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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Bundesliga

Tour de Trance

Oliver Fritsch | Montag, 13. September 2004 Kommentare deaktiviert für Tour de Trance

Tour de Trance

Christian Eichler (FAZ 13.9.) zieht die deutschen Champions-League-Teilnehmer am Ohr – und erfreut sich an Mainz: „Bielefeld ist nicht Brasilien. Mönchengladbach nicht Mailand. Und Mainz nicht Madrid. Die nebenberuflichen Reiseleiter Magath, Augenthaler und Schaaf konnten gar nicht genug auf solche erdkundlichen Details hinweisen, da die Münchner Kleingruppe nach Rückkehr vom glorreichen Berliner Länderspiel glaubte, es gehe gegen Bielefeld brasilianisch weiter; und die Geschäftsreisenden aus Leverkusen und Bremen statt in Mainz oder Mönchengladbach in Gedanken wohl schon bei klangvolleren Stationen waren. (…) Der bisherige Spitzenreiter kam desorientiert bei einem völlig neuen Reiseziel an, dem Mainzer Bruchweg. „Einen Sieg der Leidenschaft“ feierte der Mainzer Trainer Jürgen Klopp und pries Spielertugenden, „die einem die Tränen in die Augen treiben“. Ja, die Leidenschaft: eine gesuchte Fußballtugend, die sich nicht trainieren läßt. Und die man für eine lange Saison dosieren muß – das zumindest schienen die Leverkusener zu denken, die zwischen dem leidenschaftlich erspielten 4:1 gegen die Bayern und dem leidenschaftlich erwarteten Duell mit Real Madrid eine emotionale Pause einlegten. Es geht ihnen dabei wohl nicht anders als anderen Berufsreisenden, die in professioneller Routine die vielen verschiedenen Einsatzorte irgendwann nur noch als neutrale Arbeitskulisse wahrnehmen. Für einen Aufsteiger wie Mainz ist das anders. Da ist selbst ein Heimspiel in der Bundesliga noch eine Reise in die große Fußballwelt. Eine Tour de Trance, auf die sich der neutrale Fußballfreund gern mitnehmen läßt.“

Sie ist kurz, die Zeit der Unschuld

Wie weit ist der Weg zum Establishment, Christoph Biermann (SZ 13.9.)? „Wer von Mainz 05 spricht, darf vom SC Freiburg nicht schweigen. Oder vom FC St. Pauli. Und damit von der Sehnsucht nach einer besseren Fußballwelt, in der es kein Haargel gibt und Fußball noch ein Sport ist, dem erlebnishungrige junge Männer nachgehen. Wie früher den SC Freiburg und den FC St. Pauli. Irgendwie geht in Deutschland die Erneuerung halt nur von den Rändern aus, wenn es um Fußball geht. (…) Dieser Tage hat ein ehemaliger Mitarbeiter der Stadionzeitung (St. Pauli) ein Buch unter dem viel sagenden Titel „Die Untoten vom Millerntor“ veröffentlicht. Dort wird Theatermacher und Vereinspräsident Corny Littman als Despot beschrieben („Ich bin der FC St. Pauli“), der nachts die Computer seiner Untergebenen ausspioniert. Der Amateurtrainer erhielt einen Teil seines Gehalts schwarz, damit die Unterhaltszahlungen an seine Ex-Frau niedriger ausfallen konnten. Mit politischer Korrektheit hat das so wenig zu tun wie mit juristischer, von schattigen Transferdeals und sportliche Inkompetenz ganz zu schweigen. In Mainz soll das niemanden erschrecken, sondern nur warnen, dass sie kurz ist, die Zeit der Unschuld.“

Fliegerangriff

Ein brutales Foul von David Odonkor an Peter Madsen – Thomas Kistner (SZ 13.9.) verachtet die Bewertung des TV-Kommentators: „„Kein Foul, er hat zuerst den Ball gespielt!“ Da sticht des Abwehrspielers Bein wie eine Lanze in des Ballführenden Parade, touchiert irgendwie kurz das Spielgerät, um im nächsten Bruchteil derselben Sekunde mit der Wucht eines 80-Kilo-Geschosses in Gegners Restkörper zu detonieren. Ohne Rücksicht auf Verluste. Warum auch? Die marginale Ballberührung, die bei derlei Aktionen unausweichlich ist, bevor sich die Beinschere schließt, genügt vollauf, um Bruchlandungen im Bewegungsapparat des anderen als regelkonform zu rechtfertigen. „Hier sehen wir die Szene noch einmal“, pflegt der Reporter dann maschinell zu analysieren, „erst wird der Ball berührt, danach kommt der gegnerische Spieler zu Fall!“ Man darf also gratulieren. Im jüngsten Fall Dortmunds Kickboxer Odonkor, der per Fliegerangriff dem Madsen zu einer längeren Schaffenspause verhalf. Madsen war bis in die Ersatzbank gerauscht, als ihn der Kollege umtrat – natürlich dort, wo die brutalsten Versuche, den Ball zu spielen, passenderweise stets ablaufen: Irgendwo an der Auslinie. Dort zieht man nicht gleich den Notbremsverdacht auf sich und kann um so ungestörter alte Rechnungen begleichen.“

Christoph Ruf (taz 13.9.): „Das Herumwedeln mit verschwitzten Textilien zeugt nicht von Lebensfreude, sondern allenfalls von schlechten Manieren und Kamerageilheit. Eigentlich ist gelb noch zu gut für solche Kaspereien. Und nun, wo in Frankfurt a. M. ein revolutionäres Klima herrscht wie anno 1917 in Petersburg, wäre doch der ideale Zeitpunkt für eine Justizreform. Denn es gibt noch weit mehr, das einem das Fußballvergnügen gründlich verdirbt. Also drei Spiele Sperre für torjubelnde Säger, Kinderschaukler, Kanoniere und sonstiges Gehampel aus der Erlebniswelt evangelischer Kindertagesstätten. Und rot, Kerker, Weihwasser und Brot für Glaubensbekenntnisse aller Art. Lange Jahre mag man es besonders im ziemlich entchristianisierten Norden geradezu niedlich gefunden haben, wenn der brasilianische Einwechselspieler sich minutenlang bekreuzigte bevor er von Gotteshand gehalten auf den Platz schwebte. Doch das war erst der Anfang des Kreuzzuges. Immer mehr Spieler geben auf irdische Fragen übersinnliche Antworten. Zuletzt Sunday Oliseh, der nach den Misstönen im Verhältnis zum VfL Bochum gefragt wurde und erzählte, Gott habe ihn da so manches überstehen lassen. Abgesehen davon, dass man an den Fähigkeiten eines Gottes ernsthaft zweifeln muss, wenn er für Bochum verantwortlich sein soll – wen interessiert das alles?“

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