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Wohnsitzdebatte

Oliver Fritsch | Montag, 24. Oktober 2005 Kommentare deaktiviert für Wohnsitzdebatte

Nachdem die Wohnsitzdebatte ruht, streitet Fußball-Deutschland nun, wenn auch nicht so laut, um Jürgen Klinsmanns Fitness-Training. Die alte Vermutung vieler (leiser) Experten und Beobachter, dass viele Fußball-Bundesligisten Ausdauer, Kraft und Schnelligkeit unschematisch trainierten, scheint sich zu bewahrheiten. In den Zeitungen liest man vermehrt Interviews mit Wissenschaftlern, Ex-Profis und Trainer anderer Sportarten über Konditionstraining; dieser Trend wird sich sicher fortsetzen, wir stehen am Anfang einer Debatte. Wenig überraschend: Fußballtraining, das ist nichts neues, wird von Volleyballern, Leichtathleten und Schwimmern schon immer belacht. Zuletzt: Nachdem die Bild-Zeitung Klinsmann tagelang seinen Wohnsitz auf ganzen Seiten sowie in Schlagzeilen und Fotos vorgehalten hat, finden wir am Samstag in ihren Meldungen versteckt: „Klinsmann macht nach 2006 weiter“.

Kopfschütteln

Die Bild am Sonntag nennt Forderungen wichtiger Bundesliga-Manager an Klinsmann; Peter Penders (FAZ) hält das für Kleingeisterei und fordert Konzentration auf Wesentliches: „Will man Bild glauben, was gerade bei diesem Thema besonders schwer fällt, dann gibt es vier Punkte, die den Bundesligavertretern besonders am Herzen liegen: Klinsmann soll die Vorschläge erfahrener Manager prüfen und ernst nehmen, einen regelmäßigen Runden Tisch installieren, den Trainingsumfang vor der WM absprechen und Schluß machen mit öffentlichen Schuldzuweisungen. Mit anderen Worten: Klinsmann soll eine Marionette werden und den Mund halten. (…) Warum sollte Klinsmann auf Manager hören, wenn diese ihre Ratschläge mit hochrotem Kopf in Mikrofone schreien wie zuletzt Uli Hoeneß? Sprechen eigentlich alle Nationaltrainer Europas und Südamerikas ihren Trainingsumfang mit den Bundesligavereinen ab? Wer macht zuerst Schluß mit Schuldzuweisungen, und wer sollte nicht nachtragend sein, Uli Hoeneß oder Klinsmann? Es wäre zu wünschen, daß Platz entstünde für eine andere Diskussion – eine, in der es tatsächlich eine thematische Auseinandersetzung über die Qualität des Fußballtrainings gibt. Derzeit hat Klinsmann die Fachleute der Bundesliga gegen sich. Auf seiner Seite stehen dafür Sportwissenschaftler und viele Kollegen aus anderen Sportarten, die über diesen Streit entweder den Kopf schütteln oder sich köstlich amüsieren.“

Extreme Defizite

Frank Hellmann (FR) stellt die Doktorarbeit Pedro Gonzalez’ vor, der die Trainingssteuerung in fünfzehn Bundesligavereinen untersucht hat: „Das Ergebnis rückt die Liga in ein schlechtes Licht. Mit wenigen Ausnahmen (Schalke 04, Hamburger SV) fällt das Urteil niederschmetternd aus. Es gibt zu wenige Konditionstrainer, es wird falsch trainiert, es fehlt an Leistungstests in den Bereichen Sprint, Sprung und Kraft und sogar an Gerätschaften. Gonzalez war bei der Bestandsaufnahme mitunter schockiert (…) Die Untersuchung kommt zur rechten Zeit: Stützt sie doch das Ansinnen von Jürgen Klinsmann, den Fitnesszustand seiner Kandidaten mittels eigenwilliger Übungen und eigens aus den USA eingeflogener Experten zu verbessern. Die öffentlich gewordenen Ergebnisse der Fitnesstests zeigen, dass etliche Nationalspieler extreme Defizite aufweisen. (…) Die verkrusteten deutschen Strukturen sind nur schwer aufzubrechen.“

Die Bundesliga hinkt hinter der internationalen Konkurrenz hinterher

In einem Interview mit der FR stärkt Pedro Gonzalez Klinsmanns Rücken: „Klinsmann hat es begriffen, dass Kondition in separaten Blöcken trainiert werden muss, dass individuelle Hausaufgaben dazugehören. Die Bundesliga hinkt, was Trainingsinhalte, -personal und -ausstattung angeht, teilweise hinter der internationalen Konkurrenz hinterher. (…) Zwar ist die DFB-Trainerausbildung sehr gut, was den fußballerischen, den technisch-taktischen Bereich betrifft. Doch Kondition und Prävention werden nicht optimal bearbeitet – das Wissen, das Sportinstitute oder Sportprofessoren besitzen, findet keinen Zugang zum Fußball. Wer einmal sein Diplom hat, bekommt danach die Änderungen nicht mehr mit, die Verlängerung der Lizenz beim Bund Deutscher Fußball-Lehrer ist eine Witzveranstaltung. Ja! Und noch etwas: Die meisten Trainer sind ehemalige Spieler, viele davon haben nicht einmal einen Hörsaal von innen gesehen. Der DFB ist zwar der größte Sportverband der Welt, aber der einzige, der nicht einmal ein zentrales Leistungszentrum besitzt, in dem sich standardisierte Fitnesstests durchführen ließen. Und wissen Sie, was auch schlimm ist? Wenn wir bei der WM früh ausscheiden, dann werden genau diese notwendigen Fitnesstests wieder verdammt und für Unfug erklärt. Dabei sind die wissenschaftlichen Kriterien unbestechlich, nur können sie den Ball allein nicht ins Tor bringen.“

Fachdiskussion

Vor dem „Gipfeltreffen“ zwischen Bundestrainer und Bundesliga widmet sich Jörg Kramer (Spiegel) der Debatte um Klinsmanns Fitness-Training: „Im Streit um seine Präsenz wird Jürgen Klinsmann einlenken, bei den Trainingsinhalten nicht. (…) Hintergrund der Dissonanzen in Fragen des Taktes ist jedoch eine handfeste Kontroverse über Trainingsmethoden. Ralf Rangnick, der sich über hohe Belastung seiner gestressten Spieler bei Übungseinheiten der Nationalmannschaft beschwerte, geht es ‚um eine Fachdiskussion’. Gegen die Belange des DFB-Teams, dessen Auswahlspieler seit Monaten einer speziellen WM-Fitness entgegengetrimmt werden, habe er nichts. Gegen Hausaufgaben, die auch Brasilianer von ihrem Nationalcoach aufgebürdet bekommen, sei ebenso wenig etwas einzuwenden, meint Rangnick. Die Frage sei bloß, wann und unter wessen Obhut solches Zusatztraining absolviert werden muss. (…) Mittlerweile mehren sich jedoch in der Liga vernehmbar die Zweifel, ob der Berufsanfänger Klinsmann von seinem Ansatz her richtig liegt.“

Irgendwann war ich ein anderer Spieler

Die FAZ führt Bernd Hollerbach ins Feld, nun Trainer des Hamburger Verbandsligisten VfL 93. Er gibt Rückblick in sein Training als Profi: „Ich habe beim FC St. Pauli in der zweiten Liga gespielt. Das hat mir irgendwann nicht gereicht, ich wollte in die Bundesliga. Diesem Ziel habe ich alles untergeordnet. Also habe ich mir einen Zweijahresplan gemacht, mein Privatleben umgestellt und einen privaten Fitnesstrainer verpflichtet. Ich habe das gut verkraftet. Natürlich muß man entsprechend leben. Man muß sich ausruhen. Irgendwann gewöhnt man sich daran. Das war ein Prozeß, irgendwann war ich topfit, ein anderer Spieler. Fußball macht erst richtig Spaß, wenn man sich wehren kann, wenn man etwas zuzusetzen hat. Außerdem ist man weniger verletzungsanfällig.“ Auf die Frage, ob in der Bundesliga umfangreich genug trainiert werde, sagt Hollerbach: „Es reicht nicht. Für mich sind zwei Trainingseinheiten am Tag selbstverständlich. So selbstverständlich, wie andere Menschen acht oder neun Stunden am Tag arbeiten.“

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