Interview
Das ist Entwicklung, das ist Kontinuität
Kommentare deaktiviert für Das ist Entwicklung, das ist Kontinuität
| Mittwoch, 22. Juni 2005Sehr, sehr lesenswert! Urs Siegenthaler mit Michael Ashelm & Michael Horeni (FAZ 21.6.)
FAZ: Warum haben Länder wie Argentinien oder Italien eine so große Tradition in Sachen Taktik, während Deutschland hinterherhinkt?
US: Wenn mein Geschäft jedes Jahr gut läuft, dann will man nichts ändern. Wenn dann erstmals eine Flaute kommt, hat man rasch eine Erklärung parat. Im ersten Jahr ging die Konjunktur zurück, im zweiten waren zwei wichtige Mitarbeiter krank, im dritten Jahr sagt man: Wir haben noch was im petto, wir arbeiten daran. Und wenn Sie beim DFB in die Zentrale kommen, sind Sie erst einmal beeindruckt von den steinernen Siegestafeln, die da stehen. Und dann kommt da der kleine Schweizer und sagt: Moment mal, macht doch mal einen Strich im Jahr 1998 – und schaut, was danach noch auf den Steinen steht. Das kann ein Problem sein. Aber nun ist ein absoluter Glücksfall eingetreten, daß jemand für die Nationalmannschaft verantwortlich ist, der die Bereitschaft mitbringt, etwas zu ändern – und das Risiko eingeht, etwas falsch zu machen.
FAZ: Ist die Bereitschaft in anderen Ländern zu Veränderungen größer?
US: Ja. Jürgen Klinsmann hat mich zum Beispiel, als Mayer-Vorfelder dabei war, um die Einschätzung nach einem bestimmten deutschen Spieler gefragt. Das ist eigentlich gar nicht meine Aufgabe, ich beobachte ja die anderen Teams. Ich sagte: Weißt du was, Jürgen. Rufe die Engländer an! Die haben seit vier Jahren drei oder vier Leute dafür abgestellt. Die Engländer kennen unsere Spieler besser als wir. Ich habe Mayer-Vorfelder und dem Trainerstab Bilder von Argentinien aus einem Zeitraum von acht Jahren gezeigt. Die Szenen waren nahezu deckungsgleich, es waren fast die gleichen Spieler, die früher in der U20 Weltmeister wurden und heute in der Nationalelf spielen. Da habe ich zu Herrn Mayer-Vorfelder gesagt: Das ist Entwicklung, das ist Kontinuität. Die Argentinier rennen heute nicht, weil sie gegen Deutschland oder Brasilien spielen. Die rennen seit acht Jahren so. Das ist die Pekerman-Schule. Wenn sich jetzt in Deutschland drei, vier Leute zusammensetzen, um sich Gedanken zu machen, für den deutschen Fußball eine eigene Philosophie und Ausbildungsstrategie zu entwickeln, dann hätte ich mehr als meinen Dienst getan. (…) Die Franzosen haben einen wunderbaren Spruch: Wir brauchen nicht die Bekanntesten, sondern die Geeignetsten. Bei denen sitzen keine Platinis, da sitzen zwanzig Siegenthalers. Die kennt kein Mensch. Pekerman hat auch niemand gekannt, Mourinho vor vier Jahren auch nicht.
FAZ: Sie wurden als Schweizer nicht gerade freundlich in Deutschland aufgenommen.
US: Die Kritik bei meiner Anstellung hat mir ein bißchen weh getan. Man sollte niemanden verurteilen, bevor man seine Arbeit gesehen hat. Wenn bei uns in der Schweiz einer aus Lettland in einem Chemiekonzern arbeitet, würde kein Schweizer sagen: Warum arbeitet der bei uns? Wir sagen: Wenn der aus Lettland bei uns einen Job bekommt, dann muß er gut sein.
FAZ: In Deutschland haben Sie zumindest viel Arbeit vor sich.
US: Jürgen ist manchmal enttäuscht, weil es so langsam vorangeht. Da sage ich: Jürgen, die Franzosen haben sich 1966 nicht für die WM qualifiziert. Danach entschieden sie sich, was zu ändern. 1984 gewannen sie den ersten Titel. Es dauert 18 Jahre.
FAZ: Und wie schaut Jürgen Klinsmann dann?
US: Er will es nicht glauben.
FR-Portrait Siegenthaler