Deutsche Elf
Deutschland-Kamerun 3:0
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| Freitag, 19. November 2004Reformeifer
Michael Horeni (FAZ 19.11.) ist begeistert: “Von Beginn an setzte die Auswahl mit Reformeifer ihr forsches Aufbauprojekt 2006 fort, und alle diejenigen, die zu Amtsbeginn von Jürgen Klinsmann geargwöhnt hatten, daß sich über Aufbruchstimmung in Deutschland zwar leicht reden lasse, sie aber nicht herbeizuführen sei, sahen sich erfreulich getäuscht. Nicht nur ihm hatte der beherzte Auftritt „unglaublich Spaß“ gemacht, sondern auch dem Publikum, das den Bundestrainer und die Nationalelf für hochaktuellen Fußball mit altdeutschem Liedgut hochleben ließ. Nach dem 3:1 in Österreich, dem 1:1 gegen Brasilien sowie dem 2:0 in Iran lieferten die mit einem erstklassigen Mittelfeld, einem vorzüglichen Kapitän Michael Ballack, einer grundsoliden Jungverteidigung und wiedererwachten Stürmern ausgestatteten Deutschen den bislang eindrucksvollsten Beleg dafür, daß sie die neue Fußball-Philosophie zu verinnerlichen beginnen.“
Es bleibt einem wenig anderes, als sich jetzt schon auf das nächste Spiel zu freuen
Ludger Schulze (SZ 19.11.) auch: „Das von Klinsmann verordnete Offensivspiel wird peu à peu zum Eigenantrieb, wachsendes Selbstbewusstsein löst die Zweifel der jüngeren Vergangenheit ab. Klinsmann appelliert an die Stärken der jungen Leute und verunsichert sie nicht durch permanente Hinweise auf Schwächen. Deutlich wird das bei den Stürmern, die in Leipzig drei Viertel der Spielzeit damit verbrachten, beste Tormöglichkeiten zu vergeuden, letztlich aber doch für ein spielgerechtes Resultat sorgten. (…) Es bleibt einem wenig anderes, als sich jetzt schon auf das nächste Spiel der Nationalmannschaft zu freuen.“
Hohe Bälle schluckt er
Auf die Abwehr könne man sich verlassen, meint Philipp Selldorf (SZ 19.11.): „“Die zwei Großen hintendrin waren wie eine Festung, wie eine Mauer“, erkannte Bastian Schweinsteiger, eine Bemerkung, die zuerst auf die körperlichen Vorzüge des Duos deutet. Per Mertesacker ist – schlank, aber stabil wie ein Hochhaus – fast zwei Meter in die Höhe gewachsen, während Huth das Format eines Türstehers hat, der den Nachtklub ganz allein gegen eine Horde von Eindringlingen verteidigen könnte. Vor Huth, der noch ein viel härterer Knochen ist als er aussieht und selbst in Adiletten Bälle wie Kanonenkugeln abfeuert, fürchten sich die gegnerischen Stürmer. An Mertesacker verzweifeln sie, wenn er mit seiner enormen Reichweite riesige Gebiete verstellt. Hohe Bälle schluckt er so plötzlich wie der Leguan das nichtsahnende Insekt. Zur physischen Präsenz gesellt sich jedoch auch eine verblüffende Gelassenheit bei der Bewältigung ihrer Aufgaben.“
Schirmherr der Erneuerung
Philipp Selldorf (SZ 19.11.) lobt den DFB-Präsidenten für seinen Mut: „Klinsmann und Bierhoff sind mehr oder weniger Autodidakten, nur Joachim Löw hat sein Diplom bereits in der Praxis erprobt. Es war also eine ziemlich wagemutige Lösung, auf die sich der letztlich für ihr Engagement verantwortliche DFB-Chef Gerhard Mayer-Vorfelder eingelassen hat. Seine Courage gibt ihm nun recht. Manche werden es für paradox halten: Aber der Funktionärsveteran Mayer-Vorfelder ist der Schirmherr der Erneuerung.“
Rhetorische Gabe, um das nicht so ganz Gute gut zu reden
Jan Christian Müller (FR 19.11.) relativiert Worte und den Rausch Jürgen Klinsmanns: “Es ist im neuen Deutschland nun einmal so, dass alles, was deutsche Nationalspieler unter Klinsmann tun, irgendwie gut sein muss. Und wenn es mal eine Zeit lang nicht so ganz gut war (wie etwa 70 Minuten lang gegen Kamerun), dann reicht die rhetorische Gabe allemal, um das nicht so ganz Gute gut zu reden. Und dann wurde es ja auch irgendwann gut. Richtig gut sogar. Glaubwürdig gut. Die letzten 20 Minuten, als Kevin Kuranyi und der eingewechselte Miroslav Klose mit sehenswert herausgespielten Toren schwuppdiwupp aus einem nullnull ein dreinull machten, nahm eine gnadenlose deutsche Mannschaft die bös zerstrittenen Kameruner ohne jeden Anflug von Pietät auseinander. Ausnahmslos jeder Angriff der Deutschen führte da schnurstracks in den Strafraum. Ganz anders als noch zuvor, als die beiden deutschen Stürmer Asamoah und Kuranyi sich nach ansehnlicher Vorbereitung aus dem Mittelfeld ihrem Ziel noch seltsam ziellos und umständlich näherten. Aber die Philosophie, von der Klinsmann und sein Co Joachim Löw immer wieder sprechen, beinhaltet nun einmal keine öffentliche Kritik seitens des Trainerteams, was aus dessen Sicht auch völlig okay ist, auch wenn die rosarote Brille manchmal ziemlich penetrant wirkt. Aber es trifft vielleicht den Geist in einer Zeit in diesem Land, in der die Menschen nach positiven Erlebnissen geradezu gieren.“
„Wirklich toll, unheimlich Spaß, sehr schön“?! – Frank Ketterer (taz 19.11.) kann die Euphorie nicht verstehen: „Das waren wirklich große Worte für so ein – zumindest fußballerisch – doch eher kleines Spiel. Vor allem aber waren Klinsmann bei seiner Analyse zwei Dinge offensichtlich in Vergessenheit geraten, jedenfalls fanden sie keine Erwähnung. Erstens: Die deutsche Mannschaft hat gegen einen Gegner gewonnen, der, zumindest an diesem Tag, nicht mehr war als durch und durch verfaultes Fallobst. Zweitens: Sie hat dazu satte 71 Minuten benötigt – und bis zu diesem Zeitpunkt durchaus das ein oder andere Pfeifkonzert vom so genießenden Publikum geerntet. Natürlich ist das übelste Schwarzmalerei à la taz. Und natürlich findet sich in der sonnigen Welt des Jürgen Klinsmann für so etwas keinen Platz, nicht ein Stückchen. Dafür zum Beispiel, dass die deutsche Mannschaft unvermindert über weite Strecken des Spiels nur wenig Sinnvolles mit dem Ball anzufangen wusste, was zuvorderst Michael Ballack kein allzu gutes Zeugnis ausstellt, der zwar fleißig war, aber erneut nicht viel mehr. Oder dafür, dass die Abwehr in erster Linie deshalb stabil stand, weil der Gegner gar kein Interesse daran zeigte, unbedingt ein Tor schießen zu wollen. Oder schließlich dafür, dass die deutschen Stürmer im Prinzip erst trafen, als die Kameruner nicht nur den Angriff, sondern auch noch die Verteidigung aufgegeben hatten (wohl auch deshalb, um frischer in die Disko zu kommen, wo sie später den Rauswurf Schäfers feierten).“
Fans, Verwandte, Wichtigtuer
Javier Cáceres (SZ 19.11.) findet die Art der Entlassung Schäfers unmöglich: „Überbordend kommunikativ sind die Herrschaften von Kameruns Fußballverband Fecafoot offenbar nicht; jedenfalls nicht, wenn es darum geht, ihrem leitenden Angestellten Winfried Schäfer aus Ettlingen die nicht ganz uninteressante Kunde zu überbringen, dass er als Nationaltrainer gestürzt ist. Sechs Mann hoch waren sie in die Kabine gelaufen, mit ausnahmslos bärbeißigen Mienen und in den Manteltaschen vergrabenen Händen. Was bis dahin geschehen war: Siegfried David Etame Massoma, Minister für Jugend und Sport, hatte das Spiel im heimischen TV verfolgt, mit Schlusspfiff beim staatlichen Radiosender angerufen und mitgeteilt, dass le blond allemand entlassen sei. Ipso facto. Es folgte, wie die Korrespondenten internationaler Nachrichtenagenturen versichern, ein hochministerielles Kommuniqué, in dem Schäfers Ablösung mit „schweren Fehlern und Abwesenheit von Resultaten“ begründet wird. Nur Schäfer hatte keine Mitteilung erhalten (…) Die Pleite tat einer offenbar von langer Hand geplanten geselligen Zusammenkunft keinen Abbruch. Im Mannschaftsbus steuerten Kameruns Kicker gegen 1 Uhr eine Leipziger Disco an, eine nur fast geschlossene Teamleistung: Stürmer Samuel Eto’o wurde in der Lobby vergessen, inmitten eines Ozeans an Fans, Verwandten und Wichtigtuern mit Herrschaftswissen und vorgeblich unwissenden Funktionären. „Ich habe keine Lust auf Party“, sagte wiederum Schäfer. Wahrscheinlich hat er den einen oder anderen Toast auf das Ende seiner Ära verpasst.“ [of: Was hätte die Bild-Zeitung geschrieben, wenn das in
Deutschland passiert wäre?]
Schäfers Bilanz fällt ernüchternd aus
Jan Christian Müller (FR 19.11.) hält den Rauswurf für logisch: “Innerlich hat sich Schäfer bereits seit geraumer Zeit von seinem Söldner-Job in Kamerun verabschiedet. Das belegen seine kritischen Aussagen gegenüber der ebenso stolzen wie selbstgerechten und chaotischen Verbandsführung Kameruns. Die Funktionäre fühlten sich dadurch bloßgestellt und haben nun kalt lächelnd die einzigartige Chance genutzt, Schäfer wiederum in dessen Heimatland bloßzustellen. Zum Schluss wirkte der Fußballlehrer ebenso überfordert wie nicht erst am Ende seiner Tage in Stuttgart oder bei Tennis Borussia Berlin. Schäfers Bilanz bei der laut WM-Statistik besten Mannschaft des afrikanischen Kontinents fällt ernüchternd aus, und der deutsche Trainer macht es sich zu einfach, würde er dafür allein die afrikanische Mentalität, korrupte Funktionäre und undisziplinierte Spieler verantwortlich machen. Otto Rehhagel hat in Griechenland unter ähnlichen Bedingungen (und spürbar weniger Rückhalt in der Bevölkerung) angefangen.“
Bildstrecke, faz.net