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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

WM 2006

Dünnes Nervenkostüm

Oliver Fritsch | Mittwoch, 11. Januar 2006 Kommentare deaktiviert für Dünnes Nervenkostüm

Neuer Streit: Das „Land der vielen Pannen“ – die Berliner Zeitung variiert den WM-Slogan, nachdem die Stiftung Warentest acht von zwölf WM-Stadien erhebliche oder deutliche Mängel bescheinigt hat. In den Mittelpunkt ihrer Kommentare ziehen die Autoren die beleidigten Reaktionen des Organisationskomitees, allen voran Franz Beckenbauers, der sich zu der Bemerkung herablässt, die Stiftung solle sich um „Gesichtscreme und Staubsauger“ kümmern. Michael Horeni (FAZ) empfiehlt ihm mehr Gelassenheit und verweist auf die deutsche Staatsform: „Die erste Reaktion des ersten Verantwortlichen im Fußball-Land war von nur schwer unterdrücktem kaiserlichen Zorn und majestätischem Unverständnis geprägt. Mit der bisherigen plumpen Strategie, unliebsame und unabhängige Kritiker als vaterlandslose Gesellen hinzustellen, die es wagen, am deutschen Fußball-Heiligtum zu kratzen, kommen die WM-Organisatoren indes nicht weit. Unfehlbarkeit und sportpolitische Immunität gehören, das scheinen die Organisatoren allmählich zu begreifen, noch nicht zur Grundausstattung ihres Amts. Die WM, auf die sich weiterhin Millionen Deutsche riesig freuen, findet nun mal in einem demokratischen Land mit unterschiedlichen Interessen statt. An den Auseinandersetzungen der vergangenen Monate zeigt sich, daß die naive Hoffnung, aus den Deutschen schon Monate vor der Eröffnung ein einzig Land aus schwarz-rotgoldenen Fähnchenschwenkern zu machen, nicht bis zum 9. Juni tragen wird. Es gibt trotz WM-Vorfreude noch keine Fußball- oder gar Staatsräson, die eine kritische Sicht auf die Arbeit der Organisatoren verböte.“

Die SZ ergänzt: „Mit dieser Tirade hat der zuletzt immer diplomatisch formulierende Präsident des OK einen Rückfall erlitten in alte Zeiten der tollwütigen Beckenbauer-Rhetorik, die keine Peinlichkeitsschranke kennt.“ Stefan Osterhaus (NZZ) fügt an: „Dünn scheint es geworden zu sein, das Nervenkostüm im deutschen WM-OK. Ein Schlagwort jenseits einer Laudatio genügt schon, ein kritischer Einwurf allein reicht aus, um eine massive Welle von Anschuldigungen und Polemiken zu provozieren.“ Matti Lieske (BLZ) stößt auf Beton: „Deutschen Stadionbauern geht es offenbar wie dem deutschen Fußball, der neue taktische Entwicklungen ja auch erst zehn Jahre später mitbekam. Sogar die Reaktionen ähneln sich. Entweder abstreiten, dass ein Defizit besteht, oder beleidigt sein und sagen: Diesen neumodischen Kram brauchen wir nicht, wir wissen selber am besten, was wir zu tun haben.“

Überzeichnet

Die Stiftung wird von vielen Redaktionen dafür kritisiert, dass sie zu laut und zu triumphal ihr Ergebnis vorgestellt hat. Philipp Selldorf (SZ) schreibt: „Es war schlechter Stil, dass die Stiftung vergangene Woche triumphierend erklärte, sie habe in den Stadien ‚beträchtliche Mängel’ mit womöglich ‚verheerenden Folgen’ entdeckt – Aufklärung über die Einzelheiten aber erst auf der Pressekonferenz in 14 Tagen versprach. Das wirkte, als habe die Marketingabteilung Regie geführt. Menschlich ist Beckenbauers Ausbruch im übrigen verständlich, sein Leben als oberster WM-Verantwortlicher befindet sich seit langem im Ausnahmezustand.“ Frank Hellmann (FR) fürchtet, dass das eigentliche Thema, die Sicherheit der Zuschauer, durch den Streit vergessen wird: „Die Stiftung Warentest hat mit der voreiligen Ankündigung ihrer Studie überzeichnet, mancher der ‚Mängel’ wirkte bei der Veröffentlichung arg übertrieben. Und dennoch verdient das Thema eine gewisse Sensibilität, dient doch die Historie als ausreichende Warnung und gibt Panikforschern wie Physikprofessoren das Recht, ihre Besorgnis um die Sicherheit der WM zu äußern: Weltweit beklagt der Fußball in den Stadien seit dem zweiten Weltkrieg mehr als 60 schwere Unfälle mit 1500 Toten. Viel zu viel für die schönste Nebensache der Welt.“

Schnell nachbessern

Robert Ide (Tsp) versachlicht die Diskussion: „Die Arenen werden kompakter, die Tribünen steiler, die Treppen enger – so soll der Rasen zur Theaterbühne werden. Für einen spektakulären Eindruck sind jedoch zu viele Sicherheitsstandards vernachlässigt worden. Natürlich ist es ein Fortschritt, dass die Zäune zum Spielfeld abmontiert wurden. In ihrer panischen Angst vor Flitzern, die auf den Platz laufen, haben die Planer aber neue Barrieren errichtet oder alte nicht entfernt. Nach dem internen Pflichtenheft der Fifa soll die erste Tribünenreihe so angehoben sein, dass eine Überwindung ‚unmöglich oder zumindest unwahrscheinlich’ ist. Das Dumme ist nur, dass Fans, wenn sie in Panik geraten – das kann in Zeiten der Terrorangst schon durch einen dummen Zufall oder ein böses Gerücht geschehen – die Tribünen hinunter auf den Rasen flüchten, nicht die Tribünen hinauf zu den Notausgängen. Die Grundsatzfrage lautet deshalb: Ist es wichtiger, das Spiel auf dem Rasen zu schützen als die Zuschauer auf den Rängen? Im Streit um einen WM-Einsatz der Bundeswehr haben Organisatoren und Ordnungskräfte die deutschen Stadien zu den sichersten Orten der Welt erklärt. Was die äußeren Kontrollen betrifft, ist diese Feststellung immer noch richtig. Was die innere Sicherheit der Arenen betrifft, sollten die Organisatoren neu nachdenken und schnell nachbessern anstatt Witze zu machen.“

Architekt und Stadionbauer Bernd Rauch (SZ) kritisiert die Deutlichkeit der Stiftung-Thesen: „Ich finde es, vornehm gesagt, bemerkenswert, dass sich eine Institution wie die Stiftung Warentest mit einer so komplexen Aufgabe befasst. Die Stiftung hat zweifellos große Verdienste bei der Beurteilung von Produkten – aber ich sagen Ihnen auch: Ich bin jetzt dreißig Jahre in diesem Geschäft, und ich weiß wirklich, wie schwierig es ist, Sicherheit in den Stadien zu organisieren. (…) Die Flucht auf das Spielfeld wird in manchen Stadien ganz bewusst nicht angestrebt. Fifa oder Uefa wollen diese so genannte Entfluchtung nach innen im übrigen gar nicht. Es gibt da längst andere Modelle. Verschiedene Stadien haben eben verschiedene Ansätze, man kann da nicht einfach hergehen und irgendein Kriterium überprüfen. (…) Wenn Mängel vorliegen, dann muss man sie ansprechen – aber doch bitte nicht so selbstdarstellerisch. Das wundert mich schon, denn das hat die Stiftung Warentest doch eigentlich gar nicht nötig.

Dossier, faz.net
BLZ/Hintergrund: Krähen auf dem Dach – die traurige Geschichte der deutschen Stadien
BLZ: Chronik der Mängel: Korruption, Insolvenz, bröckelnder Putz, wacklige Tribünen, undichte Dächer, Bauschäden, Sicherheitslücken

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