Deutsche Elf
Was der Mannschaft nicht hilft, schadet ihr
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| Freitag, 20. August 2004Klinsmanns Einstand, Deutschland siegt in Österreich 3:1: „Aufbruchstimmung“ (FAZ) / „Kurskorrektur“ (FR) / „Klinsmann hat Machtverhältnisse aufgebrochen“ (FR) / Oliver Kahn degradiert, „der geschrumpfte Titan“ (FAZ) / Kevin Kuranyi, bescheidener Star, schießt drei Tore u.v.m.
Österreich-Deutschland 1:3
Ludger Schulze (SZ 20.8.) analysiert und rekonstruiert die Prägung Jürgen Klinsmanns: „In den wenigen Tagen seiner Tätigkeit hat Klinsmann mehr verändert als seine Vorgänger Erich Ribbeck und Rudi Völler in sechs Jahren. Nach dem Motto: Was der Mannschaft nicht hilft, schadet ihr, hat er in Jahrzehnten eingefräste Abläufe abrupt beendet. Bei Tisch und auf der Busfahrt hat niemand mehr etwas zu suchen außer Spielern, Trainern und medizinischem Personal; nicht einmal DFB-Präsident Mayer-Vorfelder, der so gern bei einem Glas Rotwein ein Pläuschchen hält mit diesen tollen Burschen. Die Mannschaft, begründete Klinsmann diesen für manche übertriebenen Schritt, soll wissen, dass sich alles um sie drehe. So will er seinen Leuten („alles feine Kerle mit Charakter“) eintrichtern, „dass sie zu Großem imstande sind“. Natürlich hat auch Rudi Völler „Teamgeist“ als unerlässlich betrachtet, doch anders als bei ihm, der darunter mehr einen harmonisch-gepflegten Umgang miteinander verstand, geht es dem Neuen um einen Corpsgeist mit aggressiver Ausrichtung. Unausgesprochene Verhaltenskodizes wie Loyalität, Verschwiegenheit und Offenheit sind das Gerüst. Auch dieses Prinzip hat Klinsmann seiner aktiven Zeit entlehnt. Er hat erlebt, wie eine starke Mannschaft bei der WM 1994 scheiterte, weil Kapitän Lothar Matthäus seine Star-Rolle polierte wie die eigenen Fingernägel und immer wieder Interna ausplauderte. Matthäus“ ausgeprägtes Ego stand auch einem zufriedenstellenden Abschneiden vier Jahre später im Weg. Einmal aber war es anders: 1996 wurde das deutsche Team mit einer keineswegs überragenden Elf Europameister, weil das Team mit ihren Anführern Klinsmann und Sammer weit über die eigenen Möglichkeiten hinauswuchs.“
Michael Rosentritt (Tsp 20.8.) ergänzt: „Keine Frage, der American way of life hat auf die Arbeits- und Ideenwelt des in Kalifornien lebenden Klinsmann abgefärbt. In gewisser Weise ist es Teil seines Erfolgsrezepts. Klinsmann weiß die strukturellen und organisatorischen Vorzüge amerikanischer Profiteams zu schätzen. Er baut um sich herum ein Team von Spezialisten und delegiert Verantwortung, was zunächst nicht nur auf Gegenliebe beim bisweilen starren DFB gestoßen ist. (…) Das größte Verdienst Klinsmanns ist es, dass er in nur drei Tagen einen Draht zu den Spielern gefunden hat.“
Aufbruchstimmung
Michael Horeni (FAZ 20.8.) deutet die Signale: “Tatsächlich umwehte das Team schon etwas vom optimistischen Geist ihres neuen Lenkers, der nicht müde werden will, die immergleiche optimistische Botschaft ins zweifelnde Fußball-Land zu tragen. Die Spieler sollten und sollen merken, „daß wir heute mit etwas beginnen wollen, daß sie zu Großem imstande sind, daß wir als Mannschaft an uns glauben“, sagte Klinsmann. Die Aufbruchstimmung soll sich nun „auf die Fans und das Umfeld übertragen, damit wir beim nächsten Mal da ansetzen können, wo wir heute aufgehört haben“, wünscht sich Klinsmann. Seinen neuen Kapitän, der die Führungsrolle spielend übernahm, braucht er jedenfalls nicht mehr zu überzeugen. „Das war ein Neuanfang“, sagte Ballack. Der amerikanisch inspirierte Missionar will aber den noch nicht Überzeugten unverdrossen „den Glauben, daß wir Dinge schaffen können“, vermitteln. Selbstverständlich sei das 3:1 nur „der erste Baustein“ auf dem Weg zur WM 2006, die Dinge müßten weiterentwickelt werden. „Rückschläge werden kommen“, sagte Klinsmann voraus. Auch deshalb, weil seine Spieler individuell noch erheblich werden zulegen müssen. „Die Entwicklung wird nicht geradlinig sein“, sagt der Bundestrainer, aber verstecken wollten sie sich vor niemandem mehr. „Auch nicht vor Brasilien.“ Der Weltmeister als Maßstab für die Deutschen – daran muß man sich erst wieder gewöhnen.“
Hoffentlich übernimmt sich Klinsmann nicht, warnt Frank Hellmann (FR 20.8.): „Klinsmann hat Machtverhältnisse aufgebrochen, Mechanismen verändert, die in der Summe Sinn haben. Aber auch Feinde schaffen. Erst einige Arrivierte wie Dietmar Hamann auszusortieren, dann den Kapitän Oliver Kahn abzusetzen, bricht Strukturen auf. Und das ist gut so. Genauso wie der Fakt, viel, viel mehr Wert als Vorgänger Rudi Völler auf die eigentliche Arbeit der Fußball-Profis zu legen: das tägliche Üben von Technik und Taktik. Mehr Training kann niemand schaden, der deutsche Rückstand auf den Hochgeschwindigkeitsfußball der Weltelite beruht ja nicht auf angeborenen Defiziten. Nicht frei von Risiken und Nebenwirkungen sind die Nebenkriegsschauplätze, die Klinsmann eröffnet hat. Die Entscheidung, den verdienten Teammanager Bernd Pfaff zu vergraulen, hat ebenso für Missstimmung gesorgt wie die Entscheidung, die DFB-Delegation vom Präsidenten bis zum Pressechef aus Mannschaftsbus und Speisesaal zu vertreiben. Ob das der Sache dienlich ist? Klinsmann darf nicht viele Fehler machen. Zuvorderst einen nicht: zu oft zu verlieren. Österreich war da kein Maßstab.“
Klinsmanns Charisma beruht auf einer erfrischenden Unverbrauchtheit
Elke Rutschmann (FTD 20.8.) spürt Durchzug: „Klinsmann entwickelt eigenes Profil. Er lässt nicht nur intensiver und häufiger trainieren als sein Vorgänger, er hält die Mannschaftsbesprechungen auch nicht mehr im Hotel ab, sondern im ureigenen Beichtstuhl des Fußballs – der Kabine. Dort gibt es keine Ablenkung, dort ist die Konzentration nur auf das Geschehen auf dem Rasen gerichtet. „Die Teamsitzung war knallhart. Klinsmann will, dass wir schon jetzt nur noch an die WM 2006 denken“, erzählte Kevin Kuranyi nachher. Klinsmanns Charisma beruht auf einer erfrischenden Unverbrauchtheit, und mit seinem Charme gelingt es ihm auch, knallharte Entscheidungen zu transportieren. Es ist erstaunlich viel passiert in den 73 Stunden, in denen der Teamchef die Seinen auf das Duell eingestimmt hat. Klinsmann hat ein Gespür für die entscheidenden Nuancen entwickelt. Zum einen übertrug er Michael Ballack die Kapitänsbinde, der prompt ein starkes Spiel zeigte, zum anderen schritt er in der Torhüterfrage binnen eines Spieles zur Rotation.“
of: Der Text trägt die Überschrift: „Wer bitte war noch einmal Ramelow?“ Rutschmann bezieht sich allerdings nicht darauf. Vermutlich sind wir Zeitungsleser um Millimeter an einer erneuten Tirade gegen Carsten Ramelow vorbeigeschrammt, den deutsche Sportjournalisten gerne für Fußball-Mittelmaß und den Zweiten Weltkrieg verantwortlich machen. Dabei hat er doch ein so gutes Stellungsspiel, und seine unsichtbare Abwehrarbeit…
Offensive Interpretation von Einheit und Geschlossenheit
Klinsmann degradiert Kahn, Philipp Selldorf (SZ 20.8.) fragt rhetorisch: „Man kann fragen, ob es besonders klug ist von Klinsmann, den möglicherweise nur noch einstigen Weltklassetorwart in dieser schwierigen Phase weiter zu schwächen. Aber dem menschlichen Aspekt steht der sportlich und strategisch überzeugende Gedanke gegenüber, dass es notwendig war, Kahn endlich mitzuteilen, dass er nur einer von elf Spielern ist, die auf dem Platz stehen, und dass seine aus den alten Extraleistungen erwachsene Sonderrolle allmählich allen auf die Nerven fiel. Die Gewichtung im Team, darum geht’s, soll künftig anders verteilt werden. Der Schwerpunkt soll nicht mehr auf einem Mann lasten, der von sich glaubt, dass er notfalls das Spiel allein gewinnt. Es geht um eine offensive Interpretation von Einheit und Geschlossenheit, die auf Initiative, Verantwortung und Beteiligung basiert. Und möglicherweise ist diese Botschaft sogar schon angekommen.“
Kurskorrektur
Frank Hellmann (FR 20.8.) bejaht die Abstufung Kahns: „Zu groß ist der Anspruch, den Kahn erhebt: Er und niemand anders gehört unter die Latte. Und wenn der Münchner im nächsten Länderspiel gegen Brasilien, seiner persönlichen Wiedergutmachung für das WM-Finale 2002, nicht aufgestellt wird, könnte die Keeper-Kardinalfrage eskalieren. Schon als Klinsmann vor einer Woche Kahn zum Vier-Augen-Gespräch traf, soll es Dissonanzen gegeben haben. Kahn ist das angedachte Rotationsprinzip zuwider – die erste Ablehnung darüber hat er zunächst einmal Sepp Maier, Bundestorwarttrainer mit ausgeprägtem Kahn-Bezug, öffentlich formulieren lassen. Klinsmann ruderte zwar zurück, erklärte Kahn zur Nummer eins. Doch danach brach vor vier Tagen der brodelnde Vulkan aus. „Lächerlich und aberwitzig“ sei die Diskussion, die ohnehin in einem halben Jahr erledigt sei. Wenn Kahn sich da mal nicht täuscht. Zu Klinsmanns Kurskorrektur zählt konkret, allen drei Torhütern gleiche Startchancen zu gewähren, indem er Kahn in seinen Kompetenzen beschneidet. Mit spitzer Zunge formulierte Klinsmann nach dem Torwart-Tausch in Wien: „Olli hat Verständnis dafür, dass auch Jens und Timo mal spielen wollen.“ Wenn er da mal nicht irrt. Wort- und grußlos, die Mundwinkel verzogen, den Kopf gesenkt, eilte Kahn Richtung Ausgang. Missmutig, missgestimmt, missgelaunt. Ein Egomane freut sich nicht über Siege des Kollektivs, wenn das Individuum um seine Daseinsberechtigung fürchtet. Erst verbal in Frage gestellt, dann des Kapitänsamtes entledigt, nun ausgewechselt – binnen einer Woche hat Klinsmann erledigt, was Vorgänger Völler sich die nächsten zwei Jahre nicht getraut hätte.“
Michael Rosentritt (Tsp 20.8.) spekuliert: „Man kann sogar den Eindruck gewinnen, dass Klinsmann das Problem gar nicht unrecht kommt. Vielleicht nur ein wenig zu früh im Hinblick auf die WM in zwei Jahren. Kahn sagte vor dem Spiel, in einem halben Jahr sei sowieso klar, wer im Tor stünde und ließ keinen Zweifel daran, dass er es ist. Auch Lehmann gibt sich siegesgewiss. „Ich muss nicht jetzt auf dem Papier haben: Hey Lehmann, du bist die Nummer eins. Was soll sich der Trainer jetzt festlegen, was in zwei Jahren ist.“ Wer so redet, erhöht seine Chancen nicht. Möglicherweise erleichtert es der Streit Klinsmann, sich für die konsequenteste aller Lösungen zu entscheiden. Jens Lehmann und Oliver Kahn sind auf dem besten Wege, sich gemeinsam aus dem Team zu kegeln.“
Kuranyi reicht beim VfB wie selbstverständlich dem Pförtner das Pausenbrot
Die FR (20.8.) gratuliert Kevin Kuranyi zu drei Toren: „Die einsamen Zeiten hat Kevin Kuranyi nicht vergessen. Als Rudi Völler noch das Sagen und bei der EM entschieden hatte, den Stuttgarter Stürmer in vorderster Front ziemlich alleine zu lassen. Einzige Spitze, das war nicht Kevins Welt. Die Philosophie des Jürgen Klinsmann schon eher. Kuranyi: „Wir spielen jetzt mit Tempo schnell nach vorne: Das kommt mir entgegen, man bekommt mehr Chancen als Stürmer.“ Leise, etwas lispelnd, doch deutlich hörbar formulierte der 22-Jährige nach dem Drei-Tore-Auftritt seine Kritik an der vorsichtigen Spielweise der Vergangenheit. „Jetzt ist das besser für mich.“ Ihm steht ein Sturmkollege zur Seite; selbst wenn der wie Gerald Asamoah in Wien glücklos blieb. „Er ist viel gelaufen und hat gut gearbeitet“, sagte Kuranyi, „ich finde, das ist eine gute Spielweise“. Der Wahl-Kalifornier mag den gebürtigen Brasilianer, der sich Höflichkeit und Bescheidenheit bewahrt hat, der beim VfB wie selbstverständlich dem Pförtner das Pausenbrot reicht und auf dem Vereinsgelände täglich am längsten von allen Autogramme schreibt. Wenn Klinsmann seine „guten Kerle“ preist, ist der in der öffentlichen Wahrnehmung eher scheue, im Privatleben indes ziemlich kecke Kuranyi zuerst angesprochen.“