WM 2006
Getöse
Kommentare deaktiviert für Getöse
| Freitag, 20. Januar 2006Die deutschen Zeitungen, besonders die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Süddeutsche Zeitung, halten sich die Ohren zu, wenn sie hören müssen, wie das WM-OK und die Stiftung Warentest in der Öffentlichkeit über- und gegeneinander reden; schlagen die Hände überm Kopf zusammen, wenn sie erleben, mit welcher Sturheit die Fifa und das WM-OK einmal Gesagtes verteidigen, obwohl es sich als offensichtlich falsch erwiesen hat; können es nicht begreifen, wie „dünnhäutig und arrogant“ (FR) das WM-OK Kritik erwidert. Christof Kneer (SZ) empfiehlt eine Weiterbildung in Krisenkommunikation: „Die WM 2006 hat eine Menge Probleme in diesen Tagen, und längst ist auch ein rhetorisches hinzugekommen. Der Tonfall rund um dieses heilige Turnier hat inzwischen ein dermaßen Furcht erregendes Niveau erreicht, dass man das Thema Debatten-Kultur am liebsten ins WM-Kulturprogramm aufnehmen würde. (…) Man hätte vom OK schon erwarten dürfen, dass es sich konkret zu den einzelnen Vorwürfen einlässt statt sie pauschal abzubürsten. Zurecht mögen sich die Verantwortliche darüber beschweren, dass diese WM inzwischen heillos mit Erwartungen überfrachtet ist, aber natürlich sind sie es auch selbst gewesen, die dieses Klima mit ihrem Trend zum Superlativ befördert haben.“ Michael Reinsch (FAZ) mahnt: „Nicht eine mitreißende oder gefällige Argumentation verhindert Katastrophen, sondern Prävention und Rettungsmaßnahmen auf dem neuesten Stand. Diese in den Stadien der für Deutschland und sein Ansehen so wichtigen Weltmeisterschaft zu überprüfen und gegebenenfalls zu etablieren sollte für die Organisatoren Priorität haben. Wenn die Sicherheitskonzepte für die Weltmeisterschaft so ausgefeilt und überzeugend sind, wie die Organisatoren behauptet, müßten in den 140 Tagen bis zum Anpfiff auch letzte Zweifel und Risiken zu beseitigen sein. In dem Getöse mag untergegangen sein: Letztlich könnte es um Menschenleben gehen.“
Jürgen Ahäuser (FR) klagt die Verbissenheit der Streitenden an: „Wenn die Warentester nur ein Stück von ihrer hohen Anklagebank nach unten rücken und die Herren des OK ebenso weit aus der Schmollecke der Beleidigten hervorkommen, könnte es im Sommer 2006 doch noch was werden mit den Freunden in Deutschland.“ Marcus Rohwetter (Zeit) fügt hinzu: „Wenn Franz Beckenbauer und andere der Stiftung Warentest vorhalten, sie wolle sich über die Weltmeisterschaft profilieren, werden sie schnell feststellen, dass die Verbraucherschützer bei weitem nicht die einzigen Spieler auf diesem Feld sind. Ob sie nun Sponsoren heißen, Partner, nationale Förderer oder sich den Fußballtrubel in irgendeiner anderen Weise zunutze machen wollen: Die WM ist auch ein geschäftliches Ereignis, von dem viele profitieren möchten.“
Um den Standort Deutschland macht sich verdient, wer keine Fragen stellt
Wolfgang Hettfleisch (FR) stößt sich an der Gesinnung Beckenbauers samt Gefolge: „Schon möglich, dass die Stiftung bei verschiedenen Ergebnissen des Stadiontests falsch liegt. Wer ihr aber das Recht auf ein Urteil abspricht mit dem Hinweis, sie möge sich um Gesichtscreme kümmern, wähnt sich auf bedenkliche Art im alleinigen Besitz der Wahrheit. Es versteht sich, dass das Echo aus Wirtschaft und Politik nicht auf sich warten ließ. ‚Wir müssen darauf achten, was für ein Image durch derartige Studien entsteht und was das für das Vertrauen in deutsche Technologie für Folgen hat’, jammerte Siemens-Vorstand Josef Winter. Merke: Um den Standort Deutschland macht sich verdient, wer keine Fragen stellt. Teile der deutschen Medien haben das hinsichtlich der WM verinnerlicht. Bei zwei deutschen Tageszeitungen soll es gar einen Frohsinnsbefehl von oben geben.“
Die Absage trifft die Show selbst
Die Fifa hat die WM-Gala abgesagt und mit dem Rasen begründet; Thomas Kistner (SZ) lässt sich die Säcke nicht vollmachen: „Die Fifa hat den Rückzug derart hemdsärmelig vollzogen, dass die wahren Hintergründe evident werden. Denn die jäh erwachte Fürsorge um die Berliner Spielwiese nimmt ihr keiner ab: Die Problematik kennt man seit zwei Jahren. Tatsache ist, dass der Oberzeremonienmeister der WM, André Heller, nur 24 Stunden vor der Absage noch mit den Fifa-Bossen tafelte. Dass in der frohen Künstlerrunde nicht über Regenerationsfragen für Grashalme gefachsimpelt wurde, liegt auf der Hand. Vielmehr wollte Sepp Blatter endlich einmal Konkretes hören, direkt aus dem Munde des Meisters: Konzepte, ein paar Details, Zahlen womöglich. Was er hörte, muss derart unbefriedigend gewesen sein, dass die Superschau am nächsten Tag in panischer Eile vom Spielplan gestrichen wurde. Die ‚spannendste und aufsehenerregendste Show nach dem Krieg in Deutschland’, wie das Event einst vom Organisationskomitee umschrieben wurde, drohte aus Fifa-Sicht offenbar aus dem Ruder zu laufen. Es geht das Gerücht, dass es nicht bei den 25 Millionen Euro Kosten geblieben wäre, wenn all die von Großvisionär Heller angeheuerten Superstars angetreten wären. Der Zeiger im Geldtank hätte schon bei der 40-Millionen-Euro-Marke gependelt. Bestätigen will das niemand, offiziell beteuern alle Seiten, Geldfragen hätten keine Rolle gespielt. Was dann? Die Inhalte der Show etwa? (…) Warum weicht man nicht nach München aus, wo ohnehin das Eröffnungsspiel steigt und der Rasen nur darauf wartet, mal wieder richtig zertrampelt zu werden? Die Absage trifft die Show selbst. Heller und Pfennig spielen für die reiche Fifa in der Tat weniger eine Rolle, nur blamieren will sie sich nicht.“ Jürgen Kaube (FAZ/Feuilleton) kritisiert OK-Vizepräsident Wolfgang Niersbach und Fifa-Medienchef Markus Siegler dafür, dass sie stur an der Rasen-Version festhalten: „Die Organisation irrt nicht, und wer das Gegenteil behauptet, der mäkelt, ist typisch deutsch und also fehl am entscheidenden Platz. Jede normale Firma würde Leute, die so argumentieren, in den innersten Innendienst versetzen und beispielsweise zur Rasenpflege einsetzen.“
Der Ballast ist weg, jetzt kommt der Ballack
Die FAZ verweist in allen Ressorts auf die Reduzierung der WM, handelt es sich auch nur um einen Nebeneffekt; Michael Ashelm (FAS/Politik) schreibt: „Blatter wollte sich nie so recht anfreunden mit der arg politisch motivierten deutschen Glamourschau, auch wenn er die Idee öffentlich gerne als WM-Novum propagierte. Daß Heller die überbordende Technik nicht in den Griff bekam und zudem die Finanzierung aus dem Auge verlor, wie kolportiert wird, machte es Blatter sehr einfach, die Party abzusagen. (…) Das Nein der Fifa hat einen positiven Nebeneffekt für den Fußballfan: Das Rad der kommerziell und politisch bis ins letzte Detail ausgeschlachteten WM wird ein kleines Stück zurückgedreht. Die Aufmerksamkeit liegt wieder etwas mehr auf dem Sport und seinen Stars.“ Jörg Hahn (FAZ/Sport) ergänzt: „Worauf warten die Zuschauer? Hellers mit Menschen und Elektronik überladenes Spektakel war es offensichtlich nicht. Sie wollen Fußball sehen, nicht selbstverliebte Politiker und Impresarios. Fußball und (Hoch-)Kultur sind nach wie vor zwei Dinge, die man nicht zwanghaft vermischen kann. Ein Volkssport sollte am besten auch Volksfest bleiben. Schon vergessen? Wichtig ist auf dem Platz!“ Peter Körte (FAS/Feuilleton) teilt aus: „Was bitte ist so schlimm daran, daß die allgegenwärtige Nervensäge Heller nun eine Show weniger inszeniert? Sind es nicht immer noch zwei zuviel? Wer weint um greise Rocker wie Peter Gabriel oder Brian Eno? Wer braucht die petersilienstengelartige kulturelle Garnierung eines Fußballturniers, zu deren gesundheitsgefährdenden Nebenwirkungen die Kerner- oder Beckmann-Kommentare bei der Live-Übertragung gehören? Sicherheitsmängel sind dazu da, um behoben zu werden, und die Ticketsituation hat ja das lächerliche Kolonialfürstengehabe der Weltfußballfunktionäre von der Fifa verursacht, die jeden Ausrichter versklavt. Nachdem das alles geklärt ist, kann endlich Fußball gespielt werden. Der Ballast ist weg, jetzt kommt der Ballack.“
Christof Siemes (Zeit/Feuilleton) hält dagegen: „Und unsere schöne WM? Sie war mal das Wundermittel zur Heilung einer depressiven Nation. In den Sportteilen jubeln jetzt die Kollegen, des Fußball-Feuilletons längst überdrüssig: Maßgebend is auffem Platz! Als würde die Kunst rund um den Fußball ein einziges Tor verhindern. Im Gegenteil, sie erst setzt uns instand, die Schönheit eines perfekten Seitfallziehers vollendet zu genießen. Ohne ästhetische Überhöhung ist eine WM einfach nur ein Monat mit 64 Fußballspielen. Davon haben wir aber wirklich mehr als genug.“
FR: Hellers begrabene WM-Gala ist schon jetzt unsterblich in der Geschichte verhinderter Kunstprojekte
FAZ-Interview mit André Heller: „Am Inhalt der Show lag es garantiert nicht“
FTD-Interview mit Heller: „Das wird eine der teureren Beerdigungen der Kunstgeschichte“
SZ: Kampfbomber sollen die WM schützen