Interview
Wenn es mit Amateuren geht, funktioniert das mit jeder Mannschaft
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| Samstag, 22. Januar 2005Höchst lesenswert! Ralf Rangnick mit Christoph Biermann (SZ 22.1.) über die Einführung modernen Fußballs in Deutschland
SZ: Sie haben sich auf Ihrem Marsch durch die Institutionen einen neuen Fußball erfunden. Beim VfB Stuttgart wurde 1990 für alle Nachwuchsmannschaften die ballorientierte Raumdeckung eingeführt. Kein anderer Klub in Deutschland hat das damals gemacht, und sie steckten als Trainer der A-Jugend mit dahinter. Was wollten Sie anders machen, obwohl im Jahr des WM-Gewinns in Italien von einer Krise des deutschen Fußballs nichts zu sehen war?
RR: Der VfB Stuttgart hatte zwar viel Geld für den Nachwuchs ausgegeben und drei A-Jugendmeisterschaften hintereinander gewonnen, aber es kamen aus diesen Mannschaften keine Profis hoch. Also wurde Helmut Groß als Jugendkoordinator verpflichtet, der im Württembergischen Fußballverband ein Mentor des Trainerlehrstabs war. Ich hatte ihn 1985 kennen gelernt, und Groß hatte mich über drei Jahre in stundenlangen Gesprächen von den Vorzügen einer kompletten Raumdeckung überzeugt.
SZ: Wo hatte Groß das gelernt?
RR: Nirgends. Er ist Diplomingenieur, arbeitet als Brückenbauer und ist immer ein analytischer Mensch gewesen. Er hatte Videos ausländischer Klubs studiert und seine Erkenntnisse im Amateurfußball sehr erfolgreich umgesetzt.
SZ: Wie hießen die großen Vorbilder?
RR: Wir hatten seit Mitte der achtziger Jahre mit Viktoria Backnang jedes Jahr gegen Dynamo Kiew gespielt, wenn die ihr Wintertrainingslager in der Sportschule Ruit gemacht haben. Ich war als Spielertrainer dabei und habe während der ersten Partie angefangen, deren Spieler zu zählen. Ich dachte, die hätten zwei Mann mehr auf dem Platz. Wir hatten zwar schon gegen Profis gespielt, aber so was hatten wir noch nicht erlebt: Man hatte ständig zwei, drei Gegenspieler. In unserem Fußball gab es das nicht, wir spielten in Manndeckung – ein Mann gegen einen anderen.
SZ: Sie hatten Ihr Erweckungserlebnis.
RR: So ähnlich war das. Ich bin dann immer gekommen, wenn Valerij Lobanowski mit Kiew in Ruit war und habe mir deren Training angeschaut. Die haben gespielt wie niemand sonst. Der Hamburger SV hatte unter Happel zwar auch ansatzweise Pressing gespielt, sich dabei aber nur quer verschoben. Kiew tat das auch nach vorne.
SZ: Was konnten Sie denn als Amateurtrainer von den Spielern lernen, die 1988 bis ins Finale der Europameisterschaft kamen?
RR: Das habe ich mit Helmut Groß auch diskutiert und dann als Trainer beim Landesligisten in Korb in der Winterpause 1988/89 auf Raumdeckung umgestellt. Anschließend haben wir nur noch zweimal verloren, und mir war klar: Wenn es mit Amateuren geht, die nebenbei noch arbeiten, funktioniert das mit jeder Mannschaft.
SZ: Da steckten Anfang der neunziger Jahre also ein paar schwäbische Amateur- und Nachwuchstrainer die Köpfe zusammen und bildeten eine Art Untergrundzelle des anderen Fußballs?
RR: Wir wurden jedenfalls als ein komisches Grüppchen angesehen, und ein wenig waren wir das auch. Es gab schließlich keine Bücher, jedenfalls keine für uns zugängliche, also mussten wir Theorie und Praxis der ballorientierten Raumdeckung selbst erarbeiten. Außerdem haben wir Videos zusammengeschnitten mit Spielen vom AC Mailand unter Arrigo Sacchi oder der russischen Nationalelf, um den Leuten zu zeigen, dass es so was wirklich gibt und wir uns das nicht nur ausgesponnen haben.
Wir haben ein Fußball-Philosphie-Problem
Sehr lesenswert! Ewald Lienen mit Thomas Kilchenstein & Frank Hellmann (FR 22.1.)
FR: Würden Sie nicht manchmal ganz gerne mit uns Journalisten tauschen?
EL: Auf die Idee bin ich noch nie gekommen. Warum sollte ich?
FR: Sie säßen bequem in der Schreibstube, hätten Macht und wüssten alles besser.
EL: Ja, aber dann müsste ich ja jeden Tag was schreiben, was sich vielleicht gar nicht ereignet hat. Ich denke, dass der Sport und die Medien zusammenarbeiten sollten. Kritik muss immer auf der Basis gegenseitigen Respekts geäußert werden, was nicht immer der Fall ist. Es ist für Trainer unglaublich schwierig, Spieler auf ihr höchstes Leistungsniveau zu heben, wenn sie, Trainer wie Spieler, vorher auf beleidigende Art und Weise kritisiert worden sind. (…)
FR: Kommen wir zur WM 2006. Da wird gesprochen von einem identitätsstiftenden Charakter, den dieses Ereignis hat. Von Nationalstolz ist die Rede. Wird der Fußball da nicht unzulässig missbraucht?
EL: Von dieser WM werden sicherlich sehr viele Anregungen ausgehen. Die WM ist auch eine große Chance, über unseren Fußball nachzudenken, über unsere Fußball-Philosophie. Mir wird bei Länderspielen immer zu sehr das Ergebnis in den Vordergrund gestellt. Die deutsche Nationalmannschaft war dann bei Turnieren erfolgreich, wenn sie nicht an der Spitze der technisch-taktischen Entwicklung stand. Wir müssen Jahre zurückdenken, ehe man sagen kann, die Nationalmannschaft war zumindest gleichwertig mit Teams wie Brasilien, Argentinien, Italien oder Frankreich.
FR: Wie kommt man wieder auf den alten Stand?
EL: Wir haben ein Ausbildungsproblem, und wir haben ein Fußball-Philosphie-Problem. Wir dürfen nicht nur ergebnisorientiert schauen. Es stört mich jetzt schon wieder, dass jeder nur davon redet: Wir müssen Weltmeister werden. Was mich interessiert: dass wir wieder guten Fußball spielen. Der DFB ist der größte Verband mit den meisten Fußballern, normalerweise müssten wir, wenn wir es richtig anstellen, die beste Mannschaft der Welt haben. So eine Weltmeisterschaft wäre eine gute Gelegenheit zu sagen: die technische Ausbildung ist wichtig, die Qualität ist wichtig, die Fußball-Philosophie ist wichtig und nicht: Wir müssen gewinnen um jeden Preis.
FR: Sie können sich doch vor einer WM nicht hinstellen und sagen, egal wie wir abschneiden, Hauptsache wir spielen schön?
EL: Nein. Als verantwortlicher Trainer muss ich das natürlich als Ziel ausgeben. Aber eine WM als Event würde ich dazu nutzen, auch die Strukturen zu verbessern. Es geht um die Qualität der Trainer und der Förderung der Top-Spieler. Die Top-Talente mit 12, 13, 14 Jahren muss man drei Mal am Tag über den Platz scheuchen. Was passiert dann bei dem momentanen Förderprinzip? Da finden wir nach dem Gießkannenprinzip das eine Talent in Hintertupfingen, dann geht es zum Stützpunkt und macht ein Training in der Woche mehr. Ich rede davon, dass man jeden Tag ein Training mehr machen muss. Warum überholen uns die Schweizer links und rechts? Weil sie seit zehn Jahren ein vom Staat gepuschtes System haben, weil die eine Topausbildung kriegen. Bei uns müssen Klimmzüge gemacht werden, dass ein Talent mal für ein, zwei Stunden aus der Schule herausgeholt wird. Das ist albern und lächerlich. So lange wir das nicht ändern, werden wir den Anschluss nicht schaffen.