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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Alles zuzutrauen – oder nichts

Oliver Fritsch | Montag, 14. November 2005 Kommentare deaktiviert für Alles zuzutrauen – oder nichts

Nach dem 0:0 in Frankreich – maßvolles Lob für die deutsche Mannschaft und für Klinsmann in der Presse: „Leidenschaft und der Selbstbehauptungswille sind wieder zurückgekehrt“, freut sich die FAZ. Die BLZ erlebt einen „gefühlten Sieg“. Die NZZ bescheinigt eine „Rehabilitation des Klinsmann-Ensembles“. Allein die taz verweist auf die angeblich schwache Form des Gegners: „Eine müde französische Nationalmannschaft kommt über ein 0:0 nicht hinaus.“ Andreas Lesch (BLZ) erlebt einen neuen Wesenszug der deutschen Mannschaft: „Bisher hatten Klinsmanns Spieler entweder aufregend offensiv 4:3 gespielt oder sie hatten rumpelnder Weise 0:2 verloren. Für eine Partie ohne Tore schienen sie vorn zu stark und hinten zu schwach zu sein. Insofern war das 0:0 eine kleine Sensation und gleichzeitig der Beweis, dass dieser Mannschaft bei der WM alles zuzutrauen ist – oder nichts. Weiterhin sind keine verlässlichen Aussagen darüber möglich, wie stark Klinsmanns Elf wirklich ist; dafür sind ihre Leistungsschwankungen zu extrem, dafür sucht sie zu sehr ihre Mitte. Gegen Frankreich deutete sie an, dass sie eine konsequente Defensivarbeit durchaus beherrscht.“ Michael Horeni (FAZ) blickt mit vorsichtigem Optimismus nach vorne: „Ein Favorit auf den Titel wird diese Mannschaft nicht werden. Dafür fehlen ihr Erfahrung und neben Kapitän Ballack mindestens eine weitere spielentscheidende Figur. Aber immerhin hat der Bundestrainer wieder an Glaubwürdigkeit gewonnen, daß er und sein Team auf ihrem Weg wie angekündigt mit Rückschlägen fertig werden können. Und daß die leichten Sommertage beim Confederations Cup nicht der einzige und zugleich letzte Höhepunkt in der Ära Klinsmann bleiben müssen, ist zumindest wieder eine zarte Hoffnung.“

Von nun an mögen alle schweigen

Im Blick der Journalisten bleiben die Klinsmann-Kritiker vom deutschen Fußball-Stammtisch. Welche Folgen wird das Frankreich-Spiel haben, werden schließlich nun fast vier Monate bis zum nächsten vergehen? Andreas Burkert (SZ) mahnt die Nörgler zur Ruhe: „90 torlose Minuten bei einem ebenfalls von Selbstzweifeln geplagten Gegner haben ausgereicht, um jetzt eine friedvolle Winterpause einlegen zu können. Klinsmanns Mannschaft hat sich in einer diffizilen Drucksituation so präsentiert, wie sich ein bedrängter Cheftrainer das wünscht für einen wegweisenden Auftritt: patent, leidenschaftlich und mit einer Spielidee. Dem Bundestrainer sollte das Recht zugestanden werden, die nächsten 207 Tage nach seiner Façon arbeiten zu dürfen. Was seinen Kritikern nicht passt an Stil und Inhalt, haben sie ja hinlänglich kundgetan, und Klinsmann hat Konsequenzen gezogen, soweit dies sein Ego zuließ. Deshalb mögen von nun an alle schweigen im Land der Großen Koalition, auf das nicht nur ein Jahr großer Belastungen wartet. Sondern ebenso eine großartige Chance zur Selbstbefreiung.“ Mathias Schneider (StZ) ergänzt: „Nach dem ordentlichen 0:0 wird Klinsmann die Arbeit wieder mit etwas mehr Ruhe angehen können. Kritiker wie Franz Beckenbauer oder Uli Hoeneß sind erst mal verstummt. Das dürfte die wichtigste Errungenschaft sein.“

Herrscher auf dem Platz

Großer Beifall für Michael Ballack von allen Seiten: „Bundesrepublik Ballack“, schreibt die SZ in ihre Überschrift, die FAZ adelt ihn: „Ballack, Herrscher auf dem Platz – Patron und Kämpfer“. Hartmut Scherzer (FAZ) gewährt Ballack großen Respekt: „Der Auftritt des deutschen Kapitäns im Hoheitsgebiet und Ruhmesstadion Zidanes verdient das Prädikat Weltklasse. Wiewohl angeschlagen, kämpfte er sich durch und lenkte den bemerkenswerten Auftritt der Deutschen. (…) Deutschland gewann die ermutigende Erkenntnis, daß das Land in Michael Ballack eine der großen europäischen Fußballfiguren hat.“

Dirigent hinter der Abwehr

Auffällig: In der Abonnement-Presse sammelt Jens Lehmann Punkte. Ihm bescheinigen die Autoren unsichtbaren Einfluss auf die gute Abwehrleistung, er wird bei der Bewertung der Mannschaft zum gefragten Spieler, nicht nur die Abwehr betreffend. Die FAS veröffentlicht einen Statistikvergleich mit Oliver Kahn, der sehr zu Lehmanns Gunst ausfällt. Bild hingegen hat sich am Samstag wieder einmal zu einer Tölpelei hinreißen lassen: „Die Franzosen verhöhnen Lehmann“, steht in der fetten Schlagzeile. Im Text erfahren wir dann, was Bild mit den „Franzosen“ meint, nämlich Willy Sagnol, Mannschaftskollege des Lehmann-Konkurrenten. Im Text erfahren wir auch, was Bild unter „verhöhnen“ versteht, nämlich den sinngemäßen Kommentar Sagnols, er halte Kahn für den besseren Torhüter. Michael Horeni (FAS) rechnet: „Wenn es nur nach der Statistik ginge, müßte sich Lehmann nicht um seinen Stammplatz bei der WM sorgen. Der Torwart von Arsenal mußte bei seinen bisherigen zehn Einsätzen unter Klinsmann im Schnitt nur alle 86 Minuten einen Gegentreffer hinnehmen, Kahn alle 56 Minuten. Das sind umgerechnet 1,05 gegenüber 1,61 Gegentreffer pro Spiel. Aber Lehmann machte klar, daß nicht nur Zahlen für ihn sprechen (dazu schwieg er), sondern daß er die offensive Spielphilosophie, die Klinsmann fördert, auch als Torwart vollständig unterstützt. Im Gegensatz zu Kahn, der sich immer wieder als bedingungsloser Verfechter einer starken Defensive zu erkennen gibt und Gegentreffer mitunter wie persönliche Beleidigungen erlebt.“

Die FAZ schätzt Lehmanns Fortbildung im Ausland und sein Wort: „Taktikfreund Lehmann schwärmte von der besten Leistung ‚einer deutschen Abwehr seit vielen Jahren’. Er hatte als Dirigent hinter der Abwehr immer wieder seine Stimme mit ihm Spiel, seine Hände mußte er angesichts der klugen Raumaufteilung und der frühen Attacken im Mittelfeld weit seltener als erwartet einsetzen. ‚Wir haben eine Verteidigung, die es nicht so gewohnt ist, so zu spielen, wie wir heute gespielt haben. Das war daher ein sehr wichtiges Spiel für uns – denn sie haben gesehen, daß man erfolgreich sein kann, wenn man das Spiel auf 30 Meter hält, wenn man nicht zurückweicht und die Jungs auf einer Linie bleiben’, sagte Lehmann nach seinem erfolgreichen, ‚aber anstrengenden’ Koordinierungseinsatz für die Viererkette. ‚Wir haben einmal ein sehr gutes Abseits gestellt. Da sehen die Abwehrspieler: Hey, es klappt. Das ist eine Art Belohnung für eine gute Organisation. Und wenn wir das weiter so spielen, werden auch die Ergebnisse attraktiver für uns.’“ Dem Tagesspiegel sagt Lehmann: „Für die Öffentlichkeit zählt, dass der Torwart sich durch Paraden auszeichnet. Für mich zählt, dass ich keinen drauf kriege. Und das ist gegen Frankreich fast perfekt gelaufen. Die Trainer sehen das auch.“

Die Öffentlichkeit wird von Leuten geprägt, die Oliver Kahn unterstützen

SZ-Interview (vom Samstag) mit Lehmann
JL: Ich darf wohl behaupten, dass ich seit drei Jahren auf einem konstanten und in diesem Jahr auf einem hervorragenden Niveau ohne Fehler gespielt habe. Jetzt muss ich nur abwarten, wie die Wahrnehmung der Trainer ist.
SZ: Müssen Sie denn nicht auch die Fans und die Öffentlichkeit auf Ihre Seite bringen?
JL: Bei der Öffentlichkeit ist es schwer, weil sie auch von Leuten geprägt wird, die dem FC Bayern München nahe stehen und Oliver Kahn unterstützen.
SZ: Spielt das wirklich eine so große Rolle?
JL: Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge kommen jede Woche mit der Forderung für Kahn. Paul Breitner, den ich gerne lese, obwohl er nicht unbedingt vorteilhaft über mich schreibt, tendiert auch dahin. Franz Beckenbauer bin ich jedoch dankbar, obwohl er sagt, dass Kahn der beste deutsche Torwart und die Nummer eins im Nationalteam ist.
SZ: Warum?
JL: Er benutzt ein Argument, nach dem Spitzenklubs im Ausland ihre Torleute verpflichten: Er sagte, dass ich bei jeder Flanke herauskomme und Oliver Kahn nicht. Diese ausländischen Klubs schauen nur danach, ob ein Torwart bei Flanken gut ist und das Spiel lesen kann. Dass Torhüter auf der Linie gut sind, wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Von daher glaube ich an meine Chancen.
SZ: Wenn man sich eine Reihe von Umfragen bei Fußballfans anschaut, haben Sie das Publikum aber nicht für sich gewinnen können. Obwohl Kahn vielen Fans auf die Nerven geht, ist er immer noch populärer als Sie. Haben Sie diesbezüglich eine Chance verpasst?
JL: Das kann durchaus sein, mein Image könnte besser sein. Aber ich bin kein Typ wie zum Beispiel Rudi Völler, den alle mögen. Ich bin Torwart. Während eines Spiels kann ich mich weder entspannen noch lachen. Das Spiel ist so schnell und intensiv, da geht das leider nicht.
SZ: Gibt es im Fußball keine heiteren Spitzentorhüter?
JL: Ich glaube nicht, denn das ist harte Arbeit. Selbst nach einem gewonnenen Spiel braucht man lange, um ein bisschen runterzukommen.
SZ: Sie sind also in der Zwickmühle: Entweder kommen Sie nett rüber und halten nicht mehr so gut, oder Sie halten das Niveau und wirken verbissen. Sollten Sie dann wenigstens extrovertierter spielen?
JL: Das habe ich doch früher, aber mein Weg zum Erfolg ist ein anderer. Außerdem wird ein Torwart, der ständig rauskommt, abwinkt und herumgestikuliert, irgendwann als lächerlich empfunden. Solche Gesten signalisieren dem Gegner: Bei denen stimmt was nicht. Es sind Einladungen an die andere Mannschaft und ist also psychologisch dumm. (…) Arsène Wenger will einen Torhüter, der zu seinem Spielsystem passt. Da wir viel in des Gegners Hälfte spielen, muss ich mitunter sehr weit aus dem Tor kommen und wie eine Art Libero spielen. Ich denke, dass ich das gut beherrsche, sonst würde ich im Alter von 36 Jahren nicht immer noch bei einem tollen Klub im Tor stehen.

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