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Deutsche Elf

„1:1-Sieg gegen Brasilien“

Oliver Fritsch | Freitag, 10. September 2004 Kommentare deaktiviert für „1:1-Sieg gegen Brasilien“

10. September

„1:1-Sieg gegen Brasilien“ (BLZ) / „die neuen Deutschen“ (SZ) / „Weltklassefußball und deutsche Nationalmannschaft?“ (FR) / „nach dem Realisten Völler beflügelt der Reformer Klinsmann die Phantasie der Spieler und des Publikums“ (FAZ) – „der Bundestrainer neigt dazu, ins Schwafeln zu geraten“ (taz) u.v.m.

1:1-Sieg

Christof Kneer (BLZ 10.9.) gratuliert: “Jürgen Klinsmann kann sich einen 1:1-Sieg gutschreiben lassen konnte. Sein neues Deutschland war der gefühlte Gewinner dieses Abends, und man hat Klinsmann später bewundern müssen für seine Fähigkeit, auf die eigenen Verdienste zu verweisen, ohne auf die eigenen Verdienste zu verweisen. „Die Mannschaft hat ein Gespür dafür entwickelt, was sie leisten kann, wenn alle mit Dynamik und Tempo zu Werke gehen“, sagte er, und was er meinte, war: Hey, Leute, das mit der Dynamik und dem Tempo, das ist MEIN Werk. Predige ICH das nicht, seit ich das Amt übernommen habe? Er tut das, in der Tat, und so durfte man ihm das diskrete Eigenlob durchgehen lassen. Es ist ja ein hoch riskantes Spiel gewesen für ihn. Man muss sich das erst mal trauen, den Weltmeister zum Gegner haben und sagen, dass man sich nicht nach dem Gegner richtet. Es gibt nicht wenige, die sich im Stillen amüsiert hätten, wenn Klinsmann seine kecken Sätze auf die Füße gefallen wären. Es missfällt vielen in der treudeutschen Liga, dass der Neue dem Land sein Reformertum in mitunter befremdlicher Business-und-überhaupt-ist-in-Amerika-alles-besser-Diktion aufdrängt. Natürlich ist Deutschlands neuer Schwung längst kein stabiler Wert, natürlich weiß immer noch niemand, ob Klinsmann zum Trainer taugt. Aber derzeit scheint es, als habe die Mannschaft genau solche Sätze gebraucht.“

Nach dem Realisten Völler beflügelt der Reformer Klinsmann die Phantasie der Spieler und des Publikums

Michael Horeni (FAZ 10.9.) führt den Erfolg auf eine Verschmelzung des Alten mit dem Neuen zurück: “Die Verblüffung, daß attraktive Fußballansätze auch aus dem Land des Ergebnisfußballs kommen können, ist groß. Frankreichs größte Sportzeitung spricht von „verführerischem Fußball“ aus einem Land, das zumeist nach dem Motto spielt und lebt: Sicherheit zuerst. Jürgen Klinsmann hat in den ersten Wochen das gefährliche Kunststück gewagt, die Fußballnation ihrer alten Gewißheiten und Gewohnheiten zu berauben. Daß der beherzte Auftritt mehr sein könnte als nur ein zeitweiliger, aber dringend notwendiger Stimmungsumschwung, dieses Gefühl hat von den deutschen Fans freudig Besitz ergriffen. (…) Daß aber nun nicht alles ganz schlecht war, was Teamchef Rudi Völler in den vergangenen vier Jahren aus dem Nationalteam nach dem wirklichen Tiefpunkt im Jahr 2000 gemacht hat, gerät in diesen Tagen der intensiven Selbstdarstellung allerdings in den Hintergrund. Die sportlichen Vorarbeiten, auf denen Klinsmann aufbauen kann, ließen sich ganz leicht an der Aufstellung ablesen. Klinsmann hat dem Team das nötige und benötigte Wagniskapital mit auf den Weg zur WM gegeben. Daß nach dem Realisten Völler nun der Reformer Klinsmann die Phantasie der Spieler und des Publikums beflügelt, ist der vielleicht größte Gewinn dieser Nacht.“

Die neuen Deutschen

Auch Ludger Schulze (SZ 10.9.) ist angetan: „Die Elf hat gleich mehrere vermeintliche Gewissheiten als blanke Vorurteile widerlegt. Ad eins: Zu viel Jugend schadet nur. In Berlin wirkten mit: Andreas Hinkel, 22, Robert Huth, 20, Philipp Lahm, 20, Kevin Kuranyi, 22, Andreas Görlitz, 22, Lukas Podolski, 19. Ad zwei: Vorsicht ist der Vater des Erfolgs. Statt sich vorm eigenen Strafraum zu versammeln und auf Fehler des Gegners zu lauern, verlagerten die neuen Deutschen das Spiel um 20 Meter nach vorne, stürzten sich auf ballbesitzende Brasilianer wie ausgedörrte Wüstenwanderer aufs Fassbier und zwangen sie zu Fehlern der hölzernen Art. Ad drei: In Deutschland herrscht ein eklatanter Mangel an individueller Klasse. Der stark verbesserte Hinkel und der zauberhafte, wundersam konstante Lahm bilden ein Außenverteidigerpaar, das nicht oft vorkommt in der Welt des Fußballs; auch ein Mittelfeld mit dem beeindruckend unbeeindruckten Torsten Frings, Sebastian Deisler, Michael Ballack und Bernd Schneider ist ein Gute-Laune-Produzent; im Sturm ackert Gerald Asamoah wie ein Steineklopfer im Akkord, und Kuranyi hat die Anlagen, um die große deutsche Stürmertradition aufleben zu lassen. Michael Ballack strafte den guten Günter Netzer Lügen, der ihm einmal Führungsqualität aufgrund sozialistischer Erziehung abgesprochen hatte.“

Thomas Kilchenstein (FR 10.9.) reibt sich die Augen: „Weltklassefußball und deutsche Nationalmannschaft? Das waren lange Zeit zwei Begriffe, die nicht (mehr) kompatibel schienen, selbst eine B-Auswahl Tschechiens war zu stark, von Gegnern des Kalibers Argentinien, Frankreich, England, Holland, Spanien, Italien, gegen die es regelmäßig Niederlagen setzte, ganz zu schweigen. Und dann schubste eine bis vor kurzem verunsicherte, labile DFB-Auswahl die beste Mannschaft des Globus an den Rand einer Niederlage? Und das auch noch mit einer verblüffenden spielerischen Leichtigkeit. So unbeschwert und künstlerisch, dass der Berliner Boulevard anderntags schon vom „deutschen Samba-Fußball“ schwärmte.“

Zu jung, zu unerfahren, zu modern, zu resolut, zu amerikanisch, zu blond, zu blauäugig

Ludger Schulze (SZ 10.9.) liest den Nörglern und Grantlern die Leviten: „Als reine ABM-Maßnahme für ausrangierte Nationalkicker bezeichnete der Schalker Manager Rudi Assauer die Verpflichtung von Jürgen Klinsmann. Zwar war jenes Körperteil, das der Mensch gemeinhin zur Produktion von Gedanken nutzt, bei Assauer lange vom eigenen Zigarrendampf umnebelt, doch jüngst, in den grüblerischen Qualen des Entzugs, hat er mit seinem Gebrumme eine weit verbreitete Stimmung aufgefangen. Denn Klinsmann war keineswegs erste Wahl, sondern Hintersasse auf der Kandidatenliste. Aus den Medien schlug ihm Misstrauen wie der Atem eines schwerst Kariösen entgegen: zu jung, zu unerfahren, zu modern, zu resolut, zu amerikanisch, zu blond, zu blauäugig. Weltmeister 2006 werden? Mindestens! Aber Reformen? Neue, nicht ausgelatschte Wege? Entrüstung, Entrüstung: Wo kommen wir denn da hin, das haben wir noch nie so gemacht! Ein paar Wochen sind in diesem unseren Land der eisernen Reformstau-Bewahrer vergangen, die deutsche Nationalelf hat zweimal ordentlich die Füße voreinander gesetzt, und nun: „Danke Klinsi!“, wie die Berliner BZ im Namen der gewendeten Naserümpfer titelte.“

Jan Christian Müller (FR 10.9.) wirft ein: “Gemach! Als Völler seinerzeit die Rückkehr in die Sportschulen auslobte, wurde er dafür gefeiert. Erst recht, nachdem sein Einstand mit einem 4:1 gegen Spanien endete. Klinsmann ist mit seiner „Alles-supi-Rhetorik“ vom Publikum und den Medien verhaltener begrüßt worden. Noch ist dieser dynamische „Missionar“ (Spiegel) nicht allen ganz geheuer. Seine anscheinend magischen Kräfte könnten sich schnell abnutzen. Hoffentlich nicht vor dem Juni 2006.“

Der Bundestrainer neigt dazu, ins Schwafeln zu geraten

Matti Lieske (taz 10.9.) hält sich die Ohren zu: ““Die Brasilianer kochen auch nur mit Wasser“, war vor der Partie einer der Lieblingssätze des neuen Floskelwarts der Nationalmannschaft, Jürgen Klinsmann, gewesen. Es zeigte sich, dass die H2O-Verbindung der Brasilianer aus irgendeiner heiligen Quelle zu stammen scheint, das Wasser der Deutschen aber wohl eher aus dem Baggersee. Dass diese eine gute Figur abgaben, lag an ihrer viel und vor allem selbst gerühmten Kampfkraft, oder, wie es Michael Ballack ausdrückte, der alle Anlagen zum ersten Hilfsfloskelwart hat: „Deutsche Mentalität, Zweikampfstärke, Aggressivität, Disziplin“. Zum anderen lag es daran, dass die spielerischen Fähigkeiten der Mannschaft groß genug sind, um gegen einen Gegner gut auszusehen, der ihr den nötigen Platz lässt. Während Parreira das Match ziemlich unverhohlen als bessere Trainingseinheit und Experimentierfeld klassifizierte, erging sich Jürgen Klinsmann auf der anderen Seite in jener Schwelgerei, die in den nächsten zwei Jahren ständiger Begleiter des DFB-Teams sein dürfte. „Tolle Kombinationen, Doppelpässe, fantastisches Publikum, es hat Spaß gemacht, der Mannschaft zuzusehen, das Spiel hat allen gut getan, eine Mannschaft wächst zusammen, wichtiger Baustein auf dem Weg nach 2006″, usw. usf. Der Bundestrainer neigt dazu, ins Schwafeln zu geraten, nach ein paar substanziellen Sätzen reiht sich Gemeinplatz an Gemeinplatz, bis es ihm selbst auffällt und er abrupt verstummt. Der Klinsmannsche Optimismus scheint anzukommen bei den Spielern, zumindest befleißigen sich die meisten brav seiner Rhetorik und beten emsig die Parolen nach, die der neue Boss permanent ausstreut. Das Beschwören des frischen Mannschaftsgeistes wirkt dabei oft ein bisschen ungerecht gegenüber Rudi Völler, schließlich wurde auch zu dessen Zeit stets betont, wie toll die Stimmung im Team sei und wie prima der Zusammenhalt. (…) Befreit man den Abend von all dem Erneuerungsbrimborium und reduziert ihn auf seinen Kern, könnte man sagen: Das hätte Rudi Völler auch gekonnt. Bloß hätte er nicht so viel Wind darum gemacht.“

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