Bundesliga
Istanbul ist überall
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| Montag, 5. Dezember 2005Wurfgeschosse und Ellenbogenschläge in Hamburg und Mönchengladbach – die Kommentatoren erkennen ihre Bundesliga an diesem „schmutzigen Samstag“ nicht wieder, „das Image des Fußballs hat einige dicke Flecken abbekommen“ (FAZ). Welche Ursache hat die Gewalt, wie ist sie zu dämmen? Die Autoren blicken ins Ausland. Thomas Haid (StZ) mahnt die Deutschen, vor ihrer Haustür zu kehren: „Groß war die internationale Empörung, als die Schweizer Nationalmannschaft im Fenerbahce-Stadion bepöbelt und körperlich attackiert wurde. Aber spätestens seit Samstag weiß es wieder jeder: Istanbul ist überall.“ Wie sind die gerufenen Geister wieder loszuwerden, Markus Lotter (Welt)? „Es ist der Preis für die gute Stimmung. Die reinen Fußballstadien – aus dem Boden gestampft, um die Emotionalisierung des Erlebnisses zu befeuern – ohne Zäune, laut beschallt wie Diskotheken, werden zu Stätten der Hysterie. Die Baupläne sahen allerdings nicht vor, daß die renditeträchtigen Dampfkessel überkochen können. Daß vor allem das Stadion ein Ort ist, wo Menschen ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Vernünftig will hier niemand sein. Nähe ist in diesem Moment fatal. Also werden sich die Fußballmacher hierzulande vielleicht an England orientieren: Dort wurde mit hohen Eintrittspreisen, reinen Sitzplatzstadien und schikanösen Überwachungssystemen diszipliniert. Die Folge: Viele gutbetuchte Zuschauer gefährden dort seitdem die Stimmung.“
VfB Stuttgart – Bayern München 0:0
Mittelmäßigkeit
Die Beobachter können sich kaum wach halten. Auch zehn Bayern hätten sie einen Torschuss zugetraut, und von Stuttgart hätten sie erwartet, dass es die Gelegenheit gegen zehn Bayern nutzt, einen Befreiungsschlag zu setzen; seinem Trainer werfen sie Verzagtheit vor: „Trapattoni ist der Vater der Porzellankiste“, hänselt die Stuttgarter Zeitung. Auf der Tribüne friert Andreas Burkert (SZ): „Nach dem Wechsel legten die dezimierten Münchner eine Genügsamkeit an den Tag, die an den kühlsten Verwaltungsfußball vergangener Zeiten erinnerte, welcher in der Ära Magath auf immer und ewig ausgerottet schien. Die Gastgeber wiederum wirkten gegen einen zurückhaltenden Gegner weder forscher noch phantasievoller als zuvor.“ Peter Heß (FAZ) vergibt – immerhin – den Preis für den besten Darsteller: „Auch Sebastian Deisler vermochte den Südschlager durch seinen Einsatz nicht vor der Mittelmäßigkeit zu bewahren. Aber seine Vorführung eines Fußballbösewichts sorgte wenigstens für einen Moment im Spiel, der über den Schlußvorhang nachwirkte. (…) Wie beliebt der ansonsten untadelige Mittelfeldspieler ist, wurde an den milden Reaktionen auf seinen Aussetzer deutlich.“
Was sagen die Offiziellen nach dem Spiel? Viel Unsinn, meinen die Journalisten. Oliver Trust (taz) wundert sich über die Freude aller Beteiligten: „Die Kommentare waren geprägt von Sanftmut und Verständnis, für jeden, Freund und Feind. Es war der Abend der Komplimente und jeder schien froh, unbeschadet aus dem Spiel gekommen zu sein.“ Peter Heß (FAZ) ärgert sich über Beschönigung: „Es war ein Nachmittag, an dem der Begriff Wahrheit wieder einmal so gedehnt wurde, daß am Ende nur noch eine ganz dünne Haut die Blase zusammenhielt. Das 0:0 im vermeintlichen Spitzenspiel ließ verschiedene Interpretationen zu, was bei einem unentschiedenen Ausgang in der Natur der Sache liegt. Aber es streifte schon den Tatbestand der Dreistigkeit, wie die Trainer und Spieler dieses Spiel zu ihren Gunsten drehten und wendeten. Die ungeschönte Wahrheit vorneweg: Der Südschlager zog sich wie Kaugummi. (…) Die Bayern taten sich vor allem dadurch hervor, daß sie sich in die Stuttgarter Vereinspolitik einmischten.“ Eine dreiste Forderung müssen wir von Felix Magath lesen, eine Sperre für Deisler sei unnötig: ‚Wieso sollte noch eine andere Mannschaft von Sebastians Vergehen profitieren?’ Das DFB-Gericht solle doch auch einmal an die Nationalmannschaft denken und den Aufwärtstrend des Hoffnungsträgers für die WM 2006 nicht stören. ‚Nur ich soll immer an die Nationalmannschaft denken.’“ Da fehlen einem die Worte.
Unaufstellbare Elf
Lethargie hat in Stuttgart Unmut und Kritik abgelöst, zumal wir Meinungen lesen, wenn auch vereinzelt, die Trapattoni in Schutz nehmen. Etwa Christof Kneer (SZ), der auf einen Mangel im Stuttgarter Kader hinweisend: „Aus dem VfB ist eine unaufstellbare Elf geworden, vermutlich ist das der Grund, warum Trapattoni bis heute an der Formation herumdoktert. Ein fehlkonstruierter Kader ist nichts Neues in der Liga, neu aber ist, dass die Verantwortlichen sich häuslich einrichten in ihrer Unvollständigkeit. (…) Erwin Staudt weiß nur zu gut, dass seine nächste Trainerentscheidung sitzen muss, da zögert er sie lieber ein wenig hinaus. So hat sich ein leidenschaftsloser Aussitzreflex breit gemacht im Klub, auch auf den Rängen ist die Ablehnung in Neutralität umgeschlagen. Trapattoni wird nicht beschimpft, Trapattoni wird nicht bejubelt. Er ist jetzt einfach nur noch da.“ Peter Heß (FAZ) schwankt zwischen Klage und Lob für den „Unverstandenen: Trapattoni liebt und lebt und atmet Fußball, setzt sich mit Verstand und Herz mit seinem Lieblingsthema auseinander. Man wünschte ihm Profis, die ihm mit ebenso großer Leidenschaft, Einsatz und gutem Willen folgten. Andererseits, wer es nicht schafft, seine Schäflein hinter sich zu versammeln, der hat seinen Job verfehlt.“
FR: Der Verschmähte – Markus Babbel fühlt sich als Opfer der Rotation unter Trapattoni und will weg
Hamburger SV – 1. FC Köln 3:1
Zum Spiel ist nicht viel zu sagen – Jörg Marwedel (SZ): „Die Entgleisung eines Fans erspart den Kölnern eine neuerliche Trainerdiskussion. Normalerweise hätte nach dem Abpfiff das übliche Programm der vergangenen Wochen auf Andreas Rettig gewartet: Er hätte – zum hundertsten Mal – Fragen nach der Zukunft Uwe Rapolders zu beantworten gehabt. Er hätte die erneut schwache Leistung von Lukas Podolski kommentieren sollen. Und natürlich wäre Rettig gedrängt worden, sich zum Absturz des Aufsteigers zu äußern, der auf einem Abstiegsplatz angekommen ist. Rettig hat zu alledem kaum etwas sagen müssen. (…) Hinter all den unschönen Randerscheinungen blieb ein mittelprächtiges Fußballspiel übrig. “
Borussia Dortmund – Hannover 96 0:2
Vom Klischee abweichend
Richard Leipold (FAZ) begreift Peter Neururers Bescheidenheit: „Weil Neururer aus der Geschichte gelernt hat, will er nicht mehr ‚Peter der Große’ sein. Noch am Ort des jüngsten Triumphes relativierte er den schnellen Erfolg, den der flüchtige Betrachter dem Trainer zuschreibt. Der Aufschwung kam ein wenig glücklich zustande, erscheint aber auch als Ergebnis ernsthafter Arbeit; einer Arbeit, die vor Wochen und Monaten geleistet wurde. Taktisch klug erwähnt Neururer ausdrücklich seinen Vorgänger Ewald Lienen, der bei den Spielern trotz der Trennung geachtet ist. Lienen habe eine intakte Mannschaft hinterlassen. Abweichend vom Klischee tut Neururer so, als hätte er sich ins gemachte Nest gesetzt.“
Welt-Interview mit Neururer
Arminia Bielefeld – Schalke 04 0:1
Schwierige Verbindung von schönem und ergiebigem Fußball
Ulrich Hartmann (SZ) erwartet nicht, dass Ralf Rangnick in Schalke alt wird: „Mit solchen Zwischenständen ist das Schalker Management nicht zufrieden. Deshalb steht Rangnicks Zukunft 15 Monate nach seinem Antritt schon wieder auf der Kippe. Am Saisonende läuft sein Vertrag aus, und wenn man die Verantwortlichen so hört, deutet nicht viel darauf hin, dass sie den Vertrag mit ihm gern verlängern möchten. Das hat wirtschaftliche Gründe sowie ästhetisch ambitionierte: Der Verein hat viel Geld in den Kader investiert, aber das sehr gut besetzte Team tut sich schwer mit der Verbindung von schönem und ergiebigem Fußball. Schalke kauert minimalistisch im Schatten der bisweilen zirzensisch agierenden Konkurrenten München, Hamburg und Bremen und hält nur mit einiger Mühe Schritt.“
Borussia Mönchengladbach – 1. FC Nürnberg 0:1
Trennung von der Ich-AG
Andreas Morbach (taz) befürwortet die Entlassung Giovane Elbers: „Ein knappes Jahr lang haben sie ein stattliches Gehalt an einen Mann berappt, der ihnen sportlich nicht weitergeholfen und reichlich Ärger gemacht hat. Im Verein wollten sie das bis zuletzt nicht wahrhaben (…) Parallel zu entsprechenden beschäftigungspolitischen Plänen der neuen Bundesregierung haben sich die Gladbacher nun also von ihrer Ich-AG Giovane Elber getrennt.“ Markus Lotter (Welt) lacht über Elbers Seufzer, Fußballprofis seien „moderne Sklaven“, ausgestoßen, als Elber Bayern verlassen musste: „Wenn wir ihn richtig verstanden haben, ist er wie ein entrechteter Leibeigener damals verraten, verkauft, verschleppt und auf einer Galeere nach Lyon verschifft oder gar zur Flucht gezwungen worden wie am Ende des Krieges die Vertriebenen mit ihren Viehkarren durch die Kurische Nehrung. Auch in Stuttgart glauben viele Fans heute noch, daß Elber zu den Bayern einst gegen seinen Willen hat gehen müssen, denn zum Abschied hat er vor der Tribüne damals ganz wild sein Trikot gebusselt, dort, wo das Herz druntersteckt, so daß jeder dachte: Unser Giovane wird zum Gehen gezwungen, mit der Pistole auf der Brust. Mensch, Elber – ist es nicht eher das Geld, das einem als Opfer des Traumberufs Fußballstar auf die Brust gesetzt wird? (…) In der Nachspielzeit seiner Karriere hat sich da ein ehemals Großer nichts Gutes getan. Wie schrieben die blumigen Jungs von Bild, als sich zum Schluß hin selbst der unbekannte Amateur Bekim Kastrati als zeitweise stärker erwies: ‚Elber von Kastrati enteiert’. Das wäre das Letzte gewesen, was über George Best am Ende einer zu sagen gewagt hätte.“
FTD: eine Art Staatsbegräbnis für George Best
Bildstrecke, faz.net
NZZaS-Interview mit Elber
Christoph Biermann (SZ) kommentiert das neue, alte Nürnberger Libero-System: „Seine Mannschaft fühlte sich im Retro-Chic wohl, und es gelangen ihr mitunter sogar hübsche Momente im Spiel nach vorne. Aber ein Notsystem mit freiem Mann sorgt für stete Unterzahl im Mittelfeld oder Unterbesetzung im Angriff; erfolgreich durch die Saison kommt man damit kaum. (…) Bei den Borussen kommen wahrscheinlich so langsam nur Tabellenstand und sportliche Möglichkeiten in Deckung. Bislang hatten sie oft von einer Fülle glücklicher Momente profitiert, so dass die Mannschaft mit bislang 21 Punkten eher überbewertet war.“
Werder Bremen – MSV Duisburg 2:0
Frank Heike (FAZ) hält fest: „Werder ist längst so weit, daß Siege gegen Aufsteiger Pflichtsiege sind.“
Bildstrecke 15. Spieltag, sueddeutsche.de