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Interview

Auf mich haben die sechseinhalb Jahre in Amerika einen enormen Einfluß gehabt

Oliver Fritsch | Freitag, 31. Dezember 2004 Kommentare deaktiviert für Auf mich haben die sechseinhalb Jahre in Amerika einen enormen Einfluß gehabt

Jürgen Klinsmann mit Michael Horeni (FAZ 30.12.):

FAZ: Haben Sie sich mit Ihrer Arbeit in Amerika in den vergangenen Jahren auf den Job des Bundestrainers vorbereitet, ohne es zu wissen?
JK: Ja, da ist etwas dran. In Amerika haben wir immer wieder Themen unter die Lupe genommen, die mir heute helfen: im Trainerbereich, im Funktionsbereich, in der Führung einer Mannschaft. Ich habe dadurch viel Wissen und Ideen gewonnen, ohne daß ich jemals daran dachte. Ich habe mich öfter mit den Trainern Aime Jaquet oder Carlos Alberto Parreira unterhalten, und dabei ging es immer um die Rollen der Nationalmannschaften, ohne daß ich jemals daran dachte, selbst einmal eine solche Rolle auszufüllen. Auch die Tatsache, daß ich in Amerika viel mit Wirtschaftsunternehmen zu tun hatte, mit anderen Denkweisen, sehr direkten Zielvorgaben, sehr konkreten Marschrouten und es dabei nie Zeit zu verlieren gab, hat mich unbewußt auf meine Rolle als Bundestrainer vorbereitet. Ich wußte, daß wir uns jetzt nicht in Meetings mit zehn Tagesordnungspunkten verlieren dürfen – die können wir in einer Viertelstunde im Conference Call abhandeln. Ich wußte, es geht auch anders.
FAZ: Wieviel amerikanischer ist denn die Nationalmannschaft schon geworden?
JK: Auf mich haben die sechseinhalb Jahre in Amerika einen enormen Einfluß gehabt. Ich packe Dinge an – und wenn es schiefgeht, dann geht es eben schief. Dann halte ich meinen Kopf dafür hin. Die Mannschaft hat von dieser Einstellung schon viel angenommen. Denn sie hat erkannt, daß wir unsere Arbeit auf ihren Stärken aufbauen. Wir denken permanent an sie, wir wollen Dinge für sie verbessern – aber wir wollen von ihnen auch etwas zurückhaben. Es ist ein Wechselspiel, keine Einbahnstraße. Wir erwarten, daß innerhalb der Mannschaft ein Denkprozeß stattfindet, der dazu führt, daß die Spieler von innen heraus angetrieben werden. Wir weisen immer wieder sanft darauf hin, daß sie mehr tun müssen als andere Spieler in der Bundesliga. Wir liefern ihnen dazu die Informationen – und je näher wir jetzt unserer eigentlichen Aufgabe WM 2006 kommen, desto intensiver werden wir das tun.
FAZ: Warum mangelt es im deutschen Fußball seit langem an Selbstverantwortung?
JK: Weil den Spielern zuviel abgenommen wurde. Es ist zwar im ersten Moment angenehm, wenn ich zu einem neuen Klub komme, der mir am ersten Tag gleich fünf Wohnungen zeigt, das Telefon anschließt und den Umzug dem Einwohnermeldeamt mitteilt. Aber so nimmt man den Spielern die täglichen Aufgaben weg und erzieht sie zur Unselbständigkeit. Das ist oft passiert. Davon müssen wir wegkommen, und wir sind es auch schon ein bißchen. Unser Wunsch ist, daß die Spieler die Dinge selbst in die Hand nehmen. Wir müssen sie darauf vorbereiten, daß sie im entscheidenden Moment auf dem Spielfeld im Viertelfinale einer WM einen 0:1-Rückstand wegstecken können oder sogar ein 0:2. Denn dann hilft ihnen kein Trainer mehr da draußen. Da müssen sie sich selbst helfen. (…) Mit der Art, wie wir seit Sommer Fußball spielen, verschaffen wir uns überall Respekt. Das mag den Spielern gar nicht so bewußt sein, weil sie in ihrem dichten Alltag noch so gefangen sind von Bundesliga und Champions League. Sie sehen noch gar nicht, was dieser Prozeß woanders schon auslöst. Brasilien und andere Top-Nationen beobachten uns wieder ganz anders – die schauen genau hin, was sich bei uns entwickelt. Der Respekt vor uns wächst. (…)
FAZ: Wie sieht denn der ideale Nationalspieler aus, den der Bundestrainer Klinsmann für die WM 2006 formt?
JK: Für uns ist der ideale Spieler, der aus sich selbst das Maximum herausholt – mit all seinen Eigenschaften, mit seiner ganzen Persönlichkeit. Da soll jeder so sein, wie er ist. Unser Wunsch ist, daß der Spieler mit dem Gefühl zur WM kommt: Ich bin an meinen 100 Prozent dran. Ich habe eine Entwicklung in den vergangenen zwei Jahren durchgemacht, die mich nach vorne gebracht hat – und jetzt ist es Zeit, alles abzurufen.

Alles, was ich tue, kann sich in der Öffentlichkeit niederschlagen

Michael Ballack mit Moritz-Müller-Wirth (Zeit 30.12.)
Zeit: Sie wirken, vorsichtig ausgedrückt, oft sehr überlegt. Worin liegen Ihre Bedenken?
MB: Mit der Zeit lernt man, seine Worte aufmerksam zu wählen, weil man weiß, was daraus in der Öffentlichkeit gemacht werden kann. Ich kenne die Spielregeln der Medien und ziehe daraus meine Lehren.
Zeit: Führen diese Spielregeln nicht zu einer Unaufrichtigkeit, zumindest zu einer Oberflächlichkeit im Umgang zwischen Öffentlichkeit und Sportlern?
MB: Unaufrichtigkeit geht mir zu weit. Grundsätzlich gibt sich jeder, wie er ist. Aber gewisse Abläufe haben sich so eingespielt. Klar, das ist natürlich auch oft oberflächlich. Sobald ich mich in die Nähe von Journalisten begebe, weiß ich: Alles, was ich tue, kann sich in der Öffentlichkeit niederschlagen. Und inzwischen weiß ich auch, was sich wie niederschlagen kann. Da richte ich mich danach. Das würden Sie doch auch tun, oder? (…)
Zeit: Jürgen Klinsmann fordert von seinen Spielern, insbesondere den Älteren, ein Engagement auch jenseits des Fußballplatzes, in der Gesellschaft, als Vorbilder. Können, wollen Sie dieser Rolle gerecht werden?
MB: Ich habe zu vielen Dingen eine Meinung, auch zu solchen, bei denen ich mich – ehrlich gesagt – nicht so gut auskenne. In diesen Fällen ziehe ich es vor zu schweigen, weil ich weiß, dass meine Meinung in der Öffentlichkeit wahrgenommen und auch ernst genommen werden würde. Ich habe zwar Abitur, aber meine Devise lautet: Schuster, bleib bei deinen Leisten! Ich bin Fußballer. Entwicklungen in der Gesellschaft beobachte ich aufmerksam, mit Äußerungen nach außen bin ich vorsichtig.

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