Internationaler Fußball
Die Glücklosigkeit des kleinen Mannes
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| Montag, 11. Oktober 2004Berti Vogts, die Glücklosigkeit des kleinen Mannes – friedliches 0:0 zwischen Serbien/Montenegro und Bosnien/Herzegowina – Frankreich zweifelt
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Schottland-Norwegen 0:1
Die Glücklosigkeit des kleinen Mannes
Christian Eichler (FAZ 11.10.) leidet mit Berti Vogts: „Vogts‘ Wunschbild modernen Fußballs – flüssiges Paßspiel, vernetzte Bewegung, Phantasie, Dynamik, das alles in höchstem Tempo – es bleibt in Schottland ein unvollendetes Gemälde; eine Phantasie, der sich die Realität in zweieinhalb Jahren kaum angenähert hat. Natürlich kam wieder alles zusammen: zur Talentlosigkeit der aktuellen Spielergeneration auch noch der Ausfall von vier Profis; die fehlende Match-Praxis der einzigen Kreativkräfte, Fletcher und McFadden, die in Manchester und Everton nur Ersatzleute sind; dazu einer der unangenehmsten Gegner Europas: die norwegische Antispaßfabrik, die schon viel bessere Teams einfallslos gemacht hat. (…) Die „Glücklosigkeit des kleinen Mannes“ sah Scotland on Sunday im Spielverlauf gespiegelt. Kapitän Barry Ferguson sagte: „Ich fühle mit dem Trainer, weil ihm einfach das Glück fehlt.“ Berti Vogts, das Gegenstück zum Glückskind Beckenbauer – dieses Stigma des Unglücksraben hat ihn auch in der Fremde eingeholt. In einem Interview mit dieser Zeitung hatte Vogts nach wenigen Monaten im Amt auf eine Frage über das Unerklärliche des Trainerjobs historisch geantwortet: „Schauen Sie, was Napoleon über die Auswahl seiner Generäle sagte: Mich interessiert nicht seine Ausbildung, mich interessiert nur: Hat er Glück oder hat er Pech?““
England-Wales 2:0
Rooney, du triffst nur im Bordell
Raphael Honigstein (SZ 11.10.) leidet mit Ryan Giggs: „Nie zuvor dürfte sich der Flügelstürmer im heimischen Old Trafford mit einem roten Trikot auf dem Rücken so einsam und verloren gefühlt hatten. Er war kaum involviert, musste zusehen, wie die Engländer sich unaufgeregt Chance nach Chance herausspielten und seine aus Zweit- und Drittligaspielern zusammengebaute Abwehr auseinander pflückten. Die englischen Fans, berauscht vom ersten britischen Bruderkampf seit 20 Jahren, pfiffen ihn 90 Minuten lang gnadenlos aus. Schon die walisische Nationalhymne war in ekelhaftem Gegröle untergegangen, besonders Dumme nutzten die Schweigeminute für die ermordete Irak-Geisel Ken Bigley vor dem Anpfiff, um besonders laut „Fuck off, Wales“ zu brüllen. Die Waliser wehrten sich mit „Rooney, du triffst nur im Bordell“, aber ihr Team hatte den Widerstand sehr schnell eingestellt. Ihre legendäre Leidenschaft und Aggression schien die Elf des ehemaligen United-Stars Mark Hughes irgendwo zwischen Cardiff und Manchester verloren zu haben. Man nennt sie „die Drachen“, nach dem Wappentier des Fürstentums. Doch aus den Nüstern kam kein Feuer, nur heiße Luft. Die Engländer, die unter dem Banner des versierten Drachentöters St. George antreten, hatten mit dem schlappen Ungetüm keine große Mühe. (…) Im Tofik-Bakhramov-Stadion, benannt nach dem sowjetischen Linienrichter, der 1966 das Wembley-Tor gab [!], muss Eriksson in Aserbaidschan seinen Kapitän Beckham ersetzen.“
Serbien/Montenegro-Bosnien/Herzegowina 0:0
Markus Bickel (Tsp 11.10.) schildert den politischen Hintergrund: „Dass es beim ersten Wettbewerbsspiel der beiden Teams seit dem kriegerischen Zerfall Jugoslawiens vor über einem Jahrzehnt um mehr gehen würde als nur um Fußball, war nicht zu verhindern. So verlief früher die Front nur wenige hundert Meter hinter dem Stadion, in dem 1984 die Olympischen Winterspiele eröffnet wurden. Mehr als tausend Tage lang war Sarajevo von den bosnisch-serbischen Truppen des vom UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag angeklagten Radovan Karadzic eingekesselt – und das Kosevo-Stadion lag direkt im Visier der rings um die Stadt stationierten Artillerie-Einheiten. 12 000 Bewohner kamen während der Belagerung zwischen 1992 und 1995 ums Leben, auf über 200 000 wird die Zahl der Toten und Vermissten geschätzt. Nicht allen Besuchern fiel es daher so leicht wie Velid Imamovic, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. „Während des Krieges waren wir Feinde, heute stehen wir uns als sportliche Gegner gegenüber“, sagte der Leiter der Internationalen Abteilung des bosnischen Fußballverbands. Und auch wenn direkt neben dem 30000-Zuschauer-Areal Hunderte von Grabsteinen den früheren Trainingsplatz zieren, ist Imamovic sich sicher, dass das Kosevo-Stadion „immer das Symbol der friedlichen Spiele bleiben“ wird.“
Eine Art Volkshochschulkurs in der Wirklichkeit des westlichen Balkans
Wer hält zu wem, Michael Martens (FAZ 11.10.)? „Auch wenn diesmal in Sarajevo keine größeren Zwischenfälle bekannt wurden, war das Spiel ähnlich dem Duell Albanien gegen Griechenland vor einigen Wochen eine Art Volkshochschulkurs in der Wirklichkeit des westlichen Balkans. In Tirana waren jüngst Fans aus Mazedonien und dem Kosovo angereist, um „ihre“ Mannschaft zu unterstützen. Schließlich käme ein Albaner aus dem formal zu Serbien gehörenden Kosovo nie auf die Idee, die Mannschaft von Serbien-Montenegro als die eigene zu betrachten. Auch die albanische Minderheit in Mazedonien hält es lieber mit der Auswahl Albaniens als mit der mazedonischen Nationalmannschaft. In Sarajevo nun galten die Sympathien eines Teils der Einwohner des gastgebenden Staates eindeutig der aus Belgrad angereisten Mannschaft – denn allen internationalen Bemühungen zum Trotz identifizieren sich die meisten bosnischen Serben auch fast zehn Jahre nach Kriegsende noch nicht mit jenem fragilen Staat, den Karadzic und sein General Mladic in den neunziger Jahren mit aller Macht zertrümmern wollten.“
Frankreich-Irland 0:0
Ihre einzige Waffe ist die Begeisterung
Frankreich zweifelt und ist ungeduldig, meint Ralf Itzel (FR 11.10.): “Nicht mal das Stade de France verdient seinen Namen noch. Am Samstag hätte es in „Stadion Irlands“ umgetauft werden müssen. Fast 35 000 Fans waren von der Insel herübergekommen, um ihre Mannschaft anzufeuern. Mit Trikots, Fahnen, Schals, Hüten und sonstigem Klimbim färbten sie die Tribünen so grün, dass man sich an der Landsdowne Road von Dublin oder im Celtic Park von Glasgow wähnte. Und auch mit ihren Gesängen übertönte die größte Reisegruppe der Welt die etwa gleichstarke Menge französischer Fans problemlos. „Die grüne Armee“ werden Irlands Fanschar genannt, doch weil ihre einzige Waffe die Begeisterung ist, würde das heitere Heer auch die Arenen Deutschlands zieren. (…) Raymond Domenech, in der Freizeit ein erstklassiger Laienschauspieler, hat den Laden in den vergangenen drei Monaten ordentlich aufgemischt. Er erneuerte den gesamten Betreuerstab und piesackt die Fußballer mit öffentlichen Angriffen und verschärften Umgangsregeln. So sind Handys auf der Massagebank jetzt verboten; wer nicht pünktlich zum Mannschaftsbus kommt, muss selbst schauen, wo er bleibt; auch beim Training sind Schienbeinschoner anzulegen; nach den Spielen muss jeder vor versammelter Runde seine eigene Leistung beurteilen; und am Morgen danach wird gemeinsam gefrühstückt. Die verwöhnten Fans bleiben skeptisch. Es fällt ihnen schwer zu akzeptieren, dass aller Neuanfang schwer, und ihr Team nun eben erstmal ein ziemlich gewöhnliches ist. Nostalgisch schwelgen sie in den Erinnerungen an eine Ära, in der das Stade de France noch das Stadion der Franzosen war.“
Liechtenstein-Portugal 2:2
Glückwunsch
Georg Bucher (NZZ 11.10.) liest portugiesische Zeitungen: „Am Tag nach dem 2:2 ironisierte das Boulevardblatt „24 horas“ die fussballerische Katastrophe mit dem Titel: „Glückwunsch! Sie haben gegen die schlechteste Equipe Europas unentschieden gespielt.“ Gegen ein Land, dessen Einwohner das Lissabonner Luz-Stadion nur zur Hälfte füllen würden. Ein Schuldbekenntnis erwartete man vom Selektionär, vor allem eine Entschuldigung bei den Emigranten, die ihren bewunderten Stars das Gefühl gaben, vor heimischer Kulisse aufzutreten. Doch Scolari verweigerte die Selbstkritik, obschon die im Vorfeld angemahnten Tugenden Bescheidenheit und Konzentration nicht einmal ansatzweise zu erkennen waren. Stattdessen bescheinigte der Brasilianer Liechtenstein einen verdienten Punktgewinn.“
Die WM-Qualifikation im Überblick NZZ