Auf 700 Millionen Euro sind die Schulden der Profivereine gestiegen, und das bei einem Umsatz von 1,4 Milliarden Euro. Krise? Welche Krise? Die TV-Einnahmen der Vereine werden in dieser Saison – nach zwei Jahren der Misere wegen der Kirch-Pleite – wieder steigen, und auch die Zuschauerzahlen in den Stadien wachsen Saison für Saison, sie haben sich in den letzten 20 Jahren fast verdoppelt. Rund 350.000 Deutsche, so viele wie nie, wollen sich kein Heimspiel ihrer Mannschaft entgehen lassen, sie haben sich eine Dauerkarte gesichert. Sie strömen in moderne Arenen, die nicht mehr viel zu tun haben mit den windigen, regendurchpeitschten Stadien der achtziger Jahre, sie jubeln in „Festspielhäusern des deutschen Fußballs“ (Schalke-Manager Rudi Assauer), und die bieten – neben Fußball – die Fröhlichkeit eines Bierzeltes, den Sound eines Rockkonzerts und die Inbrunst einer Gospelmesse. Das Drama des Unberechenbaren macht Fußball reizvoll, also die Chance, dass Werder Bremen, vom Spieleretat nur im Mittelfeld, Deutscher Meister werden kann und Griechenland Europameister. Noch mehr aber schätzt der Fußballfreund den Rausch schöner Spielzüge, das Zusammenspiel von Körperbeherrschung und Ballgefühl, von Intelligenz und Instinkt, wie es während der Europameisterschaft bei den Mannschaften von Portugal, Tschechien oder Dänemark zu bewundern war. Die EM hat die Ballbegeisterung in Deutschland – unabhängig vom Ausscheiden der eigenen Mannschaft – weiter gesteigert, weil der Fußball inzwischen ein Tempo und eine Artistik erreicht hat, die sich auch den Ahnungslosen erschließt. Bis zu 29 Millionen Deutsche bestaunten am Fernsehschirm das dreiwöchige Schauspiel der Ballstafetten und hoffen, dass auch in der Bundesliga immer mehr Erlebnisfußball statt Ergebnisfußball geboten wird. Die kulturelle Blüte des Fußballs ist umso auffälliger, weil das Theater sowieso immer in der Krise ist, das Kino sich immer weiter vom Leben seiner Zuschauer entfernt und die Popmusik sich selbst auffrisst. Die Fußballstars tummeln sich inzwischen in den Feuilletons und den Klatschblättern. Den Zuschauer versorgen die Beckhams und Kahns auch mit Dramen außerhalb des Spielfelds, vor allem aber erzählen sie mit ihren Mannschaften 34 Spieltage lang aufregende Geschichten.“

Wir mögen hier auch Mistkerle

Jörg Kramer (Spiegel Online) nennt das Ziel Schalke 04s: „Platz fünf ist unbedingt geboten. Die jüngsten Bilanzzahlen waren alarmierend. Umsatzrückgang von 118,6 auf 93 Millionen Euro; 102 Millionen Euro Verbindlichkeiten, ein Minus aus dem Geschäftsbetrieb von 19 Millionen. Die Überschuldung von eigentlich 17,4 Millionen konnte nur durch eine akrobatische Transaktion gedrückt werden: Das Grundstück des alten, teils abgerissenen Parkstadions war für einen Euro von der Stadt Gelsenkirchen erworben, dann von einem Gutachter auf 15,6 Millionen Euro taxiert worden – und über eine der Schalke-Töchter als wahrhaft „außerordentlicher Ertrag“ wieder in die Bilanz gesickert. „Für das, was wir investiert haben, ist in den letzten Jahren sportlich zu wenig rausgekommen“, räumt Schalkes Finanzvorstand Josef Schnusenberg ein. Mit 55 Millionen Euro hat der Verein in den letzten vier Jahren Spieler aus anderen Vereinen herausgekauft, auch viel versprechende Torjäger und komplizierte Typen wie Emile Mpenza und Victor Agali. Sie scheiterten und wurden schnell abgeschrieben. Wird in dieser Saison erneut die direkte Qualifikation für den Uefa-Cup verpasst, wird die neue Mannschaft zur Investitionsruine. „Dann müssten wir uns von dem Spielerkader lösen und versuchen, einen anderen Weg zu gehen“, sagt Schnusenberg. Dann wäre Heynckes gescheitert, dessen Vertrag noch ein Jahr läuft und der schon jetzt ahnt, dass seine akribische Nachwuchsschulung „nicht richtig bewertet wird“. Auch der Vorstand besitze „keinen Persilschein“, verlautete aus dem Aufsichtsrat. Auf derlei Anwürfe reagiert Macher Assauer gewohnt dünnhäutig („Wer hat denn Schalke da oben hingebracht?“), aber schicksalsergeben: „Wenn’s nicht funktioniert, nimmst du den Hut und sagst: Tut mir Leid.“ Die Fans jedenfalls liegen schon auf den Knien vor Ailton. Sie haben ihm verziehen, dass er im Frühjahr über seine neue Wahlheimat Gelsenkirchen sagte, das Leben dort sei „ein Desaster“. Die Schalker Fan-Initiative e. V. schrieb damals dem „Sehr geehrten Herrn Gonçalves da Silva“ einen offenen Brief. „Wir haben uns Gelsenkirchen nicht ausgesucht und Schalke auch nicht. Wir sind es.“ Sie empfahlen: „Komm ma lecker bei uns bei – und nach der ersten Meisterfeier mit uns wirst du am nächsten Morgen gar nicht mehr wissen, wo Bremen überhaupt liegt.“ Der Mitautor des Briefes, der 50-jährige Bodo Berg, gerade nach nächtlicher Busfahrt von der Fußball-WM der Fans aus Italien in den Gelsenkirchener Fan-Laden zurückgekehrt, erzählt, auf der Heimreise habe der harte Kern der Schalker Fans einen neuen Ailton-Anfeuerungsruf kreiert: mit ganz lang gezogenem „Aaaaa“, so dass er an den Torschrei („Goooool“) südamerikanischer Fußballreporter erinnert. „Wir mögen hier auch Mistkerle“, konzediert Berg – das ist wie ein Ritterschlag. Die ewige „Heulsuse“ Andreas Möller etwa, vor vier Jahren aus Dortmund über die Schalker gekommen, mochten sie in Gelsenkirchen nie. Nach Möllers Abschied feierten sie im Fan-Laden ein Fest mit viel Bier und Heintje-Karaoke.“

Eine gute Zweitligamannschaft

Der FSV Mainz 05 habe nicht viel zu verlieren, schreibt Michael Eder (FAS 1.8.): „Ob die Konkurrenz wohl einen einzigen Mainzer Spieler kennt? Die Trainer aus beruflicher Notwendigkeit vermutlich schon, aber die Anhänger von Dortmund, Schalke oder Bayern? „Wenn sie lesen, der und der fehlt uns zum Saisonstart in Stuttgart, werden sie fragen: Welche Sportart betreiben die?“ Das zumindest vermutet Jürgen Klopp, der Trainer von Bundesliga-Aufsteiger Mainz 05. Und er findet es prima, denn das gibt seinen Leuten die Chance ihres Lebens: Sie können sich einen Namen machen. Die Mainzer, die nach zwei dramatisch verpaßten Aufstiegen die Versetzung in den Fußball erster Klasse im dritten Anlauf geschafft haben, sind geblieben, was sie waren: eine gute Zweitligamannschaft. Nur vier Verstärkungen haben sich die Rheinhessen geleistet. Noveski und Casey kamen aus der zweiten Liga aus Aue und Karlsruhe, Weigelt und Jovanovic aus der Regionalliga, aus Dresden und Essen. Dazu kauften die Mainzer den zuletzt von Werder Bremen ausgeliehenen Innenverteidiger Manuel Friedrich für die vereinsinterne Rekordsumme von 1,2 Millionen Euro zurück – das war’s. Verschiedene Kandidaten aus aller Herren Ländern haben sie nach zum Teil wochenlangen Tests wieder heimgeschickt. Niemals, sagt Klopp, werde er den Spielern, die den Aufstieg erkämpft haben, Spieler gleicher Qualität vor die Nase setzen, die fünfmal soviel verdienten. Und erstligagestählte Profis mit Leidenschaft und überragender Klasse könne man sich nicht leisten. Stichwort Leidenschaft: Wer in Mainz spielen wolle, sagt Klopp, müsse Lust auf Fußball haben, Lust zu lernen, Lust zu laufen. Denn Klopp hat sich vorgenommen, in der ersten Liga zu spielen wie in der zweiten, und wenn das seiner Mannschaft hier und da gelingt, wird sich mancher Gegner wundern. Klopps Standard ist ein weit vorgeschobenes 4-3-3-System mit Offensivpressing, Fußball mit englischem Akzent. Das wird manchmal ins Auge gehen, darüber sind sich die Mainzer im klaren. Doch was haben sie zu verlieren?“

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