Deutsche Elf
Geistig-sportliche Wende
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| Mittwoch, 22. Dezember 2004Michael Horeni (FAZ 22.12.) begrüßt die Klinsmann-Reform: “Der Mentalitätswechsel, den der Bundestrainer in wenigen Monaten eingeleitet hat, ist schon jetzt – wie es in der Politik heißen würde – unumkehrbar. Die äußerst strapaziöse Asien-Reise war dafür nur ein weiterer, aber sicher nicht der letzte Beleg. (…) Klinsmann ist es gelungen, die erste deutsche Fußballauswahl ganz entschieden zu befreien von vielfältigen Erstarrungen, vor denen Rudi Völler am Ende kapitulierte – ganz unabhängig vom sportlichen Ergebnis. Die Versuchung angesichts der geistig-sportlichen Wende ist jedoch groß, die Vorleistungen des gescheiterten Teamchefs zu übersehen, die den dringend nötigen Aufbruch unter dem neuen Bundestrainer erleichterten. Völler hinterließ ein intaktes Team, in dem der Verjüngungsprozeß schon angelegt, aber nicht mit der letzten Überzeugung vorangetrieben wurde.“
Erlebnis Nationalmannschaft
Thomas Kilchenstein (FR 22.12.) stimmt ein: „Knapp sechs Monate ist Jürgen Klinsmann im Amt, und eines gilt als gesichert: Die deutsche Nationalmannschaft ist wieder zu einem Erlebnis geworden – für die Spieler, die mit einiger Vorfreude zu den Spielen mit Testcharakter kommen, selbst zu der im Vorfeld fast schon verdammten Asienreise mit Zeiten- und Klimawechseln fast im Tagesrhythmus. Aber auch für die Fans.“
Wie eine einzige Marketing-Inszenierung
Jörg Kramer (Spiegel 20.12.) trennt Schein und Sein: „Die ganze Figur Klinsmann wirkt seit der Kür zum Bundestrainer wie eine einzige Marketing-Inszenierung. (…) Der als Mutmacher leicht durchschaubare Bundestrainer („Wir reden nicht von Schwächen“) präsentiert sich auch in Fernost gnadenlos optimistisch. Dass der neu engagierte Sportpsychologe Hans-Dieter Hermann „sich problemlos einarbeiten“ wird, tat er schon kund, bevor der überhaupt beim Team eingetroffen war. Mit seinen federnden Turnschuh-Schritten symbolisiert Klinsmann dauerhaft Aufbruchstimmung. Doch weil er fast immer wie ein Verkünder von Werbebotschaften klingt, wirkt er selten authentisch. Ganz toll, wie Routinier Ballack bei der Aufmunterung von Neulingen behilflich sei, schwärmte der Bundestrainer auf dem Flug nach Südkorea. Nachmittags verriet der Kapitän eher das Gegenteil: Bei dieser Art der Integrationshilfe sei er in der Regel eigentlich „zurückhaltend“. Wie kein Zweiter verkörpert Klinsmann das Werbezeitalter des Fußballs. Kein Bild aus Amerika zeigt den Junggebliebenen mit dem schwäbischen Geschäftssinn ohne das Logo seines persönlichen Sponsors aus der Kreditkartenbranche. Seine Sprache, die Bewunderer an Führungskräfteseminare und Skeptiker an Psychosekten erinnert, lebt vom gleichen Schlagworte-Pathos wie die Produktpräsentationen der Sportartikelindustrie. (…) Der Computerkurs zur Bedienung der teamintern bevorzugten Software war nicht uneingeschränkt erfolgreich. Gerald Asamoah bekannte, ohne Hilfe seiner Partnerin könne er immer noch nicht Klinsmanns E-Mails öffnen.“
Kritik wird als Vaterlandsverrat ausgelegt
Auch Frank Ketterer (taz 22.12.) warnt vor Leichtgläubigkeit: „Es ist erstaunlich, welche Klinsmania das Land Beckenbauers befallen hat. Fünf Siege in sieben Fußballspielen haben unweigerlich dazu geführt, dass der Bäckerbursche aus Stuttgart-Botnang zum heiligen Jürgen mutiert ist – und wie alle Heiligen ist natürlich auch der blonde Engel aus dem Schwabenland durch und durch sakrosankt, entsprechend wird jegliche Kritik umgehend als Vaterlandsverrat ausgelegt. Noch erstaunlicher wirkt, wie euphorisiert selbst die seriösen und vernünftigen Medien in den Chor der Klinsmann-Jünger einfallen und ihre Oden an den Schwaben verfassen, maßlose Überhöhung inbegriffen. (…) Am meisten überzeugt der Schwabe bisher in seiner Rolle als öffentlicher Schönredner.“
Testspiel ausgefallen
5:1 – Thailand, kein Gegner, findet Michael Horeni (FAZ 22.12.): “Das letzte Testspiel ist ausgefallen. Denn von einer sportlichen Prüfung konnte von der ersten Minute an bei der Begegnung mit den freundlichen, bisweilen in Bewunderung erstarrenden Nationalspielern Thailands nie die Rede sein. Das erste Länderspiel zwischen der Großmacht und dem Fußball-Zwergenstaat geriet zu einer so einseitigen Veranstaltung, daß die deutsche Reisegruppe zuvor ruhig noch einmal um den halben Globus hätte fliegen können. Sie wäre dennoch nicht in Gefahr geraten, die Partie zu verlieren.“