Interview
Interview mit Ralf Rangnick
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| Dienstag, 5. Oktober 2004Ralf Rangnick erklärt der FAS seinen Lernprozess im Profifußball – Thomas Hitzlsperger erklärt der SZ die Vorzüge der englischen Schule
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Ich habe nicht mehr diesen missionarischen Eifer
Ralf Rangnick im Interview mit Richard Leipold (FAS 3.10.)
FAS: Haben Sie aus Ihrer Zeit in Hannover und Stuttgart gelernt?
RR: Man sollte sich nach jeder Station selbst hinterfragen und überlegen: Was kann ich beim nächsten Mal anders machen? Aus der Erfahrung heraus würde ich etwa in Stuttgart heute einiges anders machen.
FAS: Was zum Beispiel?
RR: Aus der Ulmer Zeit heraus hatte ich die Vorstellung, daß eine Mannschaft ihre Stärke nur aus dem Teamwork bezieht, und so ist es dort gewesen. Aber dann kommst du nach Stuttgart, und jeder der dreißig Spieler ist praktisch eine Ich-AG. Darauf muß man sich einstellen. Inzwischen sage ich: okay, jeder ist so, wie er ist, und ich muß ihn so nehmen, wie er ist.
FAS: Sie treffen in Schalke auf eigenwillige Spielertypen wie Rost, Ailton oder Böhme. Wie werden Sie mit denen umgehen?
RR: Ich werde sie an ihrer Leistung messen. Ein Profi, der wesentlich dazu beiträgt, Spiele zu gewinnen, kann ruhig ein bißchen anders sein als andere. Ein Beispiel: In Hannover hatte ich Jan Simak, der war wirklich alles andere als pflegeleicht. Aber es ist mir völlig wurscht gewesen, was der abends gemacht hat, solange er der Mannschaft auf dem Platz helfen konnte. Auch Fredi Bobic ist kein Spieler, der von ganz allein funktioniert, das hat man vor seiner Hannoveraner Zeit gesehen und auch danach wieder. Da muß man als Trainer immer wieder helfend und korrigierend eingreifen. Diese Beispiele zeigen, daß ich meine Lehren gezogen habe.
FAS: Welche Lehren sind das?
RR: Ich habe nicht mehr diesen missionarischen Eifer: alle davon zu überzeugen, so zu arbeiten, wie ich es in Ulm gewohnt war; alle auf das gleiche Ding einzuschwören. Du mußt versuchen, jeden da abzuholen, wo er ist. Ein Trainer muß auch auf die individuellen Bedürfnisse der Spieler eingehen. In Schalke werden nur drei- oder viermal pro Woche alle Spieler gemeinsam trainieren. Der Rest wird darauf abgestimmt, was für den einzelnen gerade am wichtigsten ist. Da werden dann Technik, Koordination, Athletik und Schnelligkeit geschult. Unser Job als Trainer ist es, jeden Spieler zu verbessern.
Jeder gewonnene Einwurf, jede Ecke wird hier fast so bejubelt wie ein Tor
Sehr lesenswert! Thomas Hitzlsperger, neu im DFB-Kader, im Interview mit Raphael Honigstein (SZ 5.10.)
SZ: Hatten Sie nach Ihren starken Partien für Aston Villa in der vergangen Saison insgeheim schon früher mit einer Berufung gerechnet?
TH: Ich hatte es auf jeden Fall gehofft. Aber es war in der U21 sehr unglücklich für mich und uns alle gelaufen. Wir haben bei der EM unser Potenzial nicht ausspielen können, und die taktischen Maßnahmen des Trainers (Uli Stielike) haben auch nicht so gegriffen. Mein persönliches Verhältnis zu ihm war nicht so gut.
SZ: Gut für Sie, dass Jürgen Klinsmann ein ausgesprochener Fan der Premier League ist.
TH: Es ist schön, wenn man wahrgenommen wird. Der deutsche Fußball schaut stark auf sich selbst, deswegen bist du im Ausland leider ein bisschen unsichtbar, wenn du nicht gerade bei einem absoluten Spitzenverein spielst.
SZ: In der Premier League ist das Durchschnitts-Tempo um einiges höher als in Italien oder Deutschland.
TH: Das stimmt. Dafür gibt es aber viele Gründe. Die enorme Stimmung in den Stadien treibt dich beispielsweise ständig nach vorne, die Fans verlangen einfach die Attacke. Als Chelsea und Arsenal in der Champions League gegeneinander spielten, waren vielleicht fünf Engländer auf dem Platz, aber es kam so trotzdem ein typisches englisches, ungeheuer schnelles und intensives Match dabei heraus. Jeder gewonnene Einwurf, jede Ecke wird hier fast so bejubelt wie ein Tor.
SZ: Warum ist das so?
TH: Weil traditionell nicht Ballbesitz, sondern Raumgewinn die oberste Priorität hat. Die meisten englischen Trainer fordern, dass man in der gegnerischen Hälfte spielt; das Grundbestreben ist, den Gegner zu dominieren, ihn weit vom eigenen Tor zu halten. In der Vergangenheit haben britische Mannschaften deswegen die Bälle hoch und weit nach vorne geschlagen. Aber die technische und taktische Qualität ist mittlerweile so gut, dass man die Vorgabe mit Kombinationen und sauberem Passspiel erfüllen kann.
SZ: Passives Spiel verstößt also gegen die englische Fußball-Leitkultur?
TH: Wenn sich Abstiegskandidaten am Strafraum verschanzen, nimmt man ihnen das nicht so übel. Aber nur, weil sie nicht anders können. Grundsätzlich ist vorsichtiger Fußball in der Tat verpönt – defensive Taktik heißt auf Englisch nicht umsonst „negative tactics“.
SZ: Wie viel Anteil hat die großzügige Regelauslegung der Schiedsrichter an der Attraktivität des englischen Fußballs?
TH: Einen sehr großen. Das Spiel kann nur schnell werden, weil es weniger unterbrochen wird. Und wo schnell gespielt wird, werden automatisch mehr Fehler gemacht, so kommt es zu mehr Torszenen. (…)
SZ: In Deutschland ist es immer noch etwas Besonderes, wenn ein Fußballer um die 20 in der ersten Elf spielt.
TH: Es ist einfach ganz normal, dass junge Menschen in England früher Verantwortung übernehmen. Die Studienzeit ist hier kürzer, mit 22 bist Du Rechtsanwalt oder bei der Bank. Und die Trainer haben auch den Mut, einen Jungen früher in die Elf zu werfen. Wer gut genug ist, ist hier auch alt genug: Man muss nicht erst den Dienstweg durch die Jugend- oder Reservemannschaften antreten, um eine Chance zu bekommen.