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Deutsche Elf

Fußball ist unser Leben

Oliver Fritsch | Montag, 11. Oktober 2004 Kommentare deaktiviert für Fußball ist unser Leben

Sepp Maier, „ein folkloristisches Relikt“ (Tsp), ist entlassen / „Maier konnte zum unkalkulierbaren Geschäftsrisiko werden“ (Tsp) / „das Torwart-Problem muß noch lange nicht gelöst sein“ (FAZ) – 2:0 in Iran, „großes, schönes und ergreifendes Erlebnis“ (SZ) / „Klinsmanns schlüssiges Stellvertreter-Prinzip“ (BLZ)

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Stefan Hermanns (Tsp 11.10.) begrüßt die Entlassung Sepp Maiers: „Sepp Maier stammt aus einer Zeit, in der der DFB noch männerbündisch organisiert war, die Nationalmannschaft in Sportschulen kaserniert wurde und harmlose Schlagerliedchen aufnahm. „Fußball ist unser Leben“, haben die Nationalspieler vor der WM 1974 gesungen, der Franz, der Berti und natürlich der Maiersepp. Einen programmatischeren Titel hätte es für diese Generation wahrscheinlich nicht geben können. Für Bierhoff und Klinsmann ist der Fußball ein Produkt, die Nationalmannschaft eine Marke, die es zu positionieren gilt. Jemand wie Maier kann da in seiner Unberechenbarkeit zum unkalkulierbaren Geschäftsrisiko werden. In einem Interview hat er einmal erzählt, dass er zu seiner aktiven Zeit einem Journalisten wegen eines schlechten Artikels eine saubere Watschn verpasst habe. „Danach war der nur noch nett zu mir.“ Moderne Medienarbeit sieht inzwischen anders aus.“

Das Problem muß noch lange nicht gelöst sein

Michael Horeni (FAZ 11.10.) sieht das ähnlich: “Als Opfer muß sich Maier nach der Nacht-, aber keineswegs Nebelaktion nicht ausgeben. Das eigensinnige Torwartidol von gestern, das sich nie den Mund verbieten ließ, hatte sich mit seiner jüngsten Provokation gegenüber Jens Lehmann sowie der Parteinahme für seinen Golfpartner Oliver Kahn ganz allein für das Amt als Trainer in einem offenen Zweikampf bis zur WM 2006 unmöglich gemacht. Maier verließ „die gemeinsame Basis von Achtung und Respekt“, die Klinsmann nicht nur in Teheran stets einforderte und anmahnte, damit schon zum zweiten Mal. Es wäre kein Ausweis von Klugheit, sollte Maier nicht gewußt haben, was für eine Reaktion er beim knallharten Reformer Klinsmann mit seiner vollkommen verrutschten Attacke auslösen würde. Vielleicht fühlte sich Maier – der stets aus der objektiven Warte des Fachmanns zu sprechen vorgab, den Interessenkonflikt aber als langjähriger Klubtrainer und Vertrauter nie verhindern konnte – durch Kahns Verlust der Sonderstellung selbst angegriffen. (…) Mit Sepp Maier ist nun ein Reizpunkt verschwunden, aber damit muß das Problem noch lange nicht gelöst sein.“

Folkloristisches Relikt

Warum hält man Sepp Maier eigentlich für humorvoll? Stefan Hermanns (Tsp 11.10.): „Wenn Josef Maier für die Öffentlichkeit den Maiersepp gibt, kann es schon mal peinlich werden. Im Frühjahr haben das die Vertreter von Mercedes- Benz erfahren müssen. Da hatte der Großsponsor der deutschen Nationalmannschaft vor einem Länderspiel den Maiersepp als Zeitzeugen zu einer Pressekonferenz geladen. Es ging damals um die Suche nach dem verschollenen Mannschaftsbus der Weltmeister-Mannschaft von 1974, und Maier sollte ein paar lustige Anekdoten aus der alten Zeit beisteuern. Der frühere Nationaltorwart hat dann eine obskure Geschichte erzählt, in der es um Ausflüge in ein Hotel am Timmendorfer Strand ging, die Jacobs Sisters und ihre Pudel eine Nebenrolle besetzten und Maier sich schließlich als Erfinder der „Kondom-Aufhängung“ rühmte. Eigentlich hatte er nur ein Kondom mit Wasser gefüllt, es im Bus aufgehängt und dem Fahrer aufgetragen: „Leg dich richtig rein in die Kurven.“ Irgendwann ist die Hülle dann zerplatzt. „Und alle waren nass. Das war ein Ereignis, die Kondom-Aufhängung.“ Ja, das haben die Herren von Mercedes vermutlich auch gedacht. (…) Maier war 1987 vom damaligen Teamchef Franz Beckenbauer zum DFB geholt worden. Er hat seitdem für fünf Nationaltrainer gearbeitet, war aber unter dem Modernisierer Klinsmann immer mehr zum folkloristischen Relikt einer vergangenen Zeit geworden.“

Großes, schönes und ergreifendes Erlebnis

Die Reise nach Teheran – Philipp Selldorf (SZ 11.10.) gehen die Adjektive aus: „Die Geschehnisse in Teheran empfand der Debütant Per Mertesacker als „sehr unvorstellbar“, also als Erfahrung jenseits des Denkbaren. Das ist die angemessen staunende Einschätzung eines bewegenden Abends und einer Reise, deren Begleiterscheinungen bei jedem Beteiligten eine gewisse Fassungslosigkeit erzeugten. Für die deutschen Fußballer und alle, die sie dorthin begleitet haben, war diese Partie ein großes, schönes und ergreifendes Erlebnis. Die Herzlichkeit und Begeisterung der Menschen, die monumentale Bedeutung, die das Spiel in der iranischen Öffentlichkeit hatte, der revolutionäre politische Subtext der Begegnung – all die außergewöhnlichen Eindrücke dieser Expedition in eine andere Fußballwirklichkeit gaben den Anlass, in Pathos und naiver Euphorie zu schwelgen.“

Grenzen der religiösen Macht

Wind of change? Michael Horeni (FAZ 11.10.): “Klinsmann, Bierhoff und Ballack hatten die Iraner sehnsüchtig erwartet. Aber nicht Eric Clapton, die Eagles und die Dire Straits. Es war etwa zwei Stunden vor dem Anpfiff, im Stadion Azadi war längst kein regulärer Platz mehr zu bekommen, da trauten die Iraner weder ihren Augen noch Ohren. Im Innenraum der Arena spielte eine Band namens „Inan“ die Rockklassiker aus dem Land des großen Satans. Der ideologische Leiter der Behörde, die für den riesigen Stadionkomplex zuständig ist, verstand die Welt nicht mehr und wollte das bisher Unerhörte stoppen. Die Iraner jedoch waren außer sich vor Begeisterung über ein Stückchen Freiheit, das ansonsten dafür geeignet ist, mit einer Festnahme zu enden. „Jeder, der klatscht, ist gegen das System“, sagte ein iranischer Journalist zum größten Freudenfest unter diesmal freiem Himmel seit der WM-Qualifikation vor sieben Jahren. Weil die Deutschen kamen, stieß der islamische Wächter im Stadion diesmal an die Grenzen der religiösen Macht. Unter den riesenhaften Bildnissen des Revolutionsführers Ajatollah Chomeini sowie seines Nachfolgers Ajatollah Chamenei erfuhr der Hüter der Regeln, so erzählten es sich Iraner im Innenraum, daß die Erlaubnis „von ganz oben kommt“. Vom stellvertretenden Ministerpräsidenten, zuständig für den Sport – und für Propaganda, wie man nach dem Marketing-Vorprogramm für den Iran hätte hinzufügen können. (…) Dann wurde es sehr schnell sehr still, als über die Lautsprecher gesungene Suren des Koran als Rezitation vor dem Gebet erklangen. So wie das sonst immer vor Fußballspielen üblich ist.“

of: Aber die Dire Straits sind doch aus London…

Hitler-Gruß

In der SZ (11.10.) lesen wir: „Dass sich die Bundesliga und das deutsche Nationalteam in Iran einer absurden Beliebtheit erfreuen, konnte die DFB-Delegation schon in den Tagen zuvor feststellen. „Was wir hier erlebt haben, war schon positiver Fanatismus, die Leute sind wahnsinnig emotional und aktionsgeladen, aber immer freundlich“, resümierte Trainer Joachim Löw bewegt. Manchen Ausdruck von Jubel muss man da wohl nachsehen. Einige Deutschland-Verehrer entboten den Hitler-Gruß, andere trugen stolz ein riesiges Plakat mit einem Nietzsche-Zitat durch die Gegend.“

Was mich nicht umbringt, macht mich stärker

Christian Oeynhausen (FTD 11.10.) ergänzt: „Es passiert deutschen Fußballspielern nicht allzu oft, dass sie am Stadiontor mit Nietzsche konfrontiert werden. In Teheran haben sie damit eigentlich am wenigsten rechnen können, doch im Iran musste man mit allem rechnen. „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“, hatte ein Fan am Eingang auf sein Transparent geschrieben, der junge Iraner nahm Bezug auf das 0:2 des Iran gegen Deutschland bei der WM 1998. Im Stadion selbst war das Plakat später nicht mehr zu sehen. Womöglich gehörte der Nietzsche-Kenner zu jenen geschätzten 150 000 Menschen, die willens, aber vergeblich zum Stadion gekommen waren, weil nur 110 000 Einlass finden konnten. Aber der Spruch galt in gewisser Weise auch als Motto für die deutschen Ambitionen auf dieser Abenteuerreise: Zurechtkommen lernen unter außergewöhnlichen Bedingungen, so und nicht anders lautete die Aufgabe, was im Spezialfall Iran vor allem bedeutete: die Zuneigungen aushalten, die Ruhe bewahren, das Drängeln, das Zerren, das Schubsen, das Schreien stoisch über sich ergehen lassen.“

Schlüssiges Stellvertreter-Prinzip

Was macht Klinsmann anders, Christof Kneer (BLZ 11.10.)? “Es hat nur drei Länderspiele gebraucht, um die Idee zu begreifen, die hinter Klinsmanns neuem Deutschland steht. Er fährt eine Personalpolitik, die schon jetzt viel schärfer konturiert ist, als es die von Rudi Völler je war. Völlers Kader kannte man schon auswendig, bevor er ihn öffentlich machte, und er hat seine Vertrauten dann über die Positionen verteilt. Auf diese Weise hat er den Stammspieler ohne Stammposition erfunden; alle wussten, sie durften wiederkommen, die Frage war nur, auf welcher Position. Man kann Völler den Vorwurf nicht ersparen, dass er durch ständige Rochaden manche Potenzen dramatisch vergeudet hat, etwa die von Torsten Frings. Man darf es wohl für einen Fortschritt halten, dass sich Jürgen Klinsmann dem Problem von der anderen Seite entgegendenkt. Er denkt nicht in Namen, er denkt in Positionen. Man muss sich das wohl so vorstellen, dass er im Kopf ein 4-4-2-Schema mit elf Kästchen hat, und in jedes Kästchen denkt er sich dann einen Stammspieler hinein. Er hat für jeden Spieler eine klare Position, und für jede Position gibt es einen Herausforderer. Auf diese Weise hat er im Team ein schlüssiges Stellvertreter-Prinzip etabliert, das den Kader in einer so produktiven Spannung hält, dass aus jedem Freundschaftsspiel ein kleines Ausscheidungsmatch wird.“

Matti Lieske (taz 11.10.) befasst sich mit dem Sportlichen: “Es ist lange her, dass ein Auftritt der deutschen Nationalmannschaft eine solche Begeisterung hervorgerufen hat. Jürgen Klinsmann sah den Jubel um sein Team natürlich mit großem Wohlgefallen, schließlich ist er angetreten, vergleichbare Zustände der Verzückung bis zum Jahre 2006 auch in der Heimat zu entfachen. Das Spiel selbst zeigte allerdings, dass es bis dahin noch ein weiter Weg ist (…) Die Iraner scheiterten immer wieder an ihrer eklatanten Schuss- und Abschlussschwäche, gelegentlich auch an Torhüter Jens Lehmann, dem ein auf den Platz geeilter iranischer Fan sogar die Handschuhe küsste. Offenbar hielt er ihn für Oliver Kahn – vielleicht ja sogar für Sepp Maier.

Mehr Eigenverantwortung, Selbstständigkeit, Investitionen in Zeit und Geld

Frank Hellmann (FR 11.10.) schaut ins Pflichtenheft der Nationalspieler: „“Bei der Nationalmannschaft zu sein“, sagt ein Spieler im Rückblick, „das hatte früher ein bisschen was von Urlaub.“ Die Zeit der Muße ist vorbei. Zwar kann jeder Kicker auch den Spieltrieb an der Playstation weiter befriedigen – doch bleibt weniger Zeit dafür. Das Programm ist umspannend umfassend. Ob durch PC-Schulung oder Stadtrundfahrt, Videostunde oder Kinoabend, Training oder Taktikbesprechung: Die Kicker der Ära Klinsmann sind deutlich mehr gemeinschaftlich ausgelastet als unter der Führung des Duos Völler/Skibbe. Die Liste der Neuerungen ist umfangreich – und verlangt von den Profis mehr Eigenverantwortung, Selbstständigkeit, ja sogar Investitionen in Zeit und Geld:
• DVDs ansehen: Jeder Spieler hat eine mit 20 Einzelszenen erhalten – als eine Art Zwischenzeugnis der ersten Länderspiele.
• E-Mails checken: Für jeden ist eine Team-E-Mail eingerichtet – so kann Klinsmann aus Kalifornien kommunizieren. Für Kölns Jungstar Lukas Podolski wurde eigens ein EDV-Fachmann geordert.
• Benimmliste lesen: Schon zum Länderspiel am 17. November gegen Kamerun gibt es einen Verhaltenskodex.
• Zusatztraining absolvieren: Koordination und Schnelligkeit sollen daheim verbessert werden. Dazu gibt es bald für jeden Gummiband, Schaumstoffrolle und Sprungseil vom DFB zur Gymnastik.
• Trainingstagebuch schreiben: Ab der WM-Saison 2005/06 sollen die Spieler Buch über geleistetes Training, eingenommene Medikamente oder ihre persönlichen Empfindungen führen.“

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