Ball und Buchstabe
Das Stadion erlaubt ein Dasein als Teilzeit-Taliban
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| Montag, 1. November 2004Tim Parks, Schriftsteller und Kenner der Fan-Szene Italiens, im Gespräch mit Florian Haupt (WamS 31.10.) über Gewalt
WamS: Herr Parks, Sie haben ein Jahr in den Fankurven Italiens verbracht. Wurden da auch Münzen geschmissen?
TP: Es ist interessant, daß der Wurf auf den Schiedsrichter in Rom von der Ehrentribüne kam. Wenn man jemandem mit einer Münze weh tun will, muß es schon mindestens ein Euro sein. In der Kurve würde das niemand ausgeben. Das Ganze erinnert mich an einen deutschen Pressebericht, den ich einmal las, über englische Fans, die volle Bierdosen geworfen haben sollen. Ich dachte: Das kann nicht sein. Die würden nie eine Bierdose schmeißen, ohne sie vorher ausgetrunken zu haben. (…)
WamS: Frisk mag an das römische Derby zwischen dem AS und Lazio im März gedacht haben, als die Fans beider Mannschaften durch unverhohlene Gewaltdrohungen den Abbruch des Spiels provozierten.
TP: Möglich, aber die Situation damals war komplett anders. Das war vor allem eine Machtdemonstration. In dem Sinne: Wir entscheiden, ob und wann gespielt wird, und nicht das Fernsehen oder der Verband.
WamS: Danach zettelten die Fans vor dem Stadion einen Krieg mit der Polizei an. Fast nach jedem Spieltag liest man von Ausschreitungen, von demolierten Zügen.
TP: Da wird viel übertrieben. Aber sicher, der Vandalismus gehört zur Folklore des Fußballs. In unserer mobilen, individualistischen Gesellschaft gibt es die negative Nostalgie einer kriegerischen Gemeinschaft. Das Stadion erlaubt ein Dasein als Teilzeit-Taliban, auch weil die Fußballer, zumindest in Italien, selbst permanent an der Grenze zur Gewalt agieren. Das Interessanteste, was ein Fan je zu mir sagte, war nach einem besonders intensiven Spiel gegen Juventus: Von Anfang bis Ende war das Spiel eine einzige Anstiftung zur Gewalt.
WamS: In Italien scheint es besonders viele solcher Taliban zu geben. Ausgerechnet Italien, das Land von Sonne, Strand und Dolce vita …
TP: Italien ist ein gewalttätiges Land wie jedes andere europäische Land auch. Aber die tatsächliche Gewalt ist geringer, als Sie denken, während die scheinbare Gewalt in italienischen Stadien sehr hoch ist. Das hängt zusammen mit der Liebe zum Theater, zur Inszenierung, zur extremen Geste. Es gibt eine enorme Choreographie der Gewalt, mit Flaggen, Feuerwerken und so weiter. Zwei Besonderheiten kommen dazu: Die Rivalität zwischen Städten, die aus der Zeit der Stadtrepubliken im Mittelalter kommt. Und die ebenfalls geschichtliche Rivalität zwischen Faschisten und Kommunisten. Beides wurde in den Fußball absorbiert, das Spiel wurde ein Platz, wo diese Szenarien wiederaufgeführt werden. Da ist eine Menge fingierter Politik dabei. (…)
WamS: Die Ultras begannen als Kreative, als Choreographen. Jetzt sind sie gewaltsam, teils rassistisch.
TP: Komplett rassistisch. Aber ich habe noch nie physische Gewalt gegenüber Angehörigen anderer Rassen gesehen. Die geht immer gegen die gegnerischen Fans oder die Polizei. Wie auch immer, diese widerlichen Gesänge werden allmählich weniger, je mehr schwarze Kinder in italienischen Schulen aufwachsen. Nur so wird das verschwinden. Appelle helfen wenig. Ein Fan wird nämlich immer gerade das tun, was er gesagt bekommt, nicht zu tun, einfach weil das Stadion ein Ort kontrollierter Regelüberschreitung ist.