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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

WM 2006

Groteske Überhöhung

Oliver Fritsch | Freitag, 9. Dezember 2005 Kommentare deaktiviert für Groteske Überhöhung

Sehr lesenswert! Die Telekom will den Berliner Fernsehturm zum Werbezweck als Fußball in einer Art rosa verkleiden. Holger Gertz (SZ/Seite 3) hält das für übertrieben und verstiegen – und vieles andere auch: „Der Fußball über Berlin kann als Symbol für die gewaltige Bedeutung durchgehen, die er in Deutschland hat; für die Hoffnungen, die er bündelt; für die Kraft, die von ihm ausgehen soll; für die ganze groteske Überhöhung eines Mannschaftsspiels auf Rasen. Der Konzern Beate Uhse hat neulich verkünden lassen, die WM werde die Nachfrage nach Schmuddelfilmen anstacheln, warum auch immer. So flächendeckend, wie der Fußball während einer WM übertragen wird – wer soll da noch Zeit haben für einen anständigen Porno? Der Fußball soll gut sein für die Arbeitsplätze, für die Konjunktur, das steht jedenfalls dauernd groß in den Zeitungen. Manchmal steht klein daneben, dass bei den vergangenen Weltmeisterschaften in Japan/Korea und Frankreich das Wirtschaftswachstum zwar mitten im WM-Jahr nach oben ausschlug – nachhaltig war die Wirkung nicht. (…) Franz Beckenbauer sieht ein bisschen fertig aus, vielleicht liegt es an der Reiserei, vielleicht am Druck, den er als Libero immer hat abschütteln können. Der Druck dieser Tage ist viel größer. Er hat ja die WM nach Deutschland geholt, heißt es: Aber das ist ein Märchen. Natürlich haben die Politiker mit Wirtschaftsdeals nachgeholfen, doch darüber sprechen sie nicht. Der Tag des Zuschlags war gefühlt der letzte, an dem dem verzagten Land irgendwas gelungen ist. Beckenbauer ist seitdem von den Boulevardblättern zu einem Übermenschen hochgeschrieben worden, dem alles glückt. Wenn ein Aufschwung käme, durch die WM, hieße das, er allein hätte ihn gebracht. Man könnte im Parlament den Bundesadler abschrauben und stattdessen eine seiner Autogrammkarten hinhängen. Allerdings, wenn die WM die Erwartungen nicht erfüllt, dann ist Franz Beckenbauer persönlich gescheitert.“

Welt: Vertreibt das WM-Fieber den anhaltenden Pessimismus der Deutschen? Experten und historische Erfahrungen besagen: Erst muß sich die Gesellschaft ändern, dann der Fußball – und nicht umgekehrt

Hochinteressanter Einblick in das DDR-Doping

Leipzig im Dilemma: Soll es seine Vergangenheit betonen, oder mit seiner Gegenwart werben? Die Gegenwart gibt nicht viel her, die Vergangenheit birgt Konfliktstoff. Sehr aufschlussreich! Reiner Burger (FAZ) beleuchtet die Geschichte um Dr. Jürgen Ulrich, der im Sommer 2005 die Leipziger Imagekampagne „Leipziger Freiheit“ wesentlich mittragen sollte. Inzwischen ist sie still und leise eingestellt worden; Ulrich sei, wie sich gezeigt habe, ein Protagonist des DDR-Dopings gewesen und damit „Teil eines unrühmlichen Kapitels Leipziger Medizin-Geschichte: Der Fall Ulrich bietet hochinteressante Einblicke sowohl in das Funktionieren des Stasi- als auch des DDR-Doping-Systems. Seine Bedeutung für die Sportmedizin der DDR wurde den Überwachungsbehörden erst durch seine Verhaftung wegen versuchter Republikflucht deutlich. Die Stasi achtete darauf, daß die Erkenntnisse in Sachen ‚unterstützender Mittel’ nicht gerichtsbekannt wurden – schließlich handelte es sich um ein Vorgehen, das auch in der DDR nicht vom Recht gedeckt war. Schritt für Schritt wurde das Haftopfer Ulrich unter diesen Bedingungen zum Begünstigten. (…) Zumindest der Internationale Leichtathletik-Verband setzte die lebensgefährlichen Anabolika schon 1970 auf die Verbotsliste. Diese Mittel waren also ausgerechnet in jener Sportart schon Jahre verboten, in der Ulrich wirkte. Der Fall des Leipziger Mediziners schrieb DDR-Rechtsgeschichte. Denn die Begünstigung Ulrichs durch die Stasi bewirkte eine Grundsatzentscheidung: Vertreter des DDR-Justizapparats, der SED und des Sports verabredeten eine faktische Freigabe des Dopings.“ Wie spricht die PR-Abteilung der Kampagne über den Verzicht auf Ulrich? Zögerlich, schweigend, „feige“, rügt Burger.

Dabei ist Leipzig darauf angewiesen, in die Vergangenheit zu schauen. Ein schmaler Grat, meint Stefan Osterhaus (NZZ): „Die populäre Darbietung scheint ein wenig deplaciert in der sächsischen Wirklichkeit. Leipzig war eine Schlüsselstadt des DDR-Sports (…) Die Bedeutung Leipzigs, immer ein wenig im Schatten der Landeshauptstadt Dresden, lässt sich leicht an Statistiken messen, an zahllosen Medaillen, die das Sportsystem der DDR sammelte. Es sind Erfolge, die nun konterkariert werden von einer Gegenwart, die ohne Profifussball im modernisierten Zentralstadion auskommen muss.“

FTD: Fußball regiert die Stadt
BLZ: Exklusive Nichtigkeiten – in Leipzig wird jede Lappalie zu einer großen Geschichte ausgeweitet
NZZ: WM-Auslosung – wird den einschlägigen deutschen Medien Glauben geschenkt, dann hat das Land schon lange nicht mehr solchen Grund zur Freude gehabt

Ehrfurcht

Robert Ide (Tsp) erklärt den Status Joseph Blatters: „Er ist, was er ist, weil er durchgehalten hat. Globusumspannende Intrigen hat er überstanden, Korruptionsvorwürfe der härtesten Art ausgesessen, Gegner aus den Gremien vertrieben. Er hat dabei zu Mitteln gegriffen, die mit Demokratie wenig zu tun haben. Wozu auch? Die Fifa ist eine private Organisation, finanziert von Fernsehsendern, Sponsoren und Ticketkäufern. Als Blatter 1998 als Fifa-Generalsekretär in den Wahlkampf ums Präsidentenamt zog, wollte er nicht allein auf seinen Charme und seine Internationalität bauen, auch wenn er sich das an Kennedy angelehnte Kürzel JSB verpasste. Viele Beobachter waren sich damals sicher, dass Europas Fußballchef Lennart Johansson die Wahl gewinnt, auch der DFB hoffte auf ihn. Doch in der Nacht vor der Wahl wechselten Umschläge den Besitzer, wie Zeugen berichteten. Am nächsten Morgen stimmten vor allem afrikanische Delegierte für Blatter – er hatte Afrika auch noch die WM 2006 versprochen. Seine Wiederwahl 2002 war ähnlich anrüchig. Kritikern entzog er dreist das Mikrofon. ‚Der ist zäh wie Leder’, sagen hohe Sportfunktionäre. In diesen Worten liegt Bewunderung, aber auch Ehrfurcht, die aus Furcht erwächst.“

BLZ: Fifa-Sprecher Markus Siegler steht bei der Zeremonie im Mittelpunkt – Grund ist interner Streit

Oranje Open

Guus Hiddink mit Australien, Leo Beenhakker mit Trinidad und Tobago, Dick Advocaat mit Südkorea, und sogar die Mannschaft ist qualifiziert – so viel Holland war nie, findet Christof Kneer (SZ): „Diesmal aber werden sie da sein, die Holländer, und es dürfte ihnen ein inneres Elfmeterschießen sein, dass im Nachbarland das große Schlottern ausgebrochen ist. Seitdem feststeht, dass die Holländer den Deutschen schon in der Vorrunde begegnen können, hat das Land nur noch eine Angst: Wird Deutschland abgeschafft, wenn es im Eröffnungsspiel auf Holland trifft und 0:4 verliert? In seiner Lostopfpanik hat Deutschland noch gar nicht mitbekommen, dass diese WM ohnehin so holländisch sein wird wie wohl noch keine vor ihr. So viel Holland ist noch nie zur WM gefahren, im Sommer steigen in Deutschland die Oranje Open. (…) Es ist die kleine Rache der Holländer, dass sie ausgerechnet die WM in Deutschland ein bisschen zu ihrer eigenen machen werden.“

Welt-Interview mit Gerhard Mayer-Vorfelder: „Wir müssen härtestmöglich reagieren“
FAZ: die Geschichte des Coup Jules Rimet
FR: Premiere muss während der WM 45 000 Sendeminuten füllen und tut das mit dem Ehepaar Effenberg und Boris Becker
FAZ: Tickets für Luxus-Logen verkaufen sich schlecht
FAZ: Die Fifa reguliert den Werbemarkt
taz-Interview mit Detlef Lange, Loskind bei der WM 1974

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